Im Jahre 2016 ließ WDR-Redakteur Heiko Schäfer in zwei abendfüllenden Dokumentarfilmen die 1970er- und 1980er-Dekade Revue passieren. „Die verrückten 70er – Das wilde Jahrzehnt der Deutschen“ und
„Die verrückten 80er – Das Lieblingsjahrzehnt der Deutschen“ wurden vermutlich parallel zueinander produziert, erst im Jahre 2021 reichte der WDR „Die verrückten 60er – Das spektakulärste Jahrzehnt der Deutschen“ nach.
Das Konzept entspricht exakt dem der von mir bereits besprochenen ‘80er-Doku, sprich: Weitestgehend chronologisch werden Ereignisse und Phänomene aus den Bereichen Politik, Gesellschaft, Populärkultur, Sport, Wirtschaft und Kriminalität jenes Jahrzehnts aufgegriffen und in aller Kürze abgehandelt. Globales trifft auf Lokales; die Perspektive ist eine bundesdeutsche, die von Susanne Hampl während der zahlreichen Einspielfilmchen voller Originalaufnahmen aus den 1970ern mit mal humoristischem, mal ernsterem, aber stets pointiertem Zungenschlag aus dem
Off eingeordnet und kommentiert werden. Unterstützung erhält sie dabei von prominenten Zeitzeuginnen und -zeugen, nämlich Politiker Norbert Blüm, den Moderator(inn)en Christine Westermann, Bettina Böttinger und Hugo Egon Balder sowie den Schauspielerinnen und -spielern Anouschka Renzi, Uwe Ochsenknecht, Hannes Jaenicke und Ann-Kathrin Kramer.
Folgende Themen werden angerissen:
- Trimm-dich-Aktion
- Erstes deutsch-deutsches Gipfeltreffen
- Beatles-Auflösung
- Anti-Vietnamkrieg-Demos
- Rote Armee Fraktion
- Minirock
- Tode Jimi Hendrix‘, Jannis Joplins und Jim Morrisons
- Willy Brandts Kniefall
- TV-Skandal bei „Wünsch dir was“
- (vermeintliches) Aussterben des Büstenhalters
- Bonanza-Räder
- Discos
- „Die Sendung mit der Maus“
- Klick-Klack-Spiel
- Abtreibungen und Paragraphenreform
- Friedensnobelpreis für Willy Brandt
- Hotpants
- Hippies
- Kiffen
- Taschenrechner
- Misstrauensvotum gegen Willy Brandt
- Pril-Blume
- Olympiade in München: Gold für Ulrike Meiforth / Terroranschlag und Polizeiversagen
- Bundestagsneuwahlen 1972
- Rosa von Praunheims Film „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“
- „Ein Herz und eine Seele“
- Waffenstillstand in Vietnam / Friedensnobelpreise
- Softpornos und Sexualreportfilme
- Trikotwerbung
- Otto Waalkes
- Angriff auf von Israel besetzte Gebiete / Ölpreiskrise / autofreie Sonntage
- Kompaktanlagen
- Hüpfbälle
- Schlaghosen und Plateauschuhe
- Uri Geller
- Playmobil
- Abba
- Günter-Guillaume-Skandal / Brandt-Rücktritt
- Bankster von Herstatt / Kleinsparerbetrug
- Herren-Fußball-WM 1974: BRD-Niederlage gegen die BRD und doch noch Titelgewinn
- Watergate-Affäre / Nixon-Rücktritt
- Polaroid
- Volljährigkeit ab 18
- Opel Manta
- Alice Schwarzer
- Talkshow-Eskapaden
- Waldwanderungen
- Britische Brexit-Bestrebungen / Abstimmung Pro-EG
- Wurli, der Wunderwurm
- Yps-Hefte
- Boney M. und Disco-Musik mit Sex-Appeal
- Herren-Fußball-EM 1976: Hoeneß verschießt
- Namensrechtsreform für Eheleute
- Schloss Wuppertal muss wegen Zerstörung moderner Kunst Schadenersatz zahlen
- Bundestagswahl 1976
- Anti-AKW-bewegung / Verbrecher Stoltenberg
- Wolf Biermanns Ausbürgerung aus der DDR
- Nina Hagen
- Emma-Postille
- Punk
- Neues Ehe- und Scheidungsrecht 1977
- Bhagwan-Sekte (Renzi outet sich als ehemalige Anhängerin)
- Telespiele im TV
- Deutscher Herbst
- „Saturday Night Fever“
- Letzter VW-Käfer läuft vom Band
- Erster deutscher im All: Sigmund Jähn
- Neuer Papst Johannes Paul I., tot nach 33 Tagen, mutmaßlich von der Mafia ermordet
- Dann JP2
- Gewöhnungsbedürftige Farben, Muster, Möbel und Brillen
- Iranische Revolution
- Mordanschlag auf Rudi Duttschke, zurückgekämpft ins Leben, im Dezember 1979 dann doch verstorben
Damit wird eine rekordverdächtige Anzahl an Themen zumindest angeschnitten – Kompliment an den Schnitt! Dass dabei jeglicher Anflug von Tiefgang auf der Strecke bleibt, ist die Kehrseite der Medaille. Das Zusammenspiel aus Themenwahl, Einspielfilmen,
Off-Kommentar und Promi-Stimmen funktioniert dafür aber unterhaltsam, kurzweilig und nicht unsympathisch. Der grundsätzlich boulevardeske ‘70er-Rundumschlag ist weniger an nostalgischer Verklärung als vielmehr an einem Gesamtüberblick interessiert, was unangenehme Themen miteinschließt. Die Brücken von in der Retrospektive witzigen Ereignissen/Phänomenen oder erfreulichen Entwicklungen immer wieder zu Verbrechen bis hin zu Mord und Totschlag zu schlagen, ist ein Balance-Akt, der weitestgehend gelingt, aber (naturgemäß) immer dann einen schalen Nachgeschmack hinterlässt, wenn etwas ungesühnt oder nie mehr gutzumachen blieb. In diesem Zusammenhang empfinde ich es als ärgerlich, dass im Abschnitt über den
Deutschen Herbst die Wahrheit über Hanns Martin Schleyers Nazi-Vergangenheit als SS-Führer unerwähnt bleibt. Zugutehalten muss ich Schäfer und seinem Team, dass der Fokus auf die deutsche Politik vermutlich ungleich stärker ausgefallen ist, als dies bei einem Privatsender der Fall gewesen wäre. Und wenn der WDR in seinem Begleittext resümiert:
„Außenpolitisch ein Jahrzehnt des aufeinander Zugehens, innenpolitisch Jahre des Umbruchs und der Emanzipation, aber auch der Angst vor einer zu großen Macht des Staates“, dann trifft er damit tatsächlich das, was dieser Film vermittelt und wohl der Realität entsprach.
Großartig hingegen sind die oft kuriosen alten TV-Ausschnitte, womit jedoch auch eine etwas starke Gewichtung zugunsten rein medialer Ereignisse einhergeht. Gefreut habe ich persönlich mich darüber, dass – im Gegensatz zur eingangs erwähnten ‘80er-Doku desselben Teams – das Thema Fußball stattfindet; Ausschlag hierfür dürfte der errungene WM-Titel der deutschen Mannschaft gewesen sein. Fast schon müßig zu erwähnen, dass die ‘70er hier von 1970 bis 1979 reichen und nicht wie die Dekade von 1971 bis 1980 – das hat sich leider medienübergreifend eingebürgert.
Wer wissen will, was die Bundesdeutschen in diesem Zeitraum bewegte, bekommt hier einen kurzweilig präsentierten Überblick aus der Vogelperspektive, ist aber unbedingt aufgerufen, für wirklich fundierte Informationen andere Quellen heranzuziehen. Dazu inspirieren kann dieser Film indes allemal.