Originaltitel: Le quattro volte
Produktionsland: Italien 2010
Regie: Michelangelo Frammartino
Darsteller: Giuseppe Fuda, die Einwohner & Ziegen von Kalabrien
Die vier Male
[Herzstück dieser Episode, und des gesamten Films, ist eine knapp achtminütige Plansequenz, die ich schon bei der ersten Sichtung sofort zu einem der größten Kino-Momente des einundzwanzigsten Jahrhunderts erklärt habe. Zu sehen ist folgendes: die Kamera befindet sich, vermutlich an einem Fenster, links oberhalb des Ziegenfreigeheges, ein Platz, den sie im weiteren Verlauf des Films noch öfter einnehmen wird. Links im Bild stehen die Ziegen, in der Mitte verläuft die Dorfstraße den Hang hinauf, rechts tun einige der felsigen, urwüchsigen Dorfhäuser das Gleiche. Ein kleiner LKW mit stotterndem Motor fährt die Straße herauf, ihm entsteigen drei Männer, die in ihren Römertrachten aussehen, als seien sie Statisten eines Sandalenfilms. (Meine erste Intuition: in LE QUATTRO VOLTE sollen die Zeitebenen miteinander verwischen, sodass Gegenwart und Vergangenheit an diesem von der Zeit nahezu vergessenen Ort parallel zueinander existieren.) Die Männer verschwinden aus unserem Blickfeld, dafür kommen von dorther, wohin sie gegangen sind, zwei Frauen in ähnlich historischer Gewandung. Ein schwarzweißer, vorlaut bellender Hund, der schon die ganze Zeit durch die Szenerie wuselt, bellt eine von ihnen solange an bis sie dem Beispiel der anderen folgt und sich verschleiert. Dann kommt eine Gruppe Jugendlicher die Straße herab. Ihnen folgt Jesus, begleitet von den drei Römern, seinen Peinigern, und dahinter ein Großteil der Dorfbevölkerung. (Meine erste Intuition ist betrogen worden: wir wohnen einer Osterprozession bei wie sie sogar in den Dörfern meiner Großeltern vor einigen Jahrzehnten noch zum festen Inventar der Karwoche gehörten.) Gemeinsam mit der zeremoniellen Masse schwenkt die Kamera nach rechts, folgt ihr über die Dorfgrenzen hinweg, zu einem fernen Berg, dessen Strommaste aussehen wie zwei hoch aufgerichtete Kreuze. Unser Hund lässt indes wenig Ehrfurcht erkennen. Erst verfolgt er eine Nachzüglerin, bei der es sich offenbar um sein Opfer von kurz zuvor handelt, dann erlaubt er sich den Spaß, einen Keil, der den Römer-LKW fixieren soll, unter einem der Vorderreifen hervorzuziehen. Der Wagen rollt rückwärts, direkt auf den Ziegenzaun zu, die Kamera aber wendet sich erneut nach rechts, sodass wir von dem Zusammenstoß bloß das Meckern und Holzbersten zu hören und erst das Ergebnis zu sehen bekommen. (Ich möchte eigentlich gar nicht wissen, wie aufwendig es gewesen ist, diese schnittlosen acht Minuten zu realisieren. Allein die Dressur des Hundes, die Synchronisierung der Kamerabewegung mit der Bewegung der Menge, die Tatsache, dass ein einziges Straucheln, ein einziges schiefgehendes Detail die gesamte Sequenz ruiniert hätte – und dass Michelangelo Frammartino nur einen einzigen Versuch hatte, da der Ziegenzaun eben nur einmal brechen kann, wenn man ihn nicht nach jedem missglückten take neuaufbauen wollte -, lassen mich schon an Wunder glauben, ganz zu schweigen davon, dass diese acht Minuten im Grunde alles haben, was man von einem guten Film erwarten darf: sie sind visuell ergreifend, geben Rätsel auf, irritieren auf angenehme Weise, sind, nicht zuletzt dank des Hundedarstellers, zuweilen außerordentlich witzig und erzäh-len zugleich eine kleine, eigene Geschichte.]
Zweites Mal: Der alte Schafshirte wird beigesetzt. Die Kamera befindet sich in seinem Grab, als es zugemauert wird. Für einen Moment ist die Leinwand schwarz und stumm. Dann ertönt ein schrilles Schreien. Es wird von einem neugeborenen Zicklein ausgestoßen, dem wir dabei zusehen wie es seine Mutter aus ihrem Uterus presst. Voller Schleim und Blut, zuckend und zappelnd, liegt es auf dem Stallboden. Seine Mutter schaut in der Gegend herum, neigt die Schnauze, leckt ihm das Fall. Es versucht seine ersten Schritte, sein erstes Meckern. Wenn die Elterntiere auf die Weide geführt werden, bleibt es mit den übrigen Ziegenkindern im verwaisten Stall zurück. Man spielt miteinander, geht auf Erkundungstour, übt das Springen und das Kämpfen. Eines Tages darf unser Zicklein dann mit hinaus in die weite Welt. Die Herde wird durch einen Wald geführt, in dem es, wie in einem Märchen, vom Weg abkommt, den Kontakt zu den Erwachsenen verliert, sich schließlich verläuft und bei einbrechender Nacht unter einem großen Baum Zuflucht sucht. Einsam, verlassen sitzt es nun dort und ruft verzweifelt in die es umlagernden Schatten nach seiner Mutter bis der Schlaf es zudeckt. Erneut wird die Leinwand stumm und schwarz.
[Zuerst habe ich Schwierigkeiten, die einzelnen Ziegenkinder voneinander zu unterscheiden. Je länger die Episode allerdings dauert desto leichter fällt es, sie als Individuen wahrzunehmen. Ihre Hörner weisen Unterschiede auf, ihre Fellfarben, sogar ihr Gemecker. Da Menschen nunmehr überhaupt nicht stattfinden – sie sind ins Bild ragende Arme oder weit entfernte Gestalten im Hintergrund, beinahe wie Maschinen oder Götter, die es nicht anzubeten lohnt -, kann die Welt der Ziegen sich entfalten, als sei sie unabhängig von der unseren. Als würde unserer Welt ihre Unschuld zurückgegeben werden, verzaubert sie die Perspektive der Ziegen. Ein Stall ist auf einmal ein Abenteuerspielplatz. Eine leckende Mutterzunge ist auf einmal das Zärtlichste, das man sich vorstellen kann. Ein Wald wird zu einem bedrohlichen Schattenreich. Herzzerreißend ist das letzte Bild: unser Zicklein wartet zu Füßen des Baumes auf seinen sicheren Tod.]
Drittes Mal: Die Gezeiten wechseln. Schnee fällt. Ameisen laufen über Rinde. Es wird Frühling. Unser Baum ragt stolz zum blauen Himmel hinauf. Da nahen die Dörfler, bewehrt mit Werkzeugen, ihn zu fällen. Wo eben noch seine Spitze war, ist jetzt bloß noch das Firmament. Unter lautem Rufen tragen sie seinen Stamm ins Dorf. Er wird von sämtlichen Ästen und Zweigen befreit, nur oben, auf seiner Spitze, bleibt er grün. Man schleift sein Holz glatt, schmückt seine verbliebenen Äste. Ein Volksfest soll gefeiert werden, zu dem der gesamte Ort zusammenkommt. Erneut unter lautem Rufen und feierlicher Stimmung richtet man den Baum, der nun aussieht wie eine Art Mast mit Krone, auf dem Dorfplatz auf. Ein wagemutiger Mann klettert ihn hinauf. Von einem Balkon photographiert eine Frau das Spektakel mit ihrem Smartphone. Dann, als der Spaß vorbei ist, wird er ein zweites Mal gefällt, in kleine Stückchen zerhackt und abtransportiert.
[Es ist, als seien wir spätestens jetzt ganz nahe an den Dingen. Mit Menschen, dem alten Schafshirten zum Beispiel, verbinden wir immer eine Geschichte. Wir versuchen, ein Leben in eine Form zu bringen, ob nun bewusst oder nicht, die sich erzählen lässt. Mit Tieren, dem traurigen Zicklein zum Beispiel, können wir ebenso leicht eine Geschichte verbinden. Tiere sind uns nahe genug, um so gesehen zu werden, als seien sie wie wir selbst. Dieser Baum ist eine Abstraktionsebene weiter. Trotzdem bringt Frammartino uns so nahe an ihn heran wie möglich. In Großaufnahme sehen wir die Furchen seiner Rinde. In Großaufnahme sehen wir das Schwanken seiner Nadeln im Wind. Aus weiter Ferne, in surrealistischer Kombination, sehen wir wie er hinter den Dächern der Dorfhäuser aufzuragen beginnt, immer höher wird, als würde er in Sekundenschnelle wachsen, und mit ähnlichem und doch ganz anderem Stolz den Himmel penetriert wie zuvor.]
Viertes Mal: Der örtliche Köhler baut mit den Resten unseres Baumes einen Kohleofen. Der Platz ist umzäunt, befindet sich irgendwo außerhalb des Dorfes. Wortlos gehen Männer Arbeiten nach, die sich seit Jahrhunderten nicht geändert haben und sich noch erfolgreich dem technologischen Fortschritt versperren. Man pfercht die Baumteile, ähnlich wie in ein Grab, unter einen Hügel aus weiteren Baumstämmen. Nur oben bleibt eine Öffnung. Beständig tritt Rauch aus ihr aus, der in endlosen Fäden und Schlieren über den Tannen des nahen Walds schwimmt. Überall dampft es. Schaufeln graben Massen um, die kein Holz mehr und noch keine Kohle sind. Nach der langen Prozedur liegen die Kohlestückchen wie tiefschwarze Knochen vor der Kamera. Der Köhler fährt zurück ins Dorf, vorbei an dem ehemaligen Ziegengehege, wo jetzt ungestört das Gras wächst. Er liefert seine Ware ab. Ein Schornstein beginnt langsam zu rauchen.
[In Interviews hat Michelangelo Frammartino mehrmals auf Pythagoras verwiesen. Der lehrte in Kalabrien nicht nur Mathematik, sondern entwickelte auch die Idee einer Weltharmonie, in der alles mit allem und jedes mit jedem vernetzt ist. Eine Seele wechselt höchstens die Gestalt, nie die Essenz. Ein Körper kann vergehen, ein anderer wird bereitwillig aufnehmen, was dieser abgestoßen hat. So ist in LE QUATTRO VOLTE ebenfalls alles mit allem und jeder mit jedem vernetzt. Ein Schafshirt stirbt, wird als Zicklein wiedergeboren. Ein Zicklein stirbt, sein wesender Körper wird von einem Baum aufgesogen. Ein Baum stirbt, wird als Holzkohle verwertet, steigt als Rauch zum Himmel auf. Der Mensch ist darin lediglich Mittler, nie Akteur, ein weiteres Netz im großen Maschengeflecht des Lebens. Frammartino kommt ohne Dialoge aus, verlässt sich auf Bilder und Sounds. Glöckchenklingeln, Ziegengeschrei, Windrauschen, Insektenkonzerte, Motorenstottern. Die unfassbare Landschaft Süditaliens: Berge, Wälder, Dörfer, die allesamt so aussehen, als ob sie zum ersten Mal von einem Menschen angeschaut werden würden. Diese poetische Meditation über all die Dinge, die wir inzwischen zu übersehen gewöhnt sind, sollte nun wirklich jeder sehen, der noch daran glaubt, dass heute noch etwas zugleich witzig, rührend und wirklich spirituell erhebend sein kann.]