Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Originaltitel: Perseo l'invincibile

Produktionsland: Italien 1963

Regie: Alberto de Martino

Darsteller: Richard Harrison, Anna Ranalli, Arturo Dominici, Leo Anchóriz, Elisa Cegani
Die Zeiten stehen schlecht für das Königreich von Seriphos. Nach einer Überwerfung mit dem Nachbarreich Argor hat dessen bitterböser Regent Akrisios mit einer wenig verschleierten Erpressung geantwortet. Da Argor direkt am Meer liegt, Seriphos indes im Landesinneren, hat es weitreichende Konsequenzen, wenn Akrisios, wie er es zu Beginn vorliegenden Films tut, den Seriphosiden kurzerhand verbietet, sein Hoheitsgebiet zu betreten. Vor allem der Handel und dadurch die Sättigung der Untertanen leidet durch Akrisios‘ Kriegserklärung, da es keinem seriphosischen Händler von einem Tag auf den andern möglich ist, problemlos zur Küste zu gelangen. Nur einen einzigen Weg gibt es, das Meer zu erreichen, auch ohne das Königreich Argor auch nur mit einer Zehenspitze zu berühren, doch der führt wiederum in die vergiftete und verpestete Sphäre der berüchtigten Medusa – sofern man nicht bereits von dem in einem auf dem Weg liegenden See hausenden Drachen verschlungen worden ist. Trotz der Gefahren entschließt sich der Sohn des Königs von Seriphos, als die Not der Bürger immer dringlicher wird, mit einem Trupp von Soldaten loszuziehen, um sowohl Medusa als auch Drache zu erlegen, und ihrem Volk somit das Tor zur See zu öffnen. Doch das gestaltet sich schwieriger als der Prinz in seinem jugendlichen Übermut wohl gedacht haben mag: nicht nur, dass der umsichtige Akrisios seinen Stiefsohn Galenore, ebenfalls ausgestattet mit einem kleinen Kriegertrüppchen, dem Prinzen auf die Fersen geschickt hat, zugleich stellen sich die beiden Monstren als äußerst ernstzunehmende Gegner heraus. In einen Hinterhalt gelockt, gelingt es dem Prinz und zwei tapferen Gefährten zwar in letzter Sekunde, dem gefräßigen Lindwurmmaul und den heimtückischen Flammenpfeilen Galenores zu entkommen, vor dem Medusenblick knicken schließlich aber auch die kühnsten Kämpfer ein und werden zu Stein.

Die nächste Machenschaft Akrisios‘: da es sich nunmehr als unmöglich erwiesen hat, ohne die Hilfe von Argor ans Meer zu kommen, wird dem König von Seriphos das Angebot unterbreitet, seine Tochter Andromeda möge Galenore ehelichen, auf dass die beiden Reiche in Zukunft umso enger und herzlicher zusammenwachsen können. Andromeda ist es, die zwar nicht begeistert, aber doch relativ widerspruchslos auf den Vorschlag eingeht, und ihren Vater dazu überredet, Galenore doch einmal an den Hof kommen zu lassen, auf dass sie ihn inspizieren könne. Dass sie indes einen anderen liebt, ist natürlich eine traurige Sache, doch geht es Andromeda um das Wohl ihres Volkes, weshalb sie ihrer heimlichen Liebe, einem armen Fischer namens Perseus, einen letzten Besuch abstattet, um von nun an für immer Abschied von ihm zu nehmen. Perseus ist die Einfalt in Person, kennt seine Eltern nicht, und hat als besten Freund ein zuckersüßes Rehkitz, das leider kurze Zeit später einen graphischen und leider nicht gestellten Pfeiltod vor laufender Kamera sterben muss. Der Todespfeil stammt aus dem Köcher Galenores, der mit seiner Zukünftigen einen Spazierritt durch das Königreich Seriphos unternommen hat. Als Perseus, außer sich über den Tod seines liebsten Freundes, ihn zum Duell stellt, zieht er den Kürzeren und wird von Galenores Peitsche bis in einen See getrieben. Letzterer hätte ihn wohl sogar getötet, wäre ihm da nicht Andromeda in den Arm gefallen, um ihm einen Deal vorzuschlagen: beide Männer, Perseus und Galenore, sollen einen Zweikampf ausfechten, der Gewinner, verspreche sie hiermit hoch und heilig, solle sodann ihr Gatte werden. Galenore kann da nur lachen und schlägt siegessicher ein, während Perseus verdutzt und allein in seiner Fischerhütte bleibt und sich auf das Turnier vorbereitet. Wer wird da siegen? Werden Perseus und Andromeda einander kriegen? Werden Galenore und Argor ihre gerechte Strafe ereilen? Und was passiert eigentlich, wenn die Medusa ein Herz aus Stein anblickt?

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PERSEO L’INVINCIBLE dürfte die allererste Leinwandadaption des bekannten griechischen Medusa-Mythos überhaupt sein. Wobei jedoch jedem, der sich mit antiker Mythologie auch nur ein bisschen auskennt, schon in meiner recht ausführlichen Inhaltsangabe knapp der ersten halben Stunde des Films aufgefallen sein dürfte, dass man mit der überlieferten Geschichte dann doch recht frei umgesprungen ist. Zunächst ist es bezeichnend, dass, übrigens ziemlich ähnlich zu Wolfgang Petersens ILIAS-Verfilmung TROJ von 2004, sämtliche Hinweise auf das Schalten und Walten von Göttern ersatzlos gestrichen worden sind. In der Welt, die PERSEO L’INVINCIBLE beschreibt, gibt es zwar diverse Ungeheuer – namentlich den Wasserdrachen und das Gorgonenhaupt -, die werden aber eher wie etwas aus dem Kraut geschossene Naturphänomene behandelt; manche Echsen können fliegen, andere können ihre Farbe wechseln, und wiederum andere sind eben groß wie ein Kleinwagen, hausen in einem entlegenen Tümpel und schnellen aus ihm heraus, sobald sich seinen Ufern nur irgendwas genähert hat, das entfernt nach Nahrung ausschaut. Allein der Umstand, dass es sich bei Perseus ja eigentlich um einen der vielen Halbgötter handelt, die entstanden sind, weil ihr ständig spitzer Vater Zeus kaum eine Gelegenheit ausließ, irgendwelchen schönen Sterblichen in den verschiedensten Verkleidungen nachzustellen – Perseus Mutter Danae beispielweise hat er völlig verrückt als Goldregen bestäubt -, fällt in vorliegendem Film unerreichbar weit unter den Tisch. Gerade die antiken Mythen leben allerdings von dieser Verzahnung zwischen irdischer Welt und Götterolymp, weil das eine sich ständig im andern spiegelt, und man manchmal gar das Gefühl bekommt, das Leben hier unten wäre mit dem Chaos aus Eifersucht, Intrigen, Attentaten im Götterhimmel verglichen ein ausgemachtes Paradies. PERSEO L’INVINCLE kennt nur letztere Welt, und wenn in dem Film doch mal etwas in Richtung Schicksal und Vorherbestimmung anklingt, dann so vage, dass es alles und nichts bedeuten kann.

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Des Weiteren hat man jedoch nicht nur die Perseus-Geschichte in einem einfachen Schritt von allem Göttlichen gereinigt – das wäre dann die Praktik von Petersens TROJ -, die übrige Story wurde ebenfalls ganz kräftig durch gleich mehrere Mangeln gedreht. Im Prinzip wirkt das Drehbuch von PERSEO L’INVINCIBLE für jemanden, der mit dem originalen Mythos vertraut ist, als sei es von Leuten verfasst worden, die die Geschichte irgendwann vor Jahren mal irgendwo gelesen oder erzählt bekommen haben, und sich nun krampfhaft daran zu erinnern versuchen, wie sie denn noch mal genau abgelaufen ist. Manches stimmt einigermaßen mit dem Mythos überein, vor allem Namen: Sephiros, Akrisios, Argor, Andromeda, das alles kann man in jeder guten Mythologie-Enzyklopädie suchen und finden. Dennoch haben die Verantwortlichen solche vertrauten Namen nicht selten in ganz neue Kontexte versetzt. Andromeda zum Beispiel ist in vorliegendem Film die Jugendfreundin Perseus. Fast wie Geschwister scheinen die beiden aufgewachsen, ohne dass Perseus jemals realisiert hat, mit einer echten Prinzessin im Kontakt zu stehen. Im Originalmythos trifft Perseus Andromeda erst, nachdem er der Medusa den Kopf von den Schultern geschlagen hat. Sie ist an einen Felsen gekettet und soll dem Meeresdrachen Ketos zum Opfer dienen, da ihre Mutter Kassiopeia den Meergott Poseidon mit der Behauptung verärgert hat, sie sei schöner als dessen Nymphen-Begleiterinnen, die Nereiden. An Perseus liegt es nun, Ketos zu töten, Andromeda zu befreien und sich in sie zu verlieben. In diesem Stil könnte man im Grunde den ganzen Inhalt von PERSEO L’INVINCIBLE auseinandernehmen. Alles echot etwas, das man aus dem Mythos kennt, und ist dennoch komplett gegen den Strich gebürstet. Vor allem irritiert hat mich, dass einige wichtige Plotpunkte eher mit Dingen zu tun zu haben scheinen, die man kulturell aus der europäisch-christlichen Tradition kennt – darunter der Drachenkampf und nicht zuletzt die ständigen Turniere, die wie Gottesprüfungen daherkommen: der, der gewinnt, muss im Recht sein, da Gott ihn nicht hätte gewinnen lassen, wäre er nicht im Recht gewesen.

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In seinen Spielszenen ist PERSEO L’INVINCIBLE steif, streng und seriös, zu keinem Zeitpunkt nennenswert trashig, albern oder auch nur unfreiwillig komisch. Es müssen die ganz großen Gesten sein, mit der die oftmals überforderten Schauspieler – vor allem die Darstellerin der Andromeda, Anna Ranalli, fällt negativ auf, wenn sie selbst in Szenen, die von ihrer Rolle höchste Emotionalität fordern, den immer gleichen, zu Stein erstarrten Gesichtsausdruck zur Schau trägt, so, als sei sie bereits vor Drehbeginn in gefährliche Nähe zur Medusa geraten – die bei klarem Verstand betrachtet trotz ihrer Erneuerungen wenig innovative und kreative Geschichte ausstaffieren. Wie abgefilmtes Theater wirkt der Film über weite Strecken, ein Theater, das irgendeine Form von Monumentalität dadurch zu erreichen sucht, dass man in bierernstem Pathos schwelgt, als gelte es, den Coppa Mussolini zu erstreiten. Was viele Sandalenfime der 60er heute immer noch zumindest zeitlos wirken lässt, ist ihre vorpubertäre, unbekümmerte Haltung der Welt gegenüber: überall lauern Abenteuer, und wenn man zu den Guten gehört, meistert man sie alle mit lächelnden Muskeln. Genau das fehlt PERSEO L’INVINCIBLE nahezu komplett. Der Film ist vorzeitig gealtert, ein Greis, trotz der Muskeln und den agilen Kampfbewegungen.

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Was den Film jedoch fast schon wieder rettet, das sind die von dem großen Carlo Rambaldi kreierten beiden Monstren. Ist PERSEO L’INVINCIBLE, was die von Menschen dominierten Szenen betrifft, eine äußerst verkrampfte Angelegenheit, so blüht er in den Kämpfen zwischen Mann und Monster richtig auf und bereitet Spaß ohne peinlich zu sein. Für heutige Augen ist es freilich offensichtlich wie die beiden Biester funktionieren, das schränkt, meine ich, den hohen Unterhaltungsfaktor indes kaum merklich ein, den es bereitet, zum Beispiel zuzusehen wie sich der Wasserdrache offenkundig auf Schienen aus seinem See schält und mit weit aufgerissenem Maul schnaubend und weit austeilendem Schwanz um sich schlagend, nach zu Kindern werdenden Kriegern schnappt. Schon der Drache konnte mich richtig begeistern: ein bisschen sieht er aus wie einer dieser Geisterbahnwächter, d.h. die Figuren, die bei einer Geisterbahn vorm Eingang stehen, um einem genug Angst einzujagen, dass man gerne bereit ist, den völlig überteuerten Eintritt zu bezahlen. Noch heftiger ist jedoch die Medusa umgesetzt, bei deren Ausgestaltung Rambaldi sich mit dem Rücken zur gesamten europäischen Kunstgeschichte gestellt hat. In einer Szenerie, die mir fast schon das Höllenreich zu antizipieren scheint, in dem Fulcis L’ALDILÁ endet, wirkt die Medusa wie eine irgendwo zwischen Pflanze und Qualle oszillierende Lebensform, die nicht aus Rationalität handelt, sondern ganz ihren Instinkten folgt. Hat man ihren Einflussbereich betreten, erwacht sie aus ihrem Ruheschlaf, schlägt ihr einziges leuchtendes Auge auf, und beginnt, sich auf Spinnenbeinen langsam ihrer Beute zu nähern, während von ihrem Kopf Schlangen wie Dreadlocks hängen. Hat sie ihre Opfer – in der schlicht großartigen Eröffnungsszene von PERSEO L’INVICIBLE sind es beispielweise drei Krieger Sephiros` - erreicht, führt sie anmutige Stoßbewegungen mit ihrem Kopf aus, den sie mehrmals vor- und zurückschnellen lässt. Offenbar findet in diesen Momenten so etwas wie eine Hypnose statt, obwohl nämlich die drei Armen genau wissen, dass sie alles tun dürfen, nur der Medusa nicht in ihr Flammenauge zu blicken, machen sie genau das, so, als sei ihnen der Wille gebrochen worden. Was folgt, ist die Versteinerung: schon eine beachtliche Anzahl Statuen steht im Reich der Medusa herum, für die diese jedoch keine weitere Verwendung zu haben scheint, denn nach jedem erfolgreichen Beutezug kehrt sie in Schlaf und Höhle zurück, und wartet darauf bis sich die nächsten Seelen in ihre Wirkungsstätte verirrt haben.

PERSEO L’INVINCIBLE ist ein Schwert mit zwei Schneiden. Die eine riecht nach dem Mief eines Theaters, das heute höchstens noch als Karikatur funktioniert, die andere riecht nach übersprudelnder Phantasie und echter Kreativität. Mein Kompromiss wäre: sich den Film beschaffen und dann nur die insgesamt drei Auftritte der beiden liebenswerten Monstren anschauen und die ermüdende, gekünstelte und gespreizte Rahmenhandlung geflissentlich zu ignorieren.
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Originaltitel: Giulio Cesare contro i pirati

Produktionsland: Italien 1962

Regie: Sergio Grieco

Darsteller: Gustavo Rojo, Gordon Mitchell, Abbe Lane, Aldo Cecconi, Franca Parisi
Was für ein Skandal, dass das Kino bis zum Jahr 1962 auf das Zusammentreffen dieser beiden kongenialen Kontrahenten hat warten müssen! Vergesst Godzilla gegen King Kong, vergesst Zombies gegen Kannibalen, vergesst vor allen Dingen Aliens versus Predatoren, denn in vorliegendem Werk steht sich niemand Geringeres im Ring gegenüber als Gaius Julius Caesar und die Piraten! Kann Sergio Griecos Schilderung eines Jugendabenteuers des späteren römischen Alleinherrschers das vollmundige Versprechen eines Zweikampfs der Giganten, das in seinem Titel steckt, inhaltlich halten? Dieser Frage möchte ich im Folgenden nachgehen.

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Abb.1: Man beachte den Posten des Sound Editors

Da zu Beginn von GIULIO CESARE CONTRO I PIRATI von Seeräubern noch keine Spur zu sehen ist, muss sich Caesar, zu diesem Zeitpunkt zwar schon Spross einer einflussreichen römischen Adelsfamilie, jedoch noch weit von einer politischen Karriere, die diesen Namen verdienen würde, entfernt, zunächst einmal mit einem anderen Gegner herumschlagen. Es handelt sich um Lucius Cornelius Sulla Felix (138 – 78 v. Chr.), kurz Sulla genannt, seines Zeichens seit 82 vor Christus berühmt-berüchtigter Diktator des Römischen Reichs, unter dessen Primat ein, da sind die historischen Quellen sich weitgehend einig, grausiges Gewaltsystem an der Tagesordnung gewesen sein soll. Als Angehörigem der, grob gesagt, eher konservativ gesinnten sogenannten Optimatenpartei handelt es sich bei diesem Sulla politisch um einen direkten Widerpart zum sozialen Umfeld des jungen Caesar, dessen Familie den sogenannten Popularen angehört, die sich, wie ihr Name schon sagt, eher demokratische Bestrebungen auf die Fahnen geschrieben haben. Während nun also Sulla im Jahre 75 vor Christus hauptsächlich damit beschäftigt ist, die demokratischen Tendenzen der Republik außer Kraft zu setzen, und hierfür eine Großkampagne startet, in deren Zuge die ihm gefährlichsten Oppositionellen entweder ermordet oder zumindest ins Gefängnis gesteckt werden sollen, entwischt Caesar, auf dessen Kopf man es ebenfalls abgesehen hat, in einer Nacht-und-Nebel-Aktion mit einem guten Freund und seinem tollpatschigen Diener zur Küste. Um erstmal aus der Schusslinie des Despoten zu sein, entwickelt man den Plan, eine Reise anzutreten, die so lange dauern soll bis die politischen Wogen Roms sich einigermaßen geglättet haben. Caesar besteigt ein Schiff, das ihn an den Hofe von Nikomedes, dem König der kleinasiatischen Provinz Bithynien, bringt, wo man tüchtige Orgien feiert und unser Held zudem Gelegenheit hat, sich in eine geheimnisvolle Schöne namens Plauzia zu vergucken – und das, obwohl zu Hause in der Hauptstadt eigentlich seine Ehefrau um sein Leben bangt. Caesar, ganz Kavalier, unterbreitet seiner Angebeteten, die es auf die Insel Rhodos zieht, das Angebot, sie dorthin zu begleiten – und sieht sich, kaum hat man die Fahrt angetreten, einer Bande Piraten gegenüber, die das Schiff im Sturm entern und die Mannschaft als Geiseln in ihren Schlupfwinkeln verschleppen. Als Hamar, Oberhaupt der Seeräubertruppe, erfährt, dass Caesars Familie reich und adlig ist, schielt er auf ein sattes Lösegeld und lässt nach Rom zwecks Geldforderung schicken. Da die Kommunikationswege in Zeiten vor Christi Geburt noch erheblich sind, hat Caesar in der Zwischenzeit genügend Gelegenheit, sich immer weiter in seine Plauzia zu verlieben, viele Stunden mit Müßiggang totzuschlagen und immer mal wieder mit Hamar aneinanderzugeraten.

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Abb.2: Unser Held: der spätere Imperator auf dem Massagetisch

In ihrem Kern kann man die Handlung von GIULIO CESARE CONTRO I PIRATI nicht auf die blühende Phantasie eines Sandalenfilm-Drehbuchautors zurückführen, tatsächlich liegt ihr mehr oder minder authentisches Quellenmaterial zugrunde, namentlich eine Anekdote, die gleich drei lateinische Schriftsteller der Nachwelt überliefert haben. Sowohl Velleius Paterculus, Sueton und am unterhaltsamten wohl Plutarch berichten von einer Studienreise, die der junge Caesar, um den Verfolgungen durch Sulla aus dem Weg zu gehen, Richtung Rhodos unternommen haben soll. Dort kam er indes nie an, da ihn unterwegs kikilische Piraten aufgabelten und zu ihrer Geisel erklärten. Als Gefangener jedoch, da sind die Chronisten sich einig, hat Caesar ein relativ sorgenfreies Leben inmitten der Seeräuber führen können. Sogar genügend Humor ist dem jungen Mann geblieben, die ursprünglich veranschlagte Lösegeldforderung eigenhändig in die Höhe zu treiben, mit der Begründung, seine Person sei wesentlich mehr wert als das, was man zunächst für seine Freilassung gefordert hatte. Ebenfalls in jeder der genannten Quellen findet man die blutige Rache, die Caesar letztlich an seinen Entführern verübt hat. Kaum dass er nämlich freigelassen worden ist und die Piratentaschen mit Gold gefüllt worden sind, setzt er seinen Kidnappern nach, lässt einen Großteil von ihnen ergreifen und sie, wie er es ihnen versprochen hat, erbarmungslos hinrichten. Eine nette Geschichte, meine ich, die heutzutage zwar niemanden mehr von den Beinen holt, unter Althistorikern aber sicher immer noch für ein kurzes Schmunzeln sorgt. Die Frage, die sich mir nach Sichtung von GIULIO CESARE CONTRO I PIRATI allerdings stellt, ist: reicht eine solche verstaubte Anekdote tatsächlich aus, einen Film mit einer Laufzeit von weit über eineinhalb Stunden zu tragen?

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Abb.3: Gordon Mitchell, der Frauenwürger von Kleinasien

Die Antwort, die ich gebe, wird wenig überraschen. Einmal mehr frage ich mich ernsthaft, für wen und mit welchem Endziel ein Werk wie das vorliegende überhaupt produziert worden ist. Obwohl der Film, wie gesagt, viel historisch Richtiges und vielleicht für den einen oder anderen sogar Interessantes zusammenträgt, bleibt er für jemanden, der wirklich tiefschürfende Einblicke in das politische und gesellschaftliche Klima der Spätzeit der Römischen Republik gewinnen möchte, viel zu sehr an Oberflächlichkeiten kleben. Für den dem Genre-Kino zugeneigten Zuschauer dürfte er demgegenüber wiederum viel zu wenig von dem bieten, was man sich von einem ordentlichen peplum normalerweise erhoffen darf. Weder nennenswerte Spannung kommt auf noch ist die im Übrigen dann doch frei erfundene Liebesgeschichte zwischen Caesar und Plauzia zu irgendeinem Zeitpunkt besonders ergreifend, und irgendwelche knuffigen Ungeheuer wie Seeschlangen, Zyklopen oder Riesenechsen schauen natürlich sowieso nicht vorbei. Stattdessen gefällt sich der Film zum Großteil darin, den Leerlauf zu bebildern, dem Caesar sich in seinem unfreiwilligen Exil gegenübersieht. Man spaziert am Strand entlang, man führt Wortgefechte mit Hamar, man wäscht zwischendurch seine Siebensachen im Ozean. Ich glaube, nicht einmal um eine Stunde gekürzt und neugeschnitten, hätte aus GIULIO CESARE CONTRO I PIRATI etwas werden können, das irgendwen an den Kino- oder Fernsehsessel fesselt.

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Abb.4: In den Folterkellern der kilikischen Piraten

Immerhin stechen aus den endlosen Dialogszenen, die immer mal wieder zwischen Rom, wo die neusten politischen Umbrüche verhandelt werden, und dem Piratennest, in dem, wie gesagt, außer Warten nichts wirklich Berichtenswertes passiert, ein, zwei Merkwürdigkeiten hervor, denen ich mich kurz widmen möchte. Zum einen bekommen wir, als Caesar am Hofe des Nikomedes weilt, eine kleine Orgie zu Gesicht, die freilich, immerhin befinden wir uns im Jahre circa 18 vor D’Amato und Brass, züchtig wie ein Kindergeburtstag abläuft, sprich: keine entblößte Brust, keine Saufgelage, keine Ringkämpfe bis aufs Blut, lediglich ein halbseidener Vergewaltigungsversuch, der im Keim erstickt wird. Hauptattraktion des Festes waren für mich aber sowieso nicht die dekorativ herumsitzenden Damen oder die geile Blicke um sich werfenden Herren, und schon gar nicht die befremdliche Tanzeinlage, die mich ein bisschen an modernes Ballett im Stil von Stravinsky erinnert hat, sondern ein Äffchen, das auf dem Tisch direkt vor dem König an allerlei Köstlichkeiten nascht, mit neugierigen Augen die Szenerie mustert und einmal kurz ausrasten, d.h. herumspringen und herumtoben darf. Ein weiteres putziges Detail findet sich viel später, als Caesar schon eine Weile unter den Piraten haust, und ihm die permanenten Macho-Allüren Hamars endlich einmal den nicht vorhandenen Hemdkragen platzen lassen. Hamar, von Gordon Mitchell kongenial als frauenschlagender, pöbelnder und sich selbstbeweihräuchernder Widerling verkörpert, setzt einem seiner eigenen Untergebenen, der schwer verwundet von einem Scharmützel zurückkehrt, noch zusätzlich zu, was Caesar, von Gustavo Rojo ungemein farblos, bieder und sonntäglich verkörpert, aus humanistischen Gesichtspunkten nicht lange mitansehen kann. Sein Intervenieren besteht aus zwei Schlägen mit beiden Handkanten, einmal gegen Hamars Halsschlagader, sodann gegen seinen Brustkorb, worauf der Hüne sofort zu Boden geht. Sobald er nun erstmal auf dem Rücken liegt, ergreift Caesar sein rechtes Bein, um ein bisschen ziellos an ihm herumzuziehen. Ich habe keine Ahnung, ob Caesar vorhatte, es ihm auszurenken oder ihn damit quer über das Schiffsdeck zu schleifen, auf dem diese Szene spielt, extrem bizarr sieht es allemal aus, zumal Hamars Schmerzensschreie davon künden, dass die ziemlich harmlos ausschauende Aktion ihre Wirkung offenbar nicht verfehlt.

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Abb.5: Nahezu ethongraphisches Material: Fremdartige Riten des Seevolkes

Ansonsten hat in GIULIO CESARE CONTRO I PIRATI kaum etwas weder freiwillig noch unfreiwillig meine Mundwinkel in großartige Bewegung versetzt. Höchstens große Augen mache ich noch immer darüber, wie man sich im italienischen Kino der frühen 60er kikilische Seeräuber vorgestellt hat. Viel trennt Hamars Mannschaft nämlich rein optisch und von ihrem ganzen Verhalten her nicht von den Kannibalen, mit denen Mario Girolami knapp zwanzig Jahre in ZOMBI HOLOCAUST Filmgeschichte schreiben wird. Es sind Statisten, deren Köpfe unter leicht erkennbaren Schwarzperücken begraben liegen, und die einige äußerst seltsame Bräuche und Rituale ihr Eigen nennen. Beispielweise gibt es da eine Szene, in der der Film beinahe schon dokumentarisch die Freizeitgestaltung der Piraten illustriert. Die Männer sitzen vor Trommeln, denen sie die monotonsten Rhythmen entlocken, die ich seit langem gehört habe, während ein Haufen Frauen sich dazu in Ausdrucktanz übt. Außerdem haben die wie halbe Wilde wirkenden Piraten ausnahmslos die gleichen Hobbies wie ihr Anführer. Frauen werden prinzipiell gehascht und vernascht, und wenn man keinen Feind hat, an dem man seine überschüssigen Kräfte abreagieren kann, wird man die eben im hauseigenen fiesen Folterkeller los. Fragt mich nicht, wer hier welches falsche Kraut geraucht hat, aber allein ein oberflächlicher Blick in die Geschichtsbücher macht deutlich, dass die kikilischen Piraten zumindest auf dem Zenit ihrer Machtentfaltung alles andere waren als eine Bande zerlumpter Leuteschinder, sondern vielmehr eine gutorganisierte Seemacht, die mehrere hundert Städte befehligte und in einem solchen Luxus lebte, dass man sich selbst Späße wie Schiffssegel aus Gold hat leisten können.

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Abb.6: Links im Bild der wahre Höhepunkt des Films: ein Äffchen!

Nein, ich bin und bleibe maßlos enttäuscht. Ein Caesar, der, anders als es der Filmtitel einem weismachen möchte, mit Piraten mehr verbal streitet als wirklich mit ihnen kämpft, möchte das wirklich ernsthaft jemand sehen? Falls nein, ist GIULIO CESARE CONTRO I PIRATI zumindest für zwei Personengruppen von gesteigertem Interesse. Erstens: diejenigen, die von Mittelmeerküstenlandschaften selbst nach dem letzten Ägäis-Urlaub noch immer nicht genug bekommen können, und zweitens: diejenigen, denen die Vorstellung behagt, neunzig Minuten lang nahezu ununterbrochen nackte, muskulöse Machomännerkörper bestaunen zu dürfen, auf denen die südliche Sonne brutzelt. Alle anderen sollten den Film dann vielleicht doch besser im Regal stehen lassen. Eine, natürlich rhetorische, Frage zum Schluss: hat Komponist Carlo Innocenzi seinen Score, dessen epischer Bombast sich, meiner Meinung nach, ständig an der Grenze zur Selbstparodie bewegt, ursprünglich wirklich für diese Schlaftablette verfasst?!
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Originaltitel: Salambò

Produktionsland: Italien/Frankreich 1960

Regie: Sergio Grieco

Darsteller: Jeanne Valérie, Jacques Sernas, Edmund Purdom, Arnoldo Foà, Riccardo Garrone
„Salambo auf die Leinwand zu bringen, verbietet sich wohl aus finanziellen Gründen; das Drehbuch aber hätte man jedenfalls fertig vor sich liegen; die Einstellungen der Kamera brauchten nur den Bildern zu folgen, auf die der Blick dieser wild dahinströmenden und doch geordneten Phantasie sich gerichtet hat“, schreibt der Literaturkritiker und Maler Jean de la Varende in seiner sich heute etwas antiquiert zu lesenden Flaubert-Monographie von 1951. Sein Tod im Sommer 1959 verhindert, dass er die italienisch-französische Co-Produktion SALAMBÓ, die im Frühjahr 1960 in die französischen Kinos kommt, hat sehen und seine These, Flauberts Roman von 1852 sei im Prinzip unverfilmbar, an ihr hat überprüfen können. Doch ich bin gerne bereit, ihm diese Aufgabe abzunehmen…

Zunächst aber der Reihe nach: SALAMMBÔ, wie der Text im Original heißt (aus mir noch immer unerfindlichen Gründen schreibt sich der Eigenname in der deutschen Übersetzung SALAMBO, während die Filmversion wiederum SALAMBÓ lautet), ist der zweite Roman des 1821 geborenen und 1880 gestorbenen französischen Schriftstellers Gustave Flaubert, der uns ein vergleichsweise überschaubares Werk hinterlassen hat, dieses aber eine derartige Qualität aufweist, dass er zu Recht noch immer als einer der wichtigsten Wegbereiter der modernen Literatur im neunzehnten Jahrhundert gilt. Vor allem sein Romandebut, MADAME BOVARY von 1857, erfreut sich nach wie vor uneingeschränkter Bewunderung sowohl bei der Leserschaft als auch bei Literaturwissenschaftlern. Die im Grunde völlig banale Geschichte einer jungen, lesewütigen Dame, die einen mittelmäßigen Arzt heiratet, und an dessen Seite in der Öde des Provinznestes, wo er seine Praxis unterhält, so lange vor Langeweile fast umkommt bis sie sich einen Liebhaber anlacht, was natürlich zur unausweichlichen Katastrophe führt, erzählt Flaubert aus einer weit distanzierten Perspektive voller bitterer Ironie und zynischer Gesellschaftssatire, allerdings ebenso mit einer einerseits nüchternen, schonungslosen, beinahe klinischen Sprache, die jedoch genauso oft jäh in reine Poesie umschlägt. Damit nimmt Flauberts Roman innerhalb des literarischen Realismus seines Jahrhunderts eine Sonderstellung ein. Seine Figuren sind nicht, wie noch eine Generation früher bei Balzac, Ausnahmeerscheinungen mit hohem Identifikationspotential, und schon gar nicht, wie in der Trivialliteratur aller Zeiten, Helden, zu denen man aufschauen sollte, sondern ganz normale Menschen mit ihren Vorzügen und Schwächen, vor allem eben letzterem. Seine Geschichte soll nicht, wie eine Generation später bei Zola, dazu dienen, die Leser zu belehren, sie auf Fehler in Welt und Gesellschaft hinzuweisen, und dazu befähigen, die (sozialen) Missstände durch die Kenntnis von ihnen bessern zu können, sie trägt vielmehr gar keinen Zweck in sich selbst, wirkt, als habe sie eine weitgehend emotionslose Kamera einfach zufällig irgendwo aufgeschnappt und dann an uns weitergegeben – wohlgemerkt ohne eine Bedingung an diese Gabe zu knüpfen. Wenig verwundert dabei, dass MADAME BOVARY seinerzeit einen kleinen Skandal hervorrief, seinen Autor in Konflikt mit der Staatsgewalt und schließlich vor Gericht brachte – selbst wenn Flauberts Prozess schließlich mit Freispruch endete. Zu liederlich schien seinen Zeitgenossen wohl die Ehebruchthematik voller pikanter Details gewesen zu sein, zu wenig moralisch erbauend das gesamte Romankonstrukt, zu distanziert und brutal die Beobachtungsgabe, mit der der Schriftsteller seine wehrlosen Protagonisten wie Insekten mit Nadeln aus Worten an einer Pinnwand befestigt.

SALAMMBÔ, fünf Jahre später erschienen, schlägt, könnte man zunächst meinen, in eine gänzlich andere Kerbe. Nicht mehr der bürgerliche Alltag des gemeinen Frankreichs liegt auf Flauberts literarischem Seziertisch, sondern das Karthago kurz nach Ende des Ersten Punischen Kriegs. Nicht mehr das Kleine, Unbedeutende, Ordinäre interessiert den Autor, sondern das Große, Epochemachende, Monumentale. Auch die Sprache hat sich gewandelt. Flaubert ertrinkt nahezu in den Bildern, die er heraufbeschwört, um eine Welt irgendwo zwischen klassischer Antike, Orientalismus und Märchenphantasie heraufzubeschwören. Gerade der Umstand, dass Karthago nach dem Dritten Punischen Krieg von Rom dem Erdboden gleichgemacht worden ist, sodass die meisten Zeugnisse, die wir von der einstigen Mittelmeerseemacht besitzen, aus zweiter oder dritter Hand stammen, bietet Flaubert eine Folie, auf der er seine Besessenheit ausagieren kann. Er reist in den Orient, durchforstet ganze Bibliotheken an Quellenmaterial und Sekundärliteratur, baut sich ein eigenes Karthago zusammen aus unermüdlicher Recherche, Spekulationen und überschäumender Imagination. Dieses Suchen und Finden eines Ortes, den es wirklich einmal gegeben hat, über den man aber an Fakten vergleichsweise wenig weiß, sodass er leicht zum Spielplatz von historisch nicht verbürgten Ideen und Bildern werden kann, unterscheidet SALAMMBÔ letztlich vom übliche Historischen Roman. Erneut interessiert Flaubert das, was sonst kaum jemanden interessiert. Selbst wenn nun Feldherren, Hohepriester und Senatoren im Mittelpunkt seines Romans stehen, ändert das nichts daran, dass er sie mit dem gleichen mitleidlosen Realismus behandelt wie seine Landärzte, unbefriedigten Gattinnen und Apotheker. Keine Figur in SALAMMBÔ kann beanspruchen, als Held bezeichnet zu werden. Wieder sind es gewöhnliche Charaktere, unterworfen ihren irrationalen Leidenschaften, und Opfer der sozialen Umstände, in denen sie zu handeln gezwungen werden.

Um einen ungefähren Eindruck von der symbolistischen Sprachornamentik SALAMMBÔs zu gewinnen, reicht es schon, einen Blick in das erste Kapitel namens „Das Gelage“ zu werfen – und zwar in der Übertragung Arthur Schurigs von 1912 -, wo über mehrere Seiten hinweg die Völlerei- und Trunkenheitsexzesse einer Gruppe von Karthago angeheuerter, multinationaler Söldner geschildert werden, die, obwohl sie Rom nicht besiegt haben, nunmehr auf ihren wohlverdienten Sold warten: „Auf roten Tonschüsseln mit schwarzen Verzierungen trug man zuerst Vögel in grüner Sauce auf, dann allerlei Muscheln, wie man sie an den punischen Küsten aufliest, Suppen aus Weizen, Bohnen und Gerste, und Schnecken, in Kümmel gekocht, auf Platten von Bernstein. Dann wurden die Tische mit Fleischgerichten beladen: Antilopen noch mit ihren Hörnern, Pfauen in ihrem Gefieder, ganze Hammel, in süßem Wein gedünstet, Kamel- und Büffelkeulen, Igel in Fischsauce, gebackene Heuschrecken und eingemachte Siebenschläfer. In Mulden aus Tamrapanniholz schwammen safranbedeckt große Speckstücke. Alles war reichlich gewürzt mit Salz, Trüffeln und Asant. Früchte rollten über Honigscheiben. Auch hatte man nicht vergessen, ein paar von den kleinen, dickbäuchigen Hunden mit rosigem Seidenfell aufzutragen, die mit Oliventrebern gemästet waren, ein karthagisches Gericht, das die andern Völker verabscheuten. Die Verwunderung über neue Gerichte erregte die Lust, davon zu essen. Die Gallier, mit ihrem langen auf dem Scheitel geknoteten Haar, rissen sich um die Wassermelonen und Limonen, die sie mit der Schale verzehrten. Neger, die noch nie Langusten gesehen, zerstachen sich das Gesicht an ihren roten Stacheln. Die glattrasierten Griechen, weißer als Marmor, warfen die Abfälle ihrer Mahlzeit hinter sich, während bruttinische Hirten, in Wolfsfelle gehüllt, das ganze Gesicht in ihre Schüsseln tauchten und ihr Essen schweigsam verschlangen. Es ward Nacht. Man entfernte das Zeltdach über der großen Zypressenallee und brachte Fackeln. Der flackernde Schein des Steinöls, das in Porphyrschalen brannte, erschreckte die dem Mond geweihten Affen in den Wipfeln der Zedern. Sie kreischten laut, den Söldnern zur Belustigung.“

Diese Passage steht, meine ich, symptomatisch für einen Roman, dessen reine Handlung immer wieder unter der opulenten Last der Worte zusammenzubrechen droht. Flaubert liebt es, sich in Details zu verlieren, sie sprachlich aufzublasen bis sie gar keine Details mehr sind. Worum geht es, was die Story betrifft, auf den hunderten Seiten eigentlich? Im Prinzip kann man SALAMMBÔ wie folgt zusammenfassen: Vor den Toren Karthago warten die oben bereits geschilderten Söldner darauf, von den Stadtherren den Lohn ihrer Mühen zu empfangen. Die aber denken gar nicht daran, halten die Truppen hin, versuchen sie zu entzweien. Natürlich kommt es zum Aufstand, bei dem sich Matho, einer der Söldner, besonders hervortut. Dieser ist, nachdem er sie ein einziges Mal in der Öffentlichkeit gesehen hat, bis zur Besinnungslosigkeit in Salammbô, die Tochter des karthagischen Feldherrn Hamilkar Barkas, verknallt. Eines Nachts dringt er in den Palast Karthagos ein, um dort einen mythischen Schleier zu entwenden. Der Plan funktioniert reibungslos, sogar die schlafende Salammbô kann er überraschen. Zurückgekehrt zu seinen Waffengefährten wird er als Held gefeiert, während die Karthager den Raub ihres Heiligtums als schlimmes Omen deuten. Matho indes hat noch nicht genug: er will Salammbô besitzen, ihr Reich zerstören. Demgegenüber schmieden die die göttergeweihte Jungfrau umgebenden Priester eigene Ränke. So soll Salammbô Matho in dessen Feldlager besuchen, ihm den Schleier entwenden, ihn hinterrücks erdolchen. Aus Pflichtbewusstsein ihres Volkes und ihrer Götter gegenüber tritt das junge Mädchen vor die Stadttore…

Von der angedeuteten Liebesgeschichte zwischen Matho und Salammbô sollte man sich nicht täuschen lassen. Es mag zwar sein, dass gerade dieses Element in dem sonst eher männlich dominierten, panzerklirrenden, exotisch-entrückten Roman für den einen oder anderen etwas deplatziert wirken mag, doch eine romantische Turtelei ist mit Sicherheit das Letzte, was Flaubert darstellen wollte. Wenn überhaupt, ist das Verhältnis zwischen Matho und Salammbô im höchsten Maße ambivalent, hin und her gerissen zwischen Hass, Verachtung, Raserei und einer diffusen erotischen Anziehungskraft, die aber mehr mit Gewalt als mit Zärtlichkeit zu tun hat. Überhaupt dürfte SALAMMBÔ einer der brutalsten Romane seiner Zeit gewesen sein. Nicht nur in den Schlachtszenen, die Flaubert in aller Detailverliebtheit schildert, fallen Menschen und Elefanten reihenweise. Sklaven werden ausgepeitscht und hingerichtet, kleine Kinder dem karthagischen Gott Moloch als Schlachtopfer dargebracht, das letzte Kapitel mit seiner blutrünstigen Märtyrergeschichte ohne Martyrium gehört für mich zu dem kleinen Kreis von literarischen Erzeugnissen, die ich aufgrund der dargestellten Grausamkeit kaum zu lesen imstande bin. Flaubert zu unterstellen, er zeige eine besonders perverse Lust daran, solche Szenarien auszumalen, trifft den Kern der Sache jedoch ebenso wenig. Weder mildert er die Brutalitäten des Krieges noch ergötzt er sich an ihnen – was es, meiner Meinung nach, nur noch unerträglicher macht: mit der Geflissenheit eines Chronisten scheint er einzig aufzuzeichnen, was sich vor seinem inneren Auge abspielt, ohne Kommentar, ohne Wertung, ohne irgendein Mittel, es konsumierbarer zu machen. Dies wäre dann, noch mehr als die von de la Varende angeführten Budgetgründe, eines meiner Hauptargumente für eine Unverfilmbarkeit des Stoffes. SALAMMBÔ ist schlicht zu schonungslos, zu ehrlich, zu grausam, als dass irgendein gewinnorientierter Produzent sich des Romans annehmen wollen würde. Trotzdem existiert aber eine Adaption aus den frühen 60ern. Sollte ich von der bislang nur deshalb noch nichts gehört haben, weil ihre subversive Kraft sie in die Giftschränke der Filmgeschichte verwiesen hat?

Nein, ich werde den Elefanten anders aufzäumen. Es gibt wohl zwei große Hauptkategorien des (italienischen) Sandalenfilms – zum einen naiv-unschuldige Unterhaltungsprodukte für alle, die wenigstens neunzig Minuten lang wieder ihre Kinderschuhe anziehen möchten wie beispielweise Mario Bavas wundersamer ERCOLE AL CENTRO DELLA TERRA von 1961, zum andern stocksteife Kostümschinken für alle, die es nicht ins Traditionstheater geschafft haben, und deshalb aufs nächstgelegene Lichtspielhaus ausgewichen sind, wie Sergio Griecos für heutige Augen eher belangloser GIULIO CESARE CONTRO I PIRATI von 1962. Freilich sind zwischen diesen Extremen Mischformen möglich. Eine der interessantesten Hybriden aus überbordender Phantasie und staubtrockenen Dialogszenen in staubtrockenen Bühnenkulissen ist wohl Alberto de Martinos PERSEUS, L’INVINCIBLE von 1962, bei dem die von Carlo Rambaldi betreuten Monstereskapaden das Kind in jedem zum Tanzen bringen, der es noch nicht für immer zu Stubenarrest verurteilt hat, der ganze Rest einen sich aber fühlen lässt, als sei man mindestens hundert Jahre in der Kunstgeschichte zurückkatapultiert worden, und säße in einer besonders biederen Aufführung irgendeines antiken Theaterklassikers, inhaliere Staub und Kiesel. SALAMMBÔ in dieses Schema einzuordnen, fällt nicht schwer. In einem Satz: Dieser Film ist derart steif, dass es mich wundert, wie man überhaupt die Kamera zum Sich-Bewegen gebracht hat.

Es gibt insgesamt drei Hauptvorwürfe, die ich den Verantwortlichen bei ihrem Versuch machen muss, Flauberts wundervolle Worte auf Zelluloid zu übersetzen. Der erste lautet: man hat den Text auf seinem Weg zwischen zwei Buchdeckeln hervor auf die große Leinwand seiner gesamten Schönheit beraubt. Wie mein Auszug aus dem allerersten Kapitel, die Schilderung des orgiastischen Söldnergelages, bewiesen hat, ist Flauberts SALAMMBÔ ein Roman, der ständig kurz davor steht, unter der Last seiner exotischen, glänzenden, die Phantasie fast schon übersteigenden (Sprach-)Bilder zusammenzubrechen. Man muss ihn sich wie ein Gemälde vorstellen, das so voller Details ist, die einen allesamt affizieren, dass man die meiste Zeit gar nicht weiß, wo man hinschauen sollen. Sergio Griechos Leinwandfassung nunmehr gleicht einer Wüste. Die Studiokulissen, tausendmal in ähnlichen Sandalenfilmen gesehen, locken keine Jungkatze hinterm Ofen vor, das Setdesign ist dürftig und im besten Falle routiniert, die Anstrengungen, die auf ästhetischer Seite unternommen werden, um Flauberts Vision in ihnen wenigstens ansatzweise gerecht werdende Bilder zu gießen, tendieren gegen Null. SALAMMBÔ schaut aus, und fühlt sich an, wie ein x-beliebiger Historienstreifen der frühen 60er, ohne Alleinstellungsmerkmal, ohne künstlerische Ambitionen, ohne nennenswerte Ambitionen überhaupt, außer dem Grundanliegen, seine Geschichte kohärent und nachvollziehbar herunterzubeten. Dass man ein knapp sechshundertseitiges Romanepos fürs Kino zurechtstutzt, ganze Figuren und ganze Handlungsstränge wegschneidet, sich auf den sogenannten roten Faden fokussiert, der die einzelnen Ereignisse miteinander verbindet, ist mir vollauf verständlich. Dass man aber einen Roman sozusagen vollkommen dessen entkleidet, was ihm seinen Platz in der Literaturgeschichte sichert, ist nicht nur ein starkes Stück, sondern lässt mich vor allem nach dem Sinn fragen, den das Unterfangen, Flauberts Text zu visualisieren, dann überhaupt noch haben soll. In der vorliegenden Fassung ist SALAMBÔ eine Geschichte wie jede andere. Hätte man die üblichen italienischen peplum-Drehbuchautoren an die Aufgabe gesetzt, eine thematisch zumindest ähnlich gelagerte Geschichte zu erfinden, mit Liebe und Krieg im antiken Karthago, wäre, kann ich mir nur zu gut vorstellen, sicherlich nicht etwas viel Schlechteres als vorliegender Film herausgekommen. Schon für sich alleingenommen, ohne das Wissen um Flauberts Vorlage, wäre SALAMMBÔ ein reichlich langweiliger Film ohne Reize für Augen, Hirn und Herz, mit diesem Wissen aber mutiert er zu einem Ärgernis, das sich für jemanden, der den Roman so feiert wie ich es tue, ähnlich anfühlt wie eine Maulschelle.

Mein zweiter Vorwurf wäre: so dicht Griecos Film zwar an der reinen Handlung des Buchs klebt – aber was ist, wie gesagt, schon eine reine Handlung, wenn die Hauptaussagen eines Textes ästhetischer Natur sind? -, so sehr kann er es an entsprechenden Stellen dann doch nicht lassen, diese zu trivialisieren. Das beginnt damit, dass die Liebe zwischen Marco und Salammbô - bei Flaubert, wie gesagt, eine höchst ambigue Sache, die nichts weniger als die Bezeichnung romantisch verdient - unnötig zum Kitsch hochstilisiert wird. Schmachtende Blicke, gesäuselte Worte und ein Hauch Erotik sind die Zutaten, mit denen Grieco beispielweise die im Roman höchstdramatische Mordversuchsszene in Mathos Zelt anreichert, und ihren Sinn somit völlig verfälscht. Auch ist die Versuchung scheinbar zu groß gewesen, genretypische Versatzstücke in den Film zu mischen, vor denen Flaubert, der gerade keinen typischen Historischen Roman hatte schreiben wollen, zurückgeschreckt wäre. In der literarischen Vorlage ist Mathos Schleierraub eine tour de force durch wilde Bildwelten, voller kastrierter Priester, klammernder Affen und überschäumenden Leidenschaften. Grieco setzt dem etwas entgegen, das jedem, der schon mehr als einen Muskelheroenfilm mit Maciste, Herkules, Ursus und wie sie alle heißen mögen, gesehen hat, nur ein laues Gähnen abringt. Mathos Mutprobe bevor er den Heiligen Schleier in seinen Besitz bringt und die schlafenden Salammbô aufstört, ist nämlich der obligatorische Kampf mit einem Löwen, der in manchen Szenen tatsächlich aus Fleisch und Blut besteht, und in anderen, denen natürlich, wenn er mit Matho-Darsteller zusammenstößt, von einem ausgestopften Plüschtier verkörpert wird. Überhaupt sind sämtliche Figuren zu Projektionsflächen für die Emotionen des Publikums modelliert worden. Bei Flaubert gibt es keine Helden, keine Bösewichte, keine Unschuldigen, in Griecos Film ist es kein schweres Spiel, schon nach den ersten Minuten zu unterscheiden: dieser Charakter gehört zu den Bösen, jener zu den Guten. Die pompöse Musik tut ihr Übriges, jedwedem Realismus die Poren zuzukleistern.

Mein dritter Vorwurf lautet: Bedenkt man, dass Flauberts Roman wohl einer der gewalttätigsten, brutalsten, schonungslosesten ist, die im neunzehnten Jahrhundert verfasst worden sind, muss man es Griecos Film immerhin schon als Höchstleistung anrechnen, ein Produkt zu liefern, das, wenn überhaupt, zum Sich-Langweilen animiert. Dies wird dadurch bewerkstelligt, dass SALAMMBÔ wirklich jede schlimme Spitze abgeschliffen wird. In Flauberts Text fließt das Blut literweise. Es gibt Schlachtenszenen, in denen nichts idealisiert, nichts glorifiziert wird: da hauen sich Krieger die Köpfe ein und am Ende sieht man seitenweise Berge von zerstückelten Leichen, sich zu Tode wälzenden Elefanten und verwundeten, verwirrten Überlebenden, die ziellos durch die Ruhe nach dem Sturm torkeln. Gerade das oben schon erwähnte Ende des Romans tut nach einhundertfünfzig Jahren, finde ich, noch genauso weh wie am ersten Tag. In Griecos Film indes schmerzt nichts – wenn man mal von dem Umstand absieht, dass man es wirklich gewagt hat, der Geschichte ein völlig wesensfremdes Happy End aufzupfropfen, in dem Matho nicht den Tod durch öffentliche Hinrichtung findet und Salammbô sich nicht selbst vergiftet, sondern von dem die beiden quasi in letzter Sekunde, kurz vorm Abspann, vom Schicksal dann doch noch einander in die Arme getrieben werden und ihre romantische Liebe genießen dürfen. Damit hat die Filmfassung für mich vollends ihre Existenzberechtigung verloren.

Auf diesem Werk steht zwar groß Flaubert drauf, drin ist von Flaubert gerade mal ein paar Eigennamen und ein paar Handlungsfragmente. Wäre SALAMMBÔ dabei wenigstens ein unterhaltsamer Film, hätte man ihm diese Blasphemie vielleicht noch verzeihen können. Wenn das Endergebnis aber eins ist, mit dem die Zeit derart übel umgesprungen ist, dass mir persönlich kein einziger Mensch einfällt, von dem ich glaube, er könne Gefallen an diesem sterbensöden Sandalenfilm finden, möchte ich abschließend nur jedem abraten, der möglicherweise mit dem Gedanken gespielt hat, es sei eine lohnversprechende Angelegenheit, sich auf die Suche nach ihm zu begeben. Manche Dinge bleiben besser, wo sie sind – in den hintersten Staubfängerwinkeln der verrammelsten Dachbodenkammer der europäischen Filmgeschichte.
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Originaltitel: ...E tu vivrai nel terrore! L'aldilà

Produktionsland: Italien 1981

Regie: Lucio Fulci

Darsteller: Catriona MacColl, David Warbeck, Cinzia Monreale, Al Cliver, Antoine Saint-John
L’ALDILÀ ist einer der großen, modernen Horrorfilme, da beißt keine Maus einen Faden ab und keine Katze ein Mäuseschwänzchen, und um den Film zu schätzen, zu lieben, ihn doof zu finden oder sich vor ihm zu ekeln, ist alles, was ich nun schreiben werde, natürlich völlig unwichtig. Dennoch fühlt es sich gerade an, als ob ich der Antwort auf die Frage, was den Reiz dieses Films für mich denn nun eigentlich ausmacht, so nahe gekommen bin wie niemals zuvor, und das möchte ich nicht für mich behalten.

Unsere heutige Geschichte beginnt im frühen zwanzigsten Jahrhundert, als der Schweizer Linguist Ferdinand de Saussure (1857-1913) in seinen Vorlesungen zur allgemeinen Sprachwissenschaft seinen Studenten die Willkürlichkeit (Arbitrarität) der Zeichen lehrt. Ein Zeichen ist für Saussure eine Sache mit zwei Seelen. Jedes, nicht nur sprachliches, Zeichen besteht für ihn aus einem Bezeichneten, sprich: einem bestimmten Inhalt, einer bestimmten Bedeutung (Signifikat) sowie einem Bezeichnenden, d.h. einer quasi-materiellen Form, in der dieses Bezeichnete zum Ausdruck gebracht wird (Signifikant). Wählen wir zur Verdeutlichung ein Beispiel aus dem Alltag: ein Pavian, das ist, jedes Kind weiß das, ein Angehöriger einer bestimmten Affenart mit bestimmten Eigenschaften, einem bestimmten Lebensraum etc. Bei all dem, wodurch man einen Pavian definieren könnte, handelt es sich um das Bezeichnete. Es gibt dieses Tier wirklich, man kann es anfassen oder es fasst einen an. Allerdings existiert der Pavian völlig unabhängig von dem oder den Zeichen, mit denen wir ihn bezeichnen. Ohne Menschen, ohne menschliche Sprache würde er wohl genauso seinen Lebensraum, seine Lieblingsnahrung, seine spezifischen Eigenschaften haben wie mit ihr. Das, was den Pavian in seinem Kern auszeichnet, ist völlig unabhängig von dem Bezeichnenden, das ihn für uns in einem handlichen Zeichen zusammenfasst. Der Signifikant Pavian, das ist nichts weiter als eine willkürliche Zusammensetzung von sechs Buchstaben, die auch beliebig anders hätte lauten können. Das beweist allein schon, dass das Zeichen Pavian regional begrenzt ist. Im Englischen wird das gleiche Gottesgeschöpf beispielweise baboon gerufen, der Franzose kennt ihn als babouin. Sicher, baboon und babouin liegen lautmalerisch und wortwurzelhaft schon ziemlich nahe beisammen, dennoch sind sie nicht völlig kongruent, einmal nicht untereinander und sodann schon gar nicht mit dem Tier, das sie bezeichnen. Baboon, babouin und Pavian, das sind nur drei von unzähligen Möglichkeiten wie das fragliche Äffchen bezeichnet werden kann. Das Äffchen ist auf keine dieser Möglichkeiten angewiesen. Es ist ihm schlichtweg egal, wie es bei uns heißt.

In einem hübschen Kreisdiagramm wird Linguistik-Studenten des ersten Semesters Saussures Zeichentheorie schaubildhaft und anschaulich klargemacht. Jedes Zeichen kann man sich als einen Kreis denken, der in der Mitte von einem Querstrich in zwei Teile zerlegt wird. Oberhalb des Strichs ist das Reich unserer Vorstellungen. Darin findet sich all das, womit unser Gehirn sofort an Bildern reagiert, wenn es das Wort Pavian hört. Das mag individuell unterschiedlich sein – vielleicht erinnert der eine sich an seinen liebsten Kinderfilm, in dem ausgerechnet ein Pavian die Hauptrolle gespielt hat, vielleicht erinnert sich ein anderer an einen unangenehmen Zoobesuch, bei dem er von einem Pavian gebissen worden ist, und vielleicht verwechselt ein dritter den Pavian sogar mit dem Bonobo und hat deshalb ein ganz anderes Affengesicht vor Augen -, dennoch kann man davon ausgehen, dass es ein mehr oder weniger ideales Bild gibt, das in unseren Köpfen von einem Pavian herumspukt. Noch deutlicher wird das, wenn man einen Stuhl, einen Baum, einen Tisch als Beispiel heranzieht. Jedem von uns wird, wenn er das Wort Baum hört, ein solcher als Vorstellung im Kopf sprießen. Das ist dann allerdings kein echter Baum, sondern die Idee von einem, ein bloßes Sinnbild, bei dem es sich im Einzelfall um eine Eiche, eine Birke oder eine Buche handeln kann. Im unteren Halbkreis ist das angesiedelt, was Saussure das Lautbild des Zeichens nennt: eine zufällige, wenn auch sprachhistorisch gewachsene Ansammlung von Lauten, die so sehr an unsere Vorstellung von einer Sache geknüpft ist, dass man sie kaum von ihr trennen kann. Beides bedingt naturgemäß einander. Das Lautbild Pavian ruft sofort unsere Pavianvorstellungen wach, und umgekehrt haben wir, wenn uns ein Pavian über den Weg läuft, sofort das entsprechende Lautbild im Kopf. Diese Abhängigkeit ist indes, das muss noch einmal unterstrichen werden, nicht von der Natur bedingt, sondern menschengemacht. Hätte sich unsere Sprache anders entwickelt, würde der Pavian in deutschen Zungen vielleicht mit der Lautfolge Baum bezeichnet werden. Ein Merksatz, der Linguistik-Studenten des ersten Semesters hinter die Stirne tätowiert wird bis sie schreien: Zeichen sind grundsätzlich arbiträr.

Der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan (1901-1981) ist als Poststrukturalist entschieden von Saussure beeinflusst und erweitert dessen Signifikanten-Begriff. Für Lacan können nicht bloß als Wörter organisierte Lautfolgen wie Pavian als Signifikanten fungieren, sondern auch beispielweise tatsächlich vorhandene Objekte, Symbolhandlungen oder letztlich das Subjekt selbst. Außerdem betont er die Macht des Signifikanten über das Signifikat. Kein Symbol, so Lacan, entstammt dem Realen, obwohl es vorgibt, genau dieses Reale zu repräsentieren. Als Menschen sind wir eingeschlossen in unser Zeichensystem, aus dem allein heraus es uns möglich ist, die Welt wahrzunehmen. Ohne Sprache, ohne Zeichen, ohne Symbole könnten wir zum einen nicht uns selbst als Subjekt von unserer Umwelt unterscheiden und zum anderen keine gedanklichen Figuren errichten, mit denen es uns möglich ist, komplexe Handlungen auszuführen. Signifikant und Signifikat stehen somit nicht gleichberechtig nebeneinander und reichen sich die Hände, sondern das eine ist dem anderen quasi untergeordnet, wird von diesem erst zu dem, was es in Wirklichkeit womöglich gar nicht ist. Ein Begriff Lacans ist für uns von besonderer Wichtigkeit: der des reinen Signifikanten. Bei dem handelt es sich, grob gesagt, um eine Leerstelle, um ein Zeichen, das kein Signifikat besitzt, ein Zeichen ohne Inhalt, ein Zeichen, das zwar so tut, als würde es auf etwas verweisen, in Wirklichkeit aber eben auf überhaupt nichts verweist. Für mich ist, wie im Folgenden bewiesen werden soll, gerade Lucio Fulcis L’ALDILÀ ein gutbesuchter Treffpunkt solcher reiner Signifikanten.

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Das beginnt schon in der ersten Minute des Films. Eine Texttafel hängt dort herum, um den Zuschauer darüber zu informieren, dass der Prolog im Louisiana des Jahres 1927 einsetzt. Dort stürmen einige bärbeißige Dorfbewohner das damals noch scheinbar entlegen in sumpfigem Gebiet verortete Seven Doors Hotel, um den Maler Schweick seiner Bestimmung zuzuführen, nämlich gekreuzigt und mit ungelöschtem Kalk übergossen zu werden. Nachdem das geschehen ist und der Künstler sich vor unseren Augen eindrucksvoll in eine feuchte, dampfende Masse verwandelt hat, erfolgt ein Zeitsprung, der erneut von einer Texttafel unterstrichen wird. Der Ort ist der gleiche, nämlich Louisiana, allerdings befinden wir uns nun für den Rest des Films im Jahre 1981, in der unmittelbaren Gegenwart, in der der Film gedreht worden ist. An sich mag das keine ungewöhnliche Sache sein, den Prolog eines Films Jahrzehnte vor der eigentlichen Handlung anzusiedeln, zumal im Genre des Spukhaushorrors, dem man L’ALDILÀ, aller Zombies zum Trotz, dann doch weitgehend zuordnen kann. Der große Unterschied zu Werken wie AMITYVILLE HORROR oder THE HAUNTING besteht indes darin, dass bis zur letzten Minute von L’ALDILÀ nie wirklich klar wird, wozu denn dieser Zeitsprung nun eigentlich gedient haben soll. Im Verlauf des Films erfahren wir zwar, dass das Hotel seit seiner Gründung auf einem der sieben Tore zur Hölle steht, darüber, was denn nun genau im Jahre 1927 dazu geführt hat, dass Schweik hat sterben müssen, schweigt das Drehbuch eisern. In nüchternstem Licht betrachtet steht der Prolog reichlich isoliert vor der eigentlichen Haupthandlung, erklärt diese weder noch teilt er mit ihr mehr als zwei, drei Motive, die später in ihr fortwährend wiederkehren, jedoch ebenfalls ohne irgendwie kontextualisiert zu werden. Dazu gehört beispielweise die ominöse Hotelzimmernummer 36 oder Emily, die im Prolog noch ihres Augenlichts mächtig ist, jedoch im gleichen Alter zu sein scheint wie knapp ein halbes Jahrhundert später, oder die wahrlich schaurigen Gemälde, die Schweik seinen Pinseln entlockt. All das besitzt innerhalb des Filmuniversums einen kaum zu unterschätzenden Symbolwert. Kamera, Tonspur, einzelne Dialoge bemühen sich redlich, den Betrachter auf die Signifikanz der 36, um einmal bei diesem Beispiel zu verweilen, hinzuweisen. Mehr als dass Schweik eben dieses Zimmer bewohnt hat, bevor man ihm sein Martyrium vorbeigebrachte, erfahren wir unterm Strich allerdings bis zum Finale nicht. In jedem konventionellen Film würde die 36, so schwanger von Bedeutungen wie sie zu sein scheint, früher oder später logisch aufgeschlüsselt werden, bei Fulci bleibt das Rätsel bis zuletzt intakt, und diese Zahl somit, meine ich, eben das, was Lacan einen reinen Signifikanten nennt, ein Zeichen, das mir vorgaukelt, ich müsse es nur lange genug anstarren und schon gebe es mir seine Geheimnisse preis, in Wirklichkeit aber mit zunehmender Laufzeit nur umso weiter von dem Zugriff meines Verstandes fortrückt und mir so gar keine Möglichkeit lässt, es zu decodieren.

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Ein weiteres Beispiel für ein konkretes Zeichen, das viel zu sprechen scheint, tatsächlich aber nicht nur rein gar nichts sagt, sondern im Gegenteil ein Schweigen an den Tag legt, in dem man sich verirren muss wie in einem Zeichenwald, wäre das Buch Eibon, das in L’ALDILÀ eine zentrale Rolle spielt. Es ist keine Erfindung Fulcis oder seines Drehbuchautors Sacchetti. Ursprünglich entstammt es dem Kosmos des amerikanischen Fantasy- und Horrorschriftstellers Clark Ashton Smith (1893-1961), der es zum ersten Mal in seiner Kurzgeschichte THE HOLINESS OF AZEDARAC erwähnt. Dort ist es, ähnlich wie das Necronomicon Lovecrafts, der das Buch Eibon übrigens später in sein eigenes Ungeheueruniversum integrieren und dadurch erst wirklich bekannt machen sollte, eine Sammlung schwarzmagischer Sprüche, die aufzuschlagen niemandem zu raten ist, der um sein Seelenheil fürchtet. Ebenfalls mit dem Necronomicon teilt es, dass Smith es mit einer relativ ausführlichen Herkunftsgeschichte ausstaffiert hat, die der Leser von der Entstehung im mythischen Hyperborea über die Antike und das Mittelalter bis in unsere unmittelbare Gegenwart verfolgen kann. Nichts von alldem findet sich jedoch bei Fulci. Dort ist das Buch Eibon völlig aus seinem ursprünglichen Kontext gerissen. Alles, was der Betrachter von L’ALDILÀ zu wissen braucht, ist, dass das Buch Eibon ein dämonischer Nimbus umgibt, bei dem die Anspielungen auf Lovecraft und Smith, so jäh sie begonnen haben, auch schon wieder enden. Im Grunde ist das Buch Eibon in L’ALDILÀ ein völlig austauschbares Objekt. Sein Name erinnert zwar die eingefleischten Freunde früher amerikanischer Horrorliteratur an Altvertrautes, in Wirklichkeit bleibt der Verweis da schon auf halber Strecke stehen und führt einen nicht weiter. Das Buch Eibon ist, wie es in L’ALDILÀ verwendet wird, ein hervorragendes Beispiel für einen Signifikanten, der sich nicht nur komplett von seinem Signifikat emanzipiert hat, sondern der außerdem von einer Art Tollwut ergriffen worden ist und wild, unkontrolliert in jedem Kontext auftaucht, in dem es ihm gerade gefällt: ob nun in Emilys verlassenem Häuschen oder im Hotel der Sieben Tore oder in der Auslage des Geschäfts eines wunderlichen Buchhändlers. Deutlicher hätte Fulci kaum machen können, dass L’ALDILÀ offensichtlich ein Film sein soll, dessen Zeichensprache schon auf das ultimative Nichts vorverweist, in das seine Helden in den letzten Minuten eingehen werden.

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Nein, das stimmt ja gaar nicht, rufe ich mir selbst zu, denn in einer Szene ist sein Signifikanten-Spiel an Deutlichkeit nun wirklich kaum mehr zu überbieten. Wir befinden uns im örtlichen Krankenhaus, in dem verweste Kadaver an Geräte angeschlossen werden, die ihre Herzfrequenzen messen sollen, und Witwen sich eigenhändig darum kümmern müssen, dass ihre entsetzlich zugerichteten Gattenleichen ordentlich gekleidet unter die Erde gebracht werden. Als die Ehefrau von Klempner Joe den Totensaal betritt, in dem dieser zusammen mit Schweiks mehr oder minder körperlichen Überbleibseln aufgebahrt worden ist, blinkt es links oben im Bild regelrecht, dass man es, vor allem auf großer Leinwand, kaum übersehen kann. Do not entry steht dort, groß und rot genug, um noch dem verschlafensten Zuschauer aufzufallen. Nun gibt es zwei Möglichkeiten, weshalb das dort in solch fehlerhaftem Englisch steht. Die erste wäre, dass der Fehlerteufel Fulci und sein Team schlicht ausgetrickst hat. Die zweite wäre, dass es ganz bewusst dort steht, sichtbar für jeden. Ich würde definitiv für die zweite Möglichkeit plädieren. Wie wahrscheinlich ist es nämlich denn, dass keinem der Verantwortlichen dieser Fehler aufgefallen sein mag? Zumal man das Schild scheinbar extra für den Film hergestellt hat, denn in einem echten Krankenhaus Louisianas wird es wohl sicherlich kaum in dieser Form an eine Wand geschlagen worden sein. Möglich wäre vielleicht, dass der Fehler zwar auffiel, sich jedoch niemand um ihn scherte. Andrea Bianchi und seinen Untergebenen, denen würde ich das ohne mit der Wimper zu zucken zutrauen, doch wie plausibel klingt das, wenn man bedenkt, dass L’ALDILÀ nun wirklich kein halbbesinnungslos heruntergekurbeltes Machwerk darstellt, sondern einen technisch ernstzunehmenden Film, bei dem man die effektkonzentrierten Anstrengungen, zum Beispiel auf der Tonspur oder in den Bildkompositionen, sozusagen jede Minute spür- und sichtbar vor Augen hat? Nachlässigkeit schließe ich angesichts der hohen visuellen und handwerklichen Qualität des Films genauso aus wie schiere Blindheit einem solchen gravierenden Fehler gegenüber. Was aber bezweckt Lucio dann damit, sein Publikum mit einem Schild solchen Inhalts zu konfrontieren? Mir bleibt nur übrig, ihm zu unterstellen, dass es zu der Taktik gehört, die er über die gesamte Laufzeit von L’ALDILÀ hinweg verfolgt. Do not entry, dieser Imperativ ist, sogar in seiner physischen Präsenz, ein eindeutiges Zeichen, jedoch eins, das grundsätzlich falsch ist. Es setzt sich aus zwei korrekten Zeichen zusammen: Do not enter sowie No entry. Zusammengezogen ergeben die beiden, streng genommen, keinen Sinn, dennoch versteht jeder Betrachter mühelos, was damit gemeint ist. Joes Witwe indes bildet die Ausnahme. Trotz der Warnung tritt sie genau über die Schwelle, von der sie besser ihre Füße hätte lassen sollen, und stirbt kurz darauf dann auch ziemlich kläglich und eklig. Das Schild mit der Aufschrift Do not entry ist ein weiteres Beispiel für ein Zeichen, bei dem einiges schiefläuft, diesmal aber, verglichen mit Buch Eibon und der Zimmernummer 36, quasi umgekehrt. Das, worauf es verweist, ist klar, nämlich der zu meidende Eintritt in das Leichenkabinett des Hospitals, das Verweisende ist demgegenüber aber in sich fehlerhaft, sprich: mit dem Signifikat ist alles in bester Ordnung – wir wissen, was gemeint ist - nur der Signifikant fällt soweit aus der Reihe, dass er eigentlich gar nichts mehr bezeichnen sollte - und es witzigerweise trotzdem tut.

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L’ALDILÀ ist, neben all seiner oben schon aufgezählten oder angedeuteten Qualitäten, demnach ein Film, der seine zutiefst irritierende, wenn nicht gar beunruhigende Wirkung nicht nur, wie ihm noch immer gerne unterstellt wird, aus drastischen Gräuelszenen zieht, sondern vor allem daraus, sein Publikum exakt dort anzugreifen, wo es am verwundbarsten ist. Fulci hebt in seinem Paralleluniversum jegliche Sicherheit aus den Angeln, in die wir sie gespannt haben. L’ALDILÀ erzählt von einer Welt, in der nichts mehr irgendeine Verlässlichkeit besitzt. Sein wahrer Schrecken ist vielleicht gerade das: dass wir, gemeinsam mit den Protagonisten, in einen Strudel gezogen werden, der ganz bewusst alles Vertraute mit sich fortreißt: Konventionen des Kinos, Konventionen der Narration, Konventionen der Zeichen.
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

Beitrag von Salvatore Baccaro »

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Originaltitel: La mort du cygne

Produktionsland: Frankreich 1937

Regie: Jean-Benoît-Lévy, Marie Epstein

Darsteller: Jeanine Charrat, Yvette Chauviré, Mia Slavenska, Mady Berry
Ich muss die Geschichte damit anfangen, dass ich von Marie Epstein zu erzählen. Sie lebte von 1899 bis 1995, wurde als Tochter einer polnisch-jüdischen Familie in Warschau geboren, emigrierte dann, als Kind noch, in die Schweiz, und starb hochbetagt in Paris. Sie war die Schwester von Jean Epstein, einem der, meiner Meinung nach, großartigsten französischen Filmemacher der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Er zählt zu den sogenannten französischen Filmimpressionisten und operierte wie z.B. Germaine Dulac, Abel Gance oder Marcel L'Herbier ab den frühen 20ern direkt an der Schnittstelle zwischen dem Avantgarde-Kino der Filmclubs und dem der kommerziellen Studiosystemproduktionen - mit Ausschlag mal in die eine, mal in die andere Richtung. In der Praxis sieht das dann so aus: sein Meisterwerk MAUPRAT aus dem Jahre 1926 ist zwar einerseits eine recht klassische Leinwandadaption von George Sands gleichnamigen durchaus lesenswerten 1837 publiziertem Roman, die sich an der Geschichte zwischen Buchdeckeln vergleichsweise wortgetreu entlanghangelt, zum andern aber, auf formaler Ebene, eine Spielwiese für kühne Montage-Experimente, unfassbar schöne Bildkompositionen und generell die Tendenz, vor allem extreme Gefühle und Situation in bewegte Bilder zu übersetzen und nicht einfach per Zwischentitel zu erklären. Dadurch, dass Epstein und seine Geistesverwandten sich in gewisser Zeit an das Unterhaltungskino anpassten, und bereit waren, in ihren Filmen mehr oder minder banale Geschichten über Liebe, Hass und Leidenschaft zu erzählen, bot sich ihnen die Möglichkeit, innerhalb dieses Rahmens dann doch ihren avantgardistischen Sensibilitäten relativ freien Lauf zu lassen. Epsteins berühmtester Film dürfte LA CHUTE DE LA MAISON USHER von 1928 sein, eine absolut lyrische Poe-Verfilmung, die ich zum ersten Mal mit fünfzehn oder sechzehn gesehen habe, und in der mich vor allem eine Szene derart nachhaltig beeindruckt hat, dass ich eine lange Zeit noch von ihr geträumt habe: Madeleine Usher ist gestorben, ihr Bruder und unser Ich-Erzähler haben den Sarg zur Familiengruft getragen, und dort zurückgelassen, und mitten in den Moment der finalen Trennung von der geliebten Schwester und Freundin schneidet Epstein Aufnahmen von kopulierenden Kröten hinein! Nicht nur, dass er damit den ewigen Kreislauf von Leben und Tod auf eine Weise veranschaulicht, die, ohne abgedroschen zu wirken, den Kern der Sache punktgenau trifft – während Madeleines Körper seinem Verwesen entgegensieht, produzieren die Kröten neue Stimmchen, die bald in der Abenddämmerung aus dem Sumpfgras heraus quaken werden -, die Montage trägt für mich nahezu surreale Züge darin, dass hier zwei Welten auf Kollisionskurs gebracht werden, die erst auf den zweiten Blick etwas miteinander zu tun haben. Der Rest des Films ist melodramatisch, schauerromantisch, teilweise bar jeglicher Handlung, dafür voller fast schon pastoraler Stimmungsbilder, Schärfenexperimenten, bei denen Epstein zum Beispiel den Vordergrund einer Szene im Unklaren verschwimmen, dafür den Hintergrund aber umso deutlicher hervortreten lässt, einer Beleuchtung, unter deren Grellheit manches Bild wie unter einer Schicht Watte verschwindet - und sollte einer von Epsteins letzten kommerziell veröffentlichten Langspielfilmen sein. In seinem Spätwerk, das ich etwa ab dem wundervollen FINIS TERRAE von 1929 beginnen lassen würde, zieht Epstein sich in seine bretonische Heimat zurück und dreht – mit einer Unterbrechung während der deutschen Besatzung Frankreichs - bis fünf Jahre vor seinem Tod 1948 eine Reihe dokumentarischer Kurzfilme, die sich vor allem mit dem Meer, dem Leben der Seefahrer, der Schönheiten der Küste, mit Leuchttürmen, Schiffen und Fischen auseinandersetzen. Sie heißen: MOR VRAN (1931), L’OR DES MERS (1932) oder CHANSON D’AMOUR (1934). Zwar informieren die meisten dieser Filme durchaus über die französische Küstenlandschaft, andererseits sind sie stets mit Spielszenen verwoben, in deren banalen Geschichten z.B. eine Frau um ihren Mann fürchtet, der sich bei Sturm auf hoher See befindet, oder ein alter Leuchtturmwächter seiner alltäglichen Arbeit nachgeht. Bei mir trifft Epsteins Spätwerk einen Nerv, der noch heftiger pulsiert als der bei den Stichen seines Frühwerks. Gerade seine beiden letzten Filme, der zweiundzwanzigminütige LE TEMPESTAIRE von 1947 und der einund-zwanzigminütige LES FEUX DE LA MER von 1948, sind erfüllt von einer märchenhaften, traumartigen Atmosphäre mit sakralen Ausmaßen, und dabei so unfassbar bescheidene Liebeserklärung Epsteins an seine Heimat, dass es mich durchzuckt.

Aber eigentlich wollte ich von Marie erzählen. Sie kam über ihren zwei Jahre älteren Bruder mit der französischen Filmavantgarde in Kontakt, darunter Jean-Benoit Lévy. Der hat gemeinsam mit Jean im Jahre 1922 einen scheinbar verschollenen Film namens PASTEUR über den gleichnamigen Chemiker gedreht. Für beide war es das Kino-Debut. In der Folge verlieben Jean-Benoit und Marie sich ineinander. Sie arbeiten eng zusammen, doch nach außen hin bleibt es bei der klassischen Rollenverteilung: Lévy ist der Direktor, der Mann, der alles überschaut und im Griff hat, sie liefert ihm - wie zuvor für ihren Bruder Jean - die Drehbücher. Allerdings kann man feststellen: während ihre Drehbücher für Jean noch vor allem geprägt waren von Stoffen, die auch aus einem sentimentalen Roman des frühen 18. Jahrhunderts hätten stammen können, erwacht in ihr durch den Wechsel zu Lévy zusätzlich eine waschechte Realistin, der offenbar daran gelegen scheint, gesellschaftliche Missstände in der französischen Republik, soweit das jedenfalls möglich ist, offen beim Namen zu nennen und dadurch zu problematisieren. Mehr noch: offenbar hatte Marie wesentlich mehr Anteil an den Filmen Lévys, als dies die opening credits vermuten lassen, wo sein Name stets als Regisseur aufgeführt ist und ihrer, etwas kleiner, als der der Storylieferantin. Tatsächlich soll Marie Epstein mehr als einmal eigenständig Szenen inszeniert haben, zudem vollkommen eingebunden gewesen sein in die Gesamtproduktion der Filme, kurz: die Filme weit mehr haben mitmodellieren können als dass einer "normalen" Drehbuchautorin sonst gestattet ist. LA MORT DE CYGNE von 1937 basiert auf einem Roman des sich später als glühender Antisemit und Nazi-Kollaborateur herausstellen sollenden Paul Morand und ist einer der letzten Spielfilme des Teams Epstein-Lévy.

Nun macht es doch Sinn, dass ich so viel über Jean geredet habe, denn, in gewisser Weise, könnte der Schwanentod auch ein Film von ihm sein. Was sich auf jedenfalls gleicht: an der Oberfläche haben wir eine recht handlungsarme Geschichte, die, wenn ich sie jetzt zusammenfasse, bestimmt fast schon trivial klingt: Rose Souris ist ein kleines Mädchen aus einfachen Verhältnissen, das als Schülerin an der angesagtesten Ballettschule von Paris eingeschrieben ist. Ursache hierfür sollen die Träume sein, die ihr verstorbener Vater sich über ihre Zukunft machte. Er wollte, sagt die Mutter einmal beim Abendessen zu ihr, dass sie eine berühmte Tänzerin werde. Tatsächlich ist Rose das Tanzen wichtiger als alles andere. Die schillernde Welt des Balletts hat sie völlig in Bann gezogen, und darin, als von ihr angehimmelte Königin, vor allem die Tänzerin und Lehrerin Mademoiselle Beaupré, von der Rose sicher ein Poster über ihrem Bett hängen gehabt hätte, wäre das in den 30ern schon en vogue gewesen. Alles ist heil in ihrem Elfenbeinturm, wo pausenlos Musik von Chopin und Gounod ertönt, jede der Jungtänzerinnen ohne Eifersüchteleien und voller Leidenschaft bei der Sache ist, und selbst der Mephisto einer Faust-Ballettaufführung freundlich lächelt, als ein Kind wegen seines schauerlichen Kostüms zu weinen anfängt, und ihm ein Bonbon in den Mund steckt. Doch dann erfährt Rose, dass ihre Heldin Beaupré durch eine international populäre Tänzerin namens Nathalie Karine ersetzt werden soll, die das Theater, in dem der Film zu neunzig Prozent spielt, mit Kusshand importiert, und dafür gerne bereitet ist, die international überhaupt nicht populäre Beaupré fallenzulassen. Rose fühlt sich und ihr Idol verraten, sinnt auf Rache und setzt diese um, indem sie der neuangeheuerten Star-Tänzerin – immerhin Mia Slavenska in einer ihrer wenigen Schauspielrollen! – im wahrsten Sinne des Wortes den Boden unter den Füßen wegzieht: während einer Aufführung manipuliert sie von unten her den Bühnenboden, worauf Karine so böse stürzt, dass ihr ein Bein amputiert werden muss! Wie der Zufall oder Maries Skript es wollen, kehrt Karine aber als Lehrerin an die Ballettschule zurück und unterrichtet dort nun ausgerechnet unsere Hauptfigur Rose Souris, die übrigens wesentlich kindlich-naiver und weniger böse-koboldhaft dargestellt wird als dass meine Kurzinhaltsangabe vermuten lässt, sondern vielmehr – bis auf ihre fanatische Liebe für Beaupré - ein ganz normales Mädchen von vielleicht elf Jahren sein soll. Während Beaupré indes gar nicht so traurig darüber zu sein scheint, dass es mit ihrer Tanzkarriere nichts wird – sie verliebt sich, schmiedet Heiratspläne, stellt fest, dass das Ballett gar nicht, wie sie bis dahin glaubte, ihr Lebenstraum ist -, und Rose alles versucht, sie dazu zu bringen, das Tanzen nicht aufzugeben, hält sie andererseits die Gewissensbisse nicht mehr aus, die sie aufgrund ihrer Schuld am Schicksal der insgeheim todunglücklichen Karine plagen. Schließlich öffnet sie sich ihrer Lehrerin, gesteht ihr, wozu sie ihre Idolatrie bezüglich der Mademoiselle getrieben hat und ist bereit, jedwede Konse-quenz zu tragen, doch Karine sagt ihr, der Tanz, das sei das Wichtigste!, und fördert sie weiter, frei von Groll, um der Ballettwelt nicht eine verheißungsvolle Tänzerin vorzuenthalten. Das mag von der Fabel her pathetisch, altbacken und spießig klingen, und ist es in einigen Aspekten irgendwie auch, aber die Bilder, die Bilder!

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Abb.1&2: (1) Unser Heldin Rose Souris, großartig putzig und doch dramatisch verkörpert von Jeanine Charrat, die später tatsächlich gefeierte Tänzerin und Choreografin werden sollte, und, während ich diese Zeilen schreibe, angeblich einundneunzigjährig in Grenoble lebt. (2) Eine der typischen Ballettszenen vorliegenden Films: Die filmische Illusion hat wenig Chance, uns einzulullen, wenn wir ständig die Publikumsköpfe im Bild haben.

Wie bei Jean früher versteckt sich in LA MORT DU CYGNE unter der Oberfläche Unfassbares, und ein stumpfer Ballettfilm ist das sicher nicht geworden. Klar, es gibt zahllose Tanzszenen echter Profis auf ihrem Gebiet, doch die werden konsequent so gefilmt, dass man bspw. die Stricke an den fliegenden Kinderschwänen sehen kann, oder ständig die Köpfe des Publikums im Bild hat. Ständig brechen Lévy und Epstein die Illusion, indem sie mir deutlich machen: Du siehst nur die Probe zu einer Aufführung, die gar keine echte Aufführung ist. Auch merkt man: ähnlich wie im zeitgleich stattfindenden italienischen Neorealismus sind Lévy und Marie darauf aus, die kindliche Sicht auf die Welt vorurteilsfrei ernst zu nehmen. Wie beispielweise in einem Film wie Vittorio de Sicas SCIUSCIA von 1946 werden den Kinderdarstellern genügend Möglichkeiten geboten, so realistisch oder so süß wie zur damaligen Zeit möglich zu wirken, wenn sie sich necken, sich beistehen, große Augen machen, weil sie irgendwelche sensationellen Neuigkeiten hören. LA MORT DU CYGNE ist freilich kein realistischer Film im engsten Sinne, da die Kinder, so frisch sie auch aufspielen, natürlich auswendiggelernte Drehbuchsätze aufsagen, und auch sonst vor der Kamera nicht einfach unvermittelt sie selbst sind, sondern Figuren, die man ihnen auf den Leib geschrieben hat. Trotzdem meine ich da ein ernstes Bestreben von Epsteins Skript zu erkennen, wirklich die Sichtweise ihrer blutjungen Heldinnen einzunehmen, und ihnen nicht bloß diejenigen der Erwachsenen überzustülpen. LA MORT DU CYGNE ist recht schlicht in seinen Charakterzeichnungen, trägt so gut wie nie dick auf, und bleibt, trotz seines Schauplatzes, ziemlich auf dem Boden der Realität. Eher schon bemüht er sich, den Pomp seines Schauplatzes subtil zu unterminieren. Wie gesagt: bei den vielen Ballettszenen bleiben die Hinterköpfe des Publikums permanent im Bildkader und wenn kleine Mädchen als Schwäne über die Bühne hinwegflattern, bekommen wir die Stricke, die sie halten, sogar in Großaufnahme zu sehen.

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Abb.3-5: Als sei man kurzzeitig in die labyrinthischen Gewölbe geraten, die dem Phantom der Oper als Heimstatt dienen: Bei ihren Ausflügen in die Welt unterhalb der Bühnenböden - meist, wenn sie etwas ausgefressen hat - begegnen Rose die schaurigeren Masken und Kostüme des Garderobenarsenals als Mahner an ihr Gewissen.

Irgendwie hat das Ganze aber auch teilweise, ganz unrealistisch, etwas von einem Märchen, wenn die Welt des Balletts dann doch immer mal wieder zu einem feenvollen Zauberreich hochstilisiert wird. Das wären dann die lyrischen Überreste des Epstein-Stils wie Jean ihn praktiziert hat, die aber ganz logisch in LA MORT DU CYGNE eingeflochten sind. Letztlich führt uns der Film ja vor allem die Perspektive der kleinen Rose vor, und wenn deren verklärten Augen aus Mademoiselle Beaupré eine Prinzessin machen, dann kann man das wiederum ebenfalls als ein Stückchen Realität betrachten – nur eben die subjektive unserer Heldin. Mit irgendeinem Realismus-Begriff kommt man aber spätestens bei den vielen kleinen technisch-experimentellen Details nicht mehr weiter. Durch den Film ziehen sich solche Einfälle wie folgende: Eine spiralförmige Bildblende, die exakt die Bewegungen der Tänzerinnen in der vorherigen Szene nachahmt. Eine Eröffnungs-Montage, die von Sergej Eisenstein stammen könnte, und in der Detailaufnahmen von Statuen an öffentlichen Plätzen so zusammengeschnitten werden, dass es den Eindruck erweckt, sie würden tanzen. Oder die wundervollste Szene des Films: Karine erinnert sich an ihre Zeit als Tänzerin zurück, die nun, mit nur einem Bein, vorbei ist, und imaginiert sich als die Ballerina, die sie einst gewesen ist. Dabei legeni Epstein und Lévy diese Aufnahme auf dem Hintergrund einer Naturaufnahme ab - ein Einfall, der auch zehn Jahre später Maya Deren bei ihren Studien über archaische Tanz- und Theaterformen hätte kommen können. Man sieht: Ich bin begeistert von diesem schönen Film, der den Spagat schafft zwischen unterhaltendem Spielfilm und kurzen, aber jähen Ausbrüchen in reinste Experimentalkino-Poesie. LA MORT DU CYGNE erzählt eine Geschichte mit – übrigens ausnahmslos weiblichen! - Figuren, die mir nahegehen, getragen von Schauspielern, bei denen vor allem die Kinder besonders glänzen, und bringt darin noch genügend progressive Ideen unter, dass ich dem Drehbuch manchen etwas steifen Dialog und manche etwas bemühte Storywendung mühelos verzeihen kann.

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Abb.6-8: Die wohl lyrischste Szene des gesamten Films: Mia Slawenska tanzt anmutiger als ein Schwan vor hauchzarter Naturkulisse, dass Körper und Natur ineinander und miteinander verschwimmen.

Mit LA GRANDE ESPÉRANCE von 1953 hat Marie übrigens den einzigen Film unter ihrem eigenen Namen gedreht. Es handelt sich um einen Kurzfilm, der über die Gefahren und den Nutzen von Atomenergie aufklärt. Etwa zur gleichen Zeit stellte Henri Langlois sie in der cinémathèque francaise ein. Dort restauriert sie bis in die späten 70er Stummfilme, darunter die ihres eigenen Bruders und, wohl ihr größtes Projekt, Abel Gances fünf- bis sechsstündiges NAPOLEON-Epos von 1927. Jean-Benoit Lévy stirbt 1959 und hat danach natürlich keinen weiteren Film mehr gedreht und alle Filme, die er gedreht hat, sind derart vergraben in irgendwelchen Archiven, dass ich bislang an keinen außer LA MORT DU CYGNE herangekommen bin.

Ein letzter Traum: Eine ganztägige Veranstaltung zum Thema "Ballett im Kino". Drei Filme sind angekündigt und mehrere wissenschaftliche Vorträge. Von mir aus über die Geschichte des Balletts in Europa, Kongruenzen zwischen Montage-Rhythmik und Tanz-Rhythmik, Gender-Überschreitungen im klassischen Ballett, was weiß ich. Dazwischen: Epsteins und Lévys LA MORT DU CYGNE, gefolgt von Dario Argentos SUSPIRIA und Aronofskys BLACK SWAN. Wie schön wäre das, alle drei Filme durch uns miteinander kommunizieren zu lassen.
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Originaltitel: Messe Noire

Produktionsland: Frankreich 1928 [mutmaßlich]

Regie: unbekannt

Darsteller: unbekannt

WITCHCRAFT DESTROYS MINDS & REAPS SOULS steht, zusammen mit dem Bandnamen Coven, auf dem Cover in einem stilisierten Flammenmeer. Darunter blicken vier ernste Gesichter den potentieller Käufern dieser LP direkt in die Augen. Die blonde Frau mit den extrem schwarz ummantelten Augen, das ist Esther „Jinx“ Dawson, die Sängerin. Die beiden Herren rechts von ihr, der eine mit einem schwarzen Schopf, der seinen Kopf umrahmt wie den eines Löwen und teilweise mit dem dunklen Hintergrund verschmilzt, der andere deutlicher zu erkennen mit seinem blonden Schnauzer und in den Nacken fallenden Haaren, heißen Steve Ross und Mike „Oz“ Osbourne. Das vierte Bandmitglied ist offensichtlich ein Totenkopf, der von unten, so, als würde er schweben, ins Bild linst. Was den von Blumenmacht und Friedensgras trunkenen Hörer auf dem Debut-Album der 1967 in Chicago gegründeten Band erwartete, entspricht dann jedoch zunächst wenig dem konsequent satanischen Image, das im Artwork zelebriert wird. Zwar tragen die einzelnen Songs Titel wie PACT WITH LUCIFER oder DIGNITARIES OF HELL oder WHITE WITCH OF ROSE HALL oder, was die seltsame Irritation, die einen beschleicht, wenn man den Namen von Bassist Oz Osbourne zum ersten Mal gelesen hat, noch verstärkt, BLACK SABBATH und WICKED WOMAN – rein musikalisch aber bewegen sich Coven im Gegensatz zu der wenige Zeit später berühmt und berüchtigt werdenden Birminghamer Truppe um einen ganz anderen Ozzy in den Gefilden eher leichtfüßigen Psychedelic-Rocks wie ihn seinerzeit beispielweise Jefferson Airplane praktizierten, nur eben die eine oder andere Qualitätsstufe darunter. Normalerweise könnte man WITCHCRAFT DESTROYS MINDS & REAPS SOULS – zumal die Band sich nach mehreren gefälligen, non-satanischen Popalben aufgrund ausbleibenden finanziellen Erfolgs 1975 sang- und klanglos auflöste - als Kuriosität der End-60er abtun, als historisches Zeitdokument des allmählichen Umschwungs von Hippie-Träumen zu den Exzessen eines Charles Manson - wenn da eben nicht der allerletzte Track, SATANIC MASS, wäre.

Schon auf dem Rücken der LP ist eine Warnung diesen betreffend zu lesen. Es handle sich nämlich um eine authentische bzw. so authentisch wie möglich reinszenierte Schwarze Messe, den Initiationsritus einer jungen Frau, die Luzifer geweiht werde. Zartbesaitete Hörer sollten deshalb besser rechtzeitig die Nadel von der Platte ziehen. Tatsächlich hört man auf SATANIC MASS keinen gefälligen Rock mehr, sondern, unter anderem, die herrische Stimme eines Hohepriesters, der der Neophytin die blasphemischen Formeln vormurmelt, die sie aufsagen soll, der ihr zudringliche Fragen stellt, sie schließlich auffordert, den Hintern eines Ziegenbocks zu küssen, während um diese beiden Hauptakteure herum immer wieder Laute zu hören sind, die darauf hindeuten, dass es die übrigen Sektenmitglieder kaum erwarten können, die Initiation mit einer bestialischen Orgie zu beschließen. Natürlich ist diese vermeintliche Schwarzmesse ein reiner Studio-Fake. Falls irgendwer bei der bloßen Behauptung, dass sich ein solches Tondokument auf einer kommerziell vertriebenen LP eines offiziellen Labels befindet, nicht schon stutzig geworden sein sollte, entlarvt sich besagtes Tondokument schon zur Genüge selbst. Viel zu klar kann man die Studioarbeit erkennen, die in den viertelstündigen Track gesteckt worden ist, viel zu offensichtlich ist das theatralische Sprechen der Beteiligten, viel zu sehr folgt das Ganze einem Drehbuch, viel zu sauber ist der Klang, viel zu unfreiwillig komisch manche Dialogstelle. Nichtsdestotrotz gilt WITCHCRAFT DESTROYS MINDS & REAPS SOULS heute als Klassiker der satanischen Rockmusik, Jinx Dawson wird in gewissen Kreisen als erste Gothic Queen gehandelt, und selbst im Netz 2.0 kann man in den hintersten Winkeln irgendwelcher Foren noch zarte Stimmchen vernehmen, die felsenfest davon überzeugt sind, Covens Budenzauber sei wirklich der Originalmitschnitt eines von Anton Szandor La Vey höchstpersönlich inszenierten Satanistentreffs.

Wenn Covens Teufelsmesse eine Entsprechung im Kino hat, dann dürfte diese der Film MESSE NOIRE sein. Angeblich stammt der aus dem Jahre 1928 – so will es wenigstens das Netz wissen, und so behauptet es die Anthologie LES FILMS DE MAISONS CLOSES, in der er dankenswerterweise enthalten ist. Ob dies nun stimmt oder nicht – theoretisch könnte MESSE NOIRE, meiner Meinung nach, durchaus auch das eine oder andere Jahrzehnt später entstanden sein -, Fakt ist, dass jedwede weiterführende Informationen zu diesem Sechsminüter schlicht unauffindbar sind. Weder ein Regisseur ist überliefert noch irgendeine Angabe zu den Darstellern oder zu den Produktionsumständen. Verwundern sollte das indes nicht. MESSE NOIRE ist vor allem eins: ein Porno. Offiziell ist er nie irgendwo erschienen, die für ihn Verantwortlichen suchten naturgemäß eher das Dunkel als das Licht, produziert wurde er vorrangig zu einem einzigen Zweck, den sich nunmehr jeder denken kann. Doch MESSE NOIRE ist eben nicht nur dieses eine, er ist außerdem eine exakte Kopie des Konzepts, das Coven mit ihrer Schwarzen Messe anwandten – nur eben vermutlich vierzig Jahre früher.

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Seine zweite Texttafel nach dem Titel lautet wie folgt: Réception et Initiation au Culte Satanique d’une Néophyte. Wesentlich mehr Inhalt braucht es in den folgenden Minuten dann auch nicht. Eine junge Frau, die sich offensichtlich Luzifer als Dienerin bereitstellen möchte, wird von einer Gruppe maskierter und mit Kerzen bewaffneter Teufelsjüngerinnen in ein Kellergewölbe geführt. Dort wartet Luzifer mit angeklebtem Schnurrbart und strengem Blick bereits vor einem klassischen Schwarzaltar auf seinen neuen Zögling. Ebenfalls vor Ort ist eine gewisse Astarte, die ich eigentlich eher als Himmels- bzw. Liebeskönigin einiger vorchristlicher, vorderasiatischer Völker kenne, in vorliegendem Film aber wohl der weibliche Sidekick Luzifers darstellen soll. Zunächst hat sie nichts weiter zu tun als sich nackt auf den Altar zu legen und sich von Luzifer, der zuvor ein paar wirkungsmächtig aussehende Gesten vollführt hat, die Scham küssen zu lassen. Dann sind schon sämtliche Höllenmägde nackt, unsere Novizin muss sich von Luzifer in ihre Pulsader beißen lassen und das eifrig fließende Blut wird in einem Kelch gesammelt. Astarte erwacht aus ihrer Trance und peitscht die an von der Decke hängenden Ketten befestigte Neophytin mit einer Leidenschaft wie ich sie eigentlich nur aus Jess-Franco-Filmen kenne. Anschließend muss die Geschundene zuerst Astarte oral befriedigen, was MESSE NOIRE jedoch nur relativ kurz, beinahe verschämt zeigt, und sich dann dem Luzifer hingeben, was MESSE NOIRE in einer Anschaulichkeit und Länge zeigt, die ich in Anbetracht der für mich eher wenig erregenden starken Körperbehaarung des Teufelchens schon beinahe als störend empfunden habe. Zum Schluss fallen sämtliche Statistinnen übereinander her, doch dies bebildert MESSE NOIRE ebenfalls nur für einen Augenblick, denn bevor die Orgie richtig an Fahrt gewinnt, wird man schon mit einem Fin aus dem Geschehen gestoßen.

Sofern wirklich irgendwer zu irgendeiner Zeit vorliegenden Film für ein wahrhaftiges Bilddokument einer Schwarzen Messe gehalten haben sollte, kann ich mich darüber nur wundern. Jeder Schnitt, jede einzelne Kameraeinstellung, jeder erfolglose Versuch, eine authentische Atmosphäre zu generieren, wird in MESSE NOIRE vom eigentlichen Zweck der Produktion, nämlich des Zeigens von Geschlechtsverkehr bzw. der Erregung des (männlichen) Betrachters torpediert. Nichtdestotrotz – oder gerade deswegen – besitzt MESSE NOIRE, wie ich finde, seinen ganz eigenen Reiz. Da wären zum einen die zumeist wirklich hübschen Bilder und die zuweilen ausgesprochen kreative Montage, denen beiden die Schlichtheit des Films (man könnte auch sagen: sein fehlendes Budget) ausgesprochen guttut. Wundervoll, und schon beinahe das Werk eines Jean Rollins antizipierend, sieht es aus wie unsere Neophytin, umringt von den Teufelsdienerinnen, zu Beginn Film und Messe betritt. Ebenfalls einfach nur entzückend finde ich wie der Schnitt die immer gleiche Satanstinnengruppe in zwei verschiedenen Posen und in zwei verschiedenen Perspektiven verbindet. Wir sehen sie von hinten wie sie vor dem Altar knien, dann plötzlich von vorne, aufrecht stehend, mit vor den Brüsten gekreuzten Armen, dann wieder kniend, nur diesmal von hinten, die Blicke in die Kamera gerichtet usw. Mit solchen feinen Details enthüllt MESSE NOIRE, dass seine Macher, wer immer sie auch gewesen sein mögen, nicht nur durchaus ihr Handwerk verstanden, sondern dass ihnen ganz offensichtlich sogar daran gelegen gewesen ist, virtuos mit den filmspezifischen Mitteln wie eben der Montage zu spielen, ohne dass das das Werk selbst unbedingt erfordert hätte.

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Die Szene, die möglicherweise am meisten überrascht, ist jedoch die ausgewalzte Auspeitschung. Die Bilder folgen hart und schnell aufeinander: Astarte, in ihrem erhobenen Arm die Rute, dann der nackte Rücken und Hintern ihres Opfers, erst noch weiß und rein, nach dem nächsten Schnitt überzogen von Blutstriemen. In einer Weise wie ich sie im Prinzip erst von exploitativer Kost eines Joe D’Amato oder dem bereits erwähnten Jess Franco gewohnt bin, lassen die unbekannten Hintermänner hier die beiden Pole masochistische Lust und sadistische Gewalt aufeinanderprallen. Allein wie die Gefesselte sich irgendwo zwischen Geilheit und Schmerz in ihren Ketten windet und wie unbarmherzig und kalten Blicks Astarte ihr Werkzeug auf den wehrlosen Körper sausen lässt, das sind zwei ikonographische Elemente, die ich in einem Film, der angeblich von 1928 sein soll, kaum erwartet hätte.

Leider vergisst MESSE NOIRE etwa ab Minute Drei all diese Vorzüge und entwickelt sich fortan zu einem plumpen Porno, der völlig ohne satanischen Kontext funktioniert. Fast, als habe man geplant, den vorgeblichen Teufelskult selbst zu entmystifizieren, entpuppt sich Luzifer, sobald er sich aus seiner Kutte geschält hat, als ordinärer Mann mit Plauze, viel Fell und durchschnittlich großem Geschlechtsteil, dem nichts Besseres einfällt als sich erst von unserer Heldin einen blasen zu lassen und sie dann missionarisch zu vögeln. Er kommt endlich, erlöst mich von den ermüdenden, viel zu oft gesehenen Bildern, als er sie von hinten nimmt, Sperma tropft, einen Gegenschnitt später hebt Astarte die Arme wie zum Zeichen, dass die wahre Orgie nun beginnen könne, doch dann ist der Film auch schon fast vorbei. Sein letztes Bild: mehrere nackte, ineinander verschränkte, oral und vaginal beschäftigte Körper. Bei diesem Ende, das eigentlich gar kein Ende ist, kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass das, was uns heute von MESSE NOIRE vorliegt, nur ein kleiner Teil eines viel größeren Werkes gewesen sein könnte. Es wirkt, als würde der Film an entscheidender Stelle einfach abbrechen, denn ich kann mir kaum vorstellen, dass es im Sinne der Produzenten gewesen sein dürfte, die letzte Klappe genau dort fallen zu lassen, wo sich noch unzählige Möglichkeiten weiterer Hardcore-Szenen hätten ergeben können - wenn nicht sogar müssen.

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Wie dem auch sei, bleibt MESSE NOIRE für mich, vor allem, was seine ersten drei Minuten betrifft, einer der interessantesten pornographischen Filme der Stummfilmzeit, die mir bislang untergekommen sind. Nicht nur, dass er, wie gezeigt, schon ziemlich deutlich auf Elemente vorverweist, die im Exploitation-Kino der 60er, 70er und 80er zum Standardrepertoire gehören sollten, er hat zudem eine ganz eigenwillige Stimmung, eine Handvoll ausgesprochen zauberhafter formale Ideen und nicht zuletzt genau den gleichen Charme, den auch die eingangs beschriebene Schwarze Messer der Coven-Bruderschaft versprüht: man kann ihn nicht in dem Sinne ernstnehmen, dass man wirklich das für bare Münze nehmen würde, was er einem zu zeigen vorgibt, man kann ihn jedoch für die unbedarfte Putzigkeit und kindliche Naivität mögen, mit der er immerhin darum buhlt, von einem ernstgenommen zu werden.
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Originaltitel: Soeur Vaseline

Produktionsland: Frankreich 1925

Regie: unbekannt

Darsteller: unbekannt
„Außer ein paar lebenden Bildern in Paris habe ich, glaube ich, in meinem ganzen Leben nur einen einzigen pornographischen Film gesehen. Er hatte den entzückenden Titel Soeur Vaseline. Man sah eine Nonne in einem Klostergarten mit einem Gärtner schlafen, der es seinerseits mit einem Mönch trieb, bis sich alle zu einer Nummer zu dritt zusammenfanden. Ich sehe noch die schwarzen Baumwollstrümpfe der Nonne vor mir, die über dem Knie aufhörten. Jean Meauclair vom Studio 28 hatte mir den Film geschenkt, ich habe ihn verloren. Mit René Char, der kräftig war wie ich, plante ich, in eine Kindervorstellung einzudringen, den Vorführer zu fesseln und zu knebeln und dem jugendlichen Publikum Soeur Vaseline vorzuführen. O tempora o mores! Kinder zu verderben erschien uns als eine der anziehendsten Formen von Subversion. Natürlich, es ist bei der Absicht geblieben.“

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Niemand Geringeres als Luis Bunuel ist es, der in seinen Lebenserinnerungen MON DERNIER SOUPIR bei der Beschreibung seines einzigen Kontakts mit dezidiert pornographischem Bildmaterial ein recht gutes Gedächtnis beweist, wenn er einen Film beschreibt, den er vor über einem halben Jahrhundert zum ersten und letzten Mal gesehen hat. Seine Inhaltsangabe des mutmaßlich 1925 in Frankreich, natürlich anonym, produzierten etwa achtminütigen Pornos SOEUR VASELINE gibt die Handlung nicht nur in knappen Worten so detailgetreu wie möglich wieder, sondern betont sogar das dreistufige Strukturmodell, anhand dessen die sexuellen Eskapaden unserer Protagonisten sich entwickeln. Die erste Einstellung gehört einem Gärtner, der unter freiem Himmel dabei ist, einer Wiese Unkraut zu entreißen – oder zumindest so tut, denn sein Arbeitseifer wirkt genauso falsch wie der Schnauzer, mit dem der Mann vermutlich seine Identität zu schützen versuchte. Schwester Vaseline, die die Eintönigkeit des Klosterlebens zu einem Mittagsspaziergang im nahen Umfeld des Konvents animiert hat, kommt eine Texttafel später des Weges und leistet dem Gärtner Gesellschaft, indem sie sich in Reichweite seiner starken Arme auf einer Bank niederlässt. Die Stelle ihres langen Gewandes, wo man ihre Schenkel vermuten darf, ziehen die Gärtnerhände wie ein Magnet an, und es ist wirklich putzig anzusehen wie der Mann zunächst weiter so tut, als würde er im Schweiße seines Angesichts mit der Hacke zugange sein, während seine Finger sich gleichzeitig mehr und mehr zum Kleidersaum der frommen Frau verirren, ihn ein bisschen heben, ihr über die Beine streichen. Widerstand wäre zwecklos, wenn denn Schwester Vaseline überhaupt welchen ergreifen würde: ihre gen Himmel gefalteten Hände sind mehr ein fadenscheiniges Alibi als ein ernsthafter Versuch, dem Lüstling zu entkommen. Der bedeckt unsere Heldin dann auch bald mit leidenschaftlichen Küssen, worauf die Nonnenhände sich ein Beispiel an den seinen nehmen, ihm die Hose aufknöpfen, den prallen Penis hervorziehen und ihn dem zugehörigen Mund zuführen. Nachdem Schaft und vor allem Hoden genügend gerieben sind, schürzt der Gärtner ihre Röcke und nimmt sie von hinten.

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In meiner Zählung beginnt nun Akt Zwei des Schauspiels, und zwar mit einem visuellen Einfall, den die Zeitgenossen wohl kaum derart amüsiert haben dürften wie mich, zumal es sich um einen handelt, der Mitte der Zwanziger nun nicht wirklich zum ungewöhnlichen Repertoire filmischer Effekte gehört. Es ist eine Lochblende, die in ihrem hellen Oval ein Fenster des nahen Klosters zeigt. Dieses wird von einem Mönch geöffnet, der erst ein bisschen in der Landschaft umherschaut, dann unser Liebespaar erspäht und in einer völlig übertriebenen Geste des Entsetzens beide Arme hochreißt, sie dann vor dem Brustkorb faltet und zusieht, so schnell wie möglich zum Schauplatz des lasterhaften Treibens zu kommen, um es zu stören. Alles an dieser nur wenige Sekunden dauernden Szene besticht mich mit seiner Naivität scheinbar frei von jeder Ironie. Genauso wie die Lochblende, die für unsere heutigen Augen anmutet wie ein Relikt aus der Kinderspielzeugkiste, zeugt das überzogene Gebaren des Mönchs von einer sympathischen Einfalt, bei der es mir schwerfällt zu entscheiden, inwieweit diese von den Verantwortlichen nun mit einem Augenzwinkern versehen intendiert gewesen ist oder nicht. Feststeht: der Mönch verschlimmert aus christlicher Sicht das Geschehen mit seinem Intervenieren nur noch, denn selbst wenn es gutgemeint gewesen sein sollte, dass er die Sünder auseinandertreibt und den Hintern Schwester Vaselines zur Strafe mit einer Rute geißelt, verspielt er seine klerikale Reputation spätestens dann, als er die versohlten Backen zu küssen beginnt und sich nun seinerseits von der Betschwester einen blasen lässt. Die größte Überraschung für mich folgt direkt danach: der Mönch, nunmehr selbst in Hitze geraten, wendet sich dem untätig abseitsstehenden Gärtner zu und gönnt diesem nun ebenfalls einen Blow Job. Im dritten Teil werden dann einige gängige Konstellationen der horizontalen Dreieinigkeit durchexerziert, und zwar ohne Rücksicht auf hetero- und homosexuelle Grenzen. Der Gärtner penetriert den Mönch anal, während dieser die Nonne leckt. Der Mönch penetriert die Nonne vaginal, während diese den Penis des Gärtners oral verwöhnt. Am Ende liegen sich die drei Streiter verliebt züngelnd in den Armen bevor man sich voneinander trennt, jeder seines Weges zieht und der Film noch weit unter der Zehn-Minuten-Marke sein Ende findet.

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Was fasziniert mich an einem Porno aus dem Jahre 1925, einmal abgesehen von der Tatsache, dass Bunuel ihn in seiner Autobiographie erwähnt und ich zufällig über ihn in der Anthologie stummer Sexfilmschätze LES FILMS DE MAISONS CLOSES gestolpert bin? Noch bevor ich eine klare Antwort auf diese Frage gefunden hatte, musste ich mich an einen Film erinnern, der von SOEUR VASELINE zwar durch einen Zeitraum von fast achtzig Jahren getrennt ist, ihm aber, auf den ersten Blick, in beinahe allen wesentlich und unwesentlichen Belangen gleicht. Es handelt sich um SCANDALO IN CONVENTO, eine direct-to-video-Produktion des italienischen Pornoregisseurs Nicky Ranieri, die mitunter wirkt, als sei sie bewusst wie eine Hommage an die Abenteuer der Schwester Vaseline konzipiert worden. Dort nämlich verschlägt es eine junge Nonne mit falschen Fingernägeln, Piercings und Silikonbrüsten strafweise in ein neues Kloster, wo sie sich indes schnell langweilt und deshalb Streifzüge durch das unweit gelegene Dorf unternimmt. Das ist, bis auf einen muskulösen, schweißtriefenden Gärtner, völlig ausgestorben, und dass Ranieris Nonne es, ebenso wenig wie ihre französische Kollegin, nicht dabei belässt, ihm einfach nur bei der Arbeit zuzuschauen, dürfte genauso klar sein wie, dass früher oder später die im gleichen Konvent untergebrachten Mönche ihre Gebetsübungen gemeinsam mit den Schwestern durchzuführen beginnen. Zumindest vermute ich das, denn nach etwa einer halben Stunde habe ich SCANDALO IN CONVENTO, den ich meinen Augen eigentlich nur wegen meiner derzeit laufenden Recherchearbeiten zum Nunsploitation-Genre vorgesetzt hatte, abbrechen müssen – zu unkreativ, zu unästhetisch, zu unerotisch fand ich diesen Porno von der Stange, bei dem ich mir die ganze Zeit den Kopf darüber zerbrach, wer sich denn zu ihm tatsächlich einen von derselben zu wedeln imstande ist. Trotzdem: rein inhaltlich sind SCANDALO IN CONVENTO, dessen Bilder ich am liebsten aus meinem Gedächtnis streichen würde, und SOEUR VASELINE, dessen Bilder ich mir gleich mehrmals angeschaut habe, vollkommen wesensverwandt. Woran liegt demnach meine Ablehnung des einen und meine Anerkennung des anderen?

Dann stolpere ich über einen Absatz in Jean Baudrillards Promotionsarbeit SYSTÉME DES OBJECTS von 1968. Er schreibt: „Wenn der ,Eingeborene‘ sich auf eine Uhr oder auf einen Kugelschreiber stürzt, nur weil es ein ,westliches‘ Erzeugnis ist, so empfinden wir das als absurd und komisch, denn er gebraucht diese Dinge gar nicht, sondern nimmt sie nur mit Eifer in Besitz, auf kindische Weise und in der Vorstellung der Macht. Der Gegenstand hat hier keine Funktion, sondern eine Tugend, eine Eigenschaft: Er wird zu einem Symbolzeichen. Ist es aber nicht der gleiche impulsive Vorgang einer geistigen Aneignung und magischen Beziehung, den wir beim Zivilisierten beobachten, wenn er ein Gemälde aus dem 16. Jahrhundert oder eine Ikone erwirbt? Was beide, der Wilde und der Zivilisierte, mit einem Objekt an sich nehmen, ist eine ,Tugend‘, die für den einen in der technischen Güte, für den anderen in der Altehrwürdigkeit besteht.“ Möglicherweise liegt darin ein Schlüssel für meine Präferenzen verborgen. SCANDALO IN CONVENTO, das ist ein Film aus einer Welt, die ich kenne, aber nicht besonders mag. Die Stilistik einer pornographischen Video- oder Internet-Ästhetik ist ihm, was niemanden verwundern dürfte, derart eingeschrieben, dass er gar nicht aus ihrer Haut will. SCANDALO IN CONVENTO riecht und schmeckt für mich wie in den Filmkabinen einer Großraumvideothek fallengelassenes Sperma. Dass SOEUR VASELINE das gerade nicht tut, hat wohl einzig und allein mit der Zeit zu tun, die sich unüberwindlich zwischen mir und ihm erstreckt, und die ihn als ein historisches, gleichsam authentisches Dokument markiert, entstanden in einer Wirklichkeit, die so weit von meiner entfernt ist, dass sie auch ein Traum, ein Märchen, eine Phantasie sein könnte. Weiter oben habe ich SOEUR VASELINE schon mit Kinderspielzeug in Verbindung gebracht – und das trotz seines für Kinder nun überhaupt nicht geeigneten Inhalts.

Was SOEUR VASELINE so putzig, unbedarft, infantil wirken lässt, das ist wiederum nichts ihm Immanentes, sondern allein die Perspektive, aus der heraus ich ihn betrachte. Photographien von uns fremden Menschen aus dem, sagen wir, vorvorletzten Jahrhundert regen uns zum Fabulieren an. Wir erfinden Geschichten zu den Personen, die uns erscheinen wie welche aus Büchern, Sagen, Volksliedern. Der Mann mit dem langen Bart, das war bestimmt ein Offizier – und eine tragische, schwärmerische Liebesgeschichte folgt. Das Bauernmädchen, das die Gänse füttert, wird schikaniert von seiner bitterbösen Schwiegermutter, und der adrette junge Herr mit dem Spazierstock kann nur ein verkleideter Prinz sein. Sie sind tot, lange schon, wenn wir ihre Photographien ansehen – so wie keiner der Darsteller von SOEUR VASELINE noch unter uns weilt. Sie sind tot und auf ihren namenlosen Gräbern stehen Steine, die uns regelrecht anflehen, unsere Phantasie auf ihnen herumspringen zu lassen, mit viel Tinte an den Hufen. Nichts dergleichen passiert bei Photographien unserer eigenen Gegenwart. Wer wird schon von irgendeinem x-beliebigen Facebook-Selfie zum Träumen aufgefordert? Wir sind zu vertraut mit unserer Zeit, um in ihr noch irgendwelche großen oder kleinen Mythen zu vermuten. Offiziere, Gänsemägde, Prinzen gibt es nicht mehr, oder sie erzählen uns, wie alle andern, vor dem Schlafengehen noch schnell per Mitternachts-Post, was sie den Tag über gemacht haben und den folgenden Tag machen werden, und schnüren unsere Phantasie auf ein Minimum zusammen.

Genau deshalb ist SOEUR VASELINE für mich wie eine altehrwürdige Kommode, die ich mir ins Zimmer stelle. Dieser Film besitzt keine Funktionalität mehr – ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass sich auf ihn heute noch irgendwer einen runterholt, dann schon eher auf SCANDALO IN CONVENTO, wenn überhaupt -, er ist ein Artefakt, das an Wert gewinnt je weiter zurück es liegt, er ist ein Blick durchs Schlüsselloch ins Schlafzimmer der Ururururgroßeltern.
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Originaltitel: Sesso Profondo

Produktionsland: Italien 1980

Regie: Marino Girolami

Darsteller: Eveline Barrett, Al Cliver, Marcella Petrelli, Donald O'Brien, Venantino Venantini
Mit ZOMBI HOLOCAUST hat Marino Girolami im Jahre 1980 einen meiner liebsten Filme überhaupt gedreht. Diese bunte Groschenromanmischung aus Kannibalen, Zombies, verrücktem Wissenschaftler, Laubwalddschungelkulten, Pathologiediebstählen und zweckentfremdeten Außenbordmotoren schafft es bei jeder neuen Sichtung immer wieder, mein Herz mindestens fünfzig Frequenzen höher zu schlagen – zumal es sich bei dem Werk sozusagen um jene Initialzündung handelte, mit der ich mich im zarten Alter von fünfzehn oder sechzehn mit dem Italo-Virus infiziert hatte: seitdem ist nichts mehr wie es einmal war. Girolami ist zum Zeitpunkt der Dreharbeiten zu ZOMBI HOLOCAUST bereits ein gestandener Mann von knapp Mitte sechzig, der dem italienischen Kino bereits seit den Vierzigern als Regisseur, Drehbuchautor und Produzent zur Verfügung stand, um ihm, zugegebenermaßen, heutzutage zumeist vergessene Filme zu bescheren. Des Weiteren ist Girolami nicht nur der Bruder von Romolo Guerrieri, den man noch für den einen oder anderen unterhaltsamen Sandalenfilm kennt, sondern vor allem der Vater von Ennio Girolami, den man als Nebendarsteller in vielen Genreklassikern erspähen kann, und Enzo G. Castellari, der sicherlich für fast jeden mit der Materie Vertrauten zu der Creme de la Creme italienischer Genreregisseure gehören dürfte. Sehr gespannt bin ich deshalb an SESSO PROFONDO herangegangen, ein weiterer komplett verschollener Film Girolamis, den er, wie es der Zufall will, exakt im gleichen Jahr abgedreht hat wie sein unumstößliches Meistermanifest ZOMBI HOLOCAUST. Dass dieses Werk gespickt ist mit einer illustren Riege Italo-Stars – es spielen in mehr oder minder größeren Rollen mit: Al Cliver, das Zombiefutter in Fulcis ZOMBI 2 sowie L’ALDILÁ, Donald O’Brien, der Stimmbanddurchtrenner aus ZOMBI HOLOCAUST und Venantino Venantini, der besorgte Vater aus PAURA NELLA CITTÁ DEI MORTI VIVENTI -, dass sein Drehbuch, wie das von ZOMBI HOLOCAUST, von Romano Scandariato verfasst worden ist, dass die Musik Walter Rizzati beisteuert und hinter der Kamera Sergio Salvati steht, das alles ließ mich auf einen Schatz zu hoffen, den zu heben ich nicht bereuen würde.

Im Mittelpunkt von SESSO PROFONDO steht eine junge Frau namens Jennifer, die seit Kurzem Tracy mit Nachnamen heißt, denn sie hat den Erfolgsschriftsteller Roman Tracy geehelicht. Zu Beginn des Films befinden die beiden sich auf Hochzeitsreise. Man sitzt in einem gutbesuchten Flugzeug und scheut sich nicht, der gegenseitigen Zuneigung unmissverständlichen Ausdruck zu verleihen, sprich: Jennifer schält den Penis ihres Liebsten aus der Jeans und verpasst ihm unter den, allerdings weitgehend desinteressierten, Augen der übrigen Passagiere einen Hand Job. Kaum jedoch am Ziel der Flitterwochen, St. Domingo, angekommen, herrscht im Ehebett gähnende Öde. Jennifer schafft es einfach nicht mehr, sich zu erregen. Roman schlägt das auf die Stimmung. Er vergnügt sich mit der Haushälterin, die Jennifer zuvor noch gelobt hat, dass sie genauso gut koche wie sie aussehe, und die sie nun, heimlich, mit traurigem Blick dabei beobachten muss wie sie ihrem Angetrauten das gibt, wozu sie nicht mehr in der Lage ist. Jennifer möchte ihrer Frigidität auf den Grund kommen und konsultiert einen Psychoanalytiker. Der ist ein Meister seines Fachs, den eine flüchtige Hypnosesitzung später hat er schon das Geheimnis seiner Patienten gelüftet. Ein Kindheitsereignis trägt die Schuld an Jennifers Misere. Damals soll ein Cousin ein Spielzeugflugzeug geschenkt bekommen haben, auf das die kleine Jennifer derart eifersüchtig gewesen ist, dass ihr Cousin sie schließlich zu trösten versuchte, indem er ihren jungen Körper streichelte und ihr das begehrte Objekt mit dem Cockpit voran in die Vagina einführte. Durch den heißen Sex in der Maschine gen Dominikanische Republik sei, so der Psychoanalytiker, Jennifers Unterbewusstsein an diesen frühen sexuellen Kontakt erinnert worden und weigere sich nun, sie anderswo geil zu werden als eben in einem vom Boden abgehobenen Flugzeug. Was liegt nun also näher, als dass Jennifer, den Affären Romans sowieso überdrüssig, beschließt, Stewardess zu werden? Eine lange Ausbildung steht ihr bevor, die sich vor allem zu einer Erkundungsreise ihrer eigene Sexualität entwickelt, denn nicht nur Roman möchte sie gerne wieder für sich gewinnen, ebenso sind ihre ständig mannstollen Kolleginnen scharf auf sie und natürlich ihr Ausbilder, der nichts anbrennen lässt, was nur einen leichten Funken gefangen hat.

Nein, der Titel SESSO PROFONDO verspricht tatsächlich nicht zu viel. Primärziel dieses Films ist es, neben seiner hauchdünnen, hanebüchenen Geschichte, vor allen Dingen eine Sexszene an die nächste zu heften, ohne dass zu irgendeinem Zeitpunkt der Eindruck erweckt werden würde, es ginge Girolami und seinem Team um wesentlich mehr als das. Die Story könnte, zumal, wenn man das Lokalkolorit von St. Domingo hinzurechnet, durchaus von Joe D’Amato auf einen Bierdeckel notiert worden sein. Sie gibt sich ernst, tragisch, manchmal sogar melodramatisch, und verwehrt sich gegen jegliche komödiantischen Anflüge. Wenn ich mich recht entsinne, gibt es genau eine Szene, die witzig gemeint ist, und durch ihre alberne Art ziemlich aus dem sonst ziemlich strengen Rahmen fällt. Was die technischen Aspekte betrifft, ist SESSO PROFONDO höchstens unterer Standard. Salvatis Talent, ansprechende Bilder zu komponieren, das er unter anderem später bei den Splatter-Fulcis unter Beweis stellen sollte, kommt exakt gar nicht zum Ausdruck, die Musik von Herrn Rizzati hat meine Nerven nicht wirklich geschont, und dass Hauptdarstellerin Eveline Barrett offenbar weder zuvor noch danach jemals wieder in einem Film, ob nun Porno oder nicht, in Erscheinung getreten ist, wundert mich eigentlich kein bisschen.

Da SESSO PROFONDO im Prinzip einzig auf das Bebildern von Geschlechtsakten aus ist, widme ich diesen nunmehr einen ganzen Absatz. Meine Vermutung ist folgende: Girolami hat SESSO PROFONDO ursprünglich als Softsexfilm heruntergekurbelt, später ist er mit mehreren Hardcore-Szenen bestückt worden, die man entweder extra hierfür nachgedreht hat oder die aus anderen Kontexten zusammengeklaubt worden sind. Wie ich darauf komme? Nun, eine typische Kopulation in SESSO PROFONDO läuft wie folgt ab: ein Mann und eine Frau, sagen wir: Al Cliver und Eveline Barrett, fühlen sich zueinander hingezogen, beginnen zu knutschen und sich aufeinander zu legen. Die Kleidungsstücke werden oft anbehalten, nicht bloß bei den Männern, auch bei den Frauen. Man wälzt sich, Stöhnen ertönt, schlimme Pornomucke umrahmt das Ganze. Zwischengeschnitten sind immer wieder close ups auf Genitalien. Ein Frauenmund bläst auf einem Männerschwanz. Ein Penis wird in eine Vagina geschoben. Samen tropft auf einen Frauenhintern. Niemals sehen wir die Darsteller, wie zum Beispiel eben Cliver und Barrett, gemeinsam mit diesen Genitalien im Bild, sprich: es ist offensichtlich so, dass es sich bei ihnen nicht um die ihren handelt. Besonders deutlich wird, was ich meine, in einer seltsamen Szene, in der Jennifer von einer anderen Stewardess verführt werden soll, die vermutet, ihre mangelnde Lust beruhe auf einer unterdrückten homoerotischen Komponente. Steif wie ein Brett liegt Jennifer da, immun gegen alle lesbischen Liebkosungen. Ihre Kollegin wirft sich schließlich schnaubend auf die Seite. Zusammenhanglos wird nun zur Großaufnahme einer Vagina bei der Selbstbefriedigung geschnitten bevor die Handlung, nach einem weiteren Schnitt, einfach weitergeht. Wer genau da nun masturbiert hat, ob Jennifer oder ihre erfolglose Verführerin, bleibt ungeklärt. Alles in allem muss ich dem Sexappeal von SESSO PROFONDO bescheinigen, dass er schlicht nicht vorhanden ist. Schmuddelig, billig, unerotisch werden, wie gesagt, schlecht Geschlechtsakte vortäuschende Schauspieler mit Genitaliengroßaufnahmen zusammengewürfelt, ohne dass das Endergebnis mehr befriedigen würde als die nun wirklich aufs absolute Minimum heruntergefahrenen Triebinstinkte von jemandem, der sexuell derart ausgehungert ist, dass ihn selbst ein Andrea-Bianchi-Porno in Verzücken versetzt. Nein, für mich ist diese Art von Filmen nichts, und ich fühle mich unwohl dabei, und kann mich nur darüber wundern, dass er hierfür einen Markt gab oder gibt, und dass so etwas tatsächlich jemanden anturnt oder angeturnt haben soll.

Wenn SESSO PROFONDO wenigstens so bizarr wäre wie beispielweise ein PORNO HOLOCAUST. Aber nein, Girolami wählt, wie bereits erwähnt, einen sehr biederen Weg, um seinem Publikum diese überaus haarsträubende Chose zu verkaufen, bei der kaum etwas wirkt, als würde es miteinander zusammenpassen. Gerade das angebliche Hauptthema, nämlich Jennifers Abheben in Lüfte und Lüste, spielt eine irgendwie reichlich nebensächliche, letztlich austauschbare Rolle. Wenn man in Betracht zieht, wie viel Zeit der Film mit den Ereignissen in St. Domingo, die kaum etwas mit der eigentlichen Handlung zu tun haben, totschlägt oder damit, Jennifer immer wieder voyeuristisch irgendwelchen Bekannten dabei zuschauen zu lassen wie sie der Fleischeslust frönen, wird schnell klar, wo die Stoßrichtung dieser minderwertigen Ergusshilfe liegt: Jennifers Traum vom Fliegen ist pures Mittel zum Zweck, etwas, mit dem man die Lücken im Drehbuch ausstopfen kann, ein ungewöhnlicher Aufhänger für gewöhnliche Sexszenen, die man so oder so ähnlich in jedem italienischen Porno der frühen 80er zu sehen bekommen kann – sofern man das denn unbedingt will.

Immerhin eine einzige Szene hat meine Stimmung ein wenig aufgehellt, und das nicht nur wegen Donald O’Brien, der darin Al Clivers Verleger Slider darstellt. Beide Ehepaare, die Sliders und die Tracys, befinden sich auf einer Jacht, dösen in der Sonne, tun nichts als Nichtstun. Da trifft der Stachel der Wollust Frau Slider, die die Gunst der Stunde, nämlich das Schlafen ihres Ehemanns und Jennifers, nutzt, um sich an Roman heranzumachen. Der steigt, ausgehungert durch Jennifers mangelnde Sexbereitschaft, in der Unterdeckkajüte in doppelter Hinsicht darauf ein, sodass man oben an Deck heisere Schreie hören kann. Slider beruhigt die dadurch wachgewordenen Jennifer. Er kenne das schon, sagt er. Seine Frau werde immer seekrank, selbst bei einer Spazierfahrt wie dieser. Sie übergebe sich bloß, das sei alles. Ob der Scherz nun intendiert war oder nicht: ich musste lachen über ihn. Ansonsten breite ich das Mäntelchen des Schweigens über SESSO PROFONDO und mache es wie der Katholische Filmdienst: ich rate ab!
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Produktionsland: Italien 1976

Regie: Luigi Cozzi

Darsteller: Pamela Villoresi, Richard Johnson, Marian Antonietta Beluzzi, Lucia D'Elia
Ich würde Luigi Cozzis Oeuvre grob in insgesamt vier Phasen unterteilen, deren letzte nicht nur die umfangreichste ist, sondern wohl auch die, mit der Cozzis Name von den meisten Menschen gemeinhin gleichgesetzt wird. Diese vierte Phase beginnt für mich mit dem berühmt-berüchtigten STAR-WARS-Rip-off STARCRASH (1978) sowie dem ziemlich exzellenten Science-Fiction-Horror-B-Movie CONTAMINATION (1980), setzt sich fort in den muskelbepackten und vernunftlosen Abenteuern von Lou Ferrignos HERCULES bzw. SINBAD in den 80ern und mündet schließlich in zwei Filme, mit denen Cozzi am Ende der Dekade so etwas wie ein Resümee des im Niedergang begriffenen italienischen Horrorfilm zieht: PAGANINI HORROR (1989) und IL GATTO NERO (1989). Alle diese Filme eint nicht nur, dass man sie mehr oder minder dem Genre des Phantastischen Films zuordnen kann, sie sind ebenfalls phantastisch darin, sich von sämtlichem intellektuellen Ballast freizuschwimmen und das Spiel mit Topoi, Strukturen, Formen in zwar dekonstruktivistischer, jedoch ungebrochen kindlicher Weise zu betreiben.

Für den Luigi Cozzi ab STARCRASH dient ein im Grunde feststehender bzw. festgefahrener Begriff wie beispielweise Genrekonvention für Operationen, die sich in zwei auf den ersten Blick widersprüchlichen Bewegungen manifestieren. Zum einen in einer, die zum Genre hinführt, es in aller Überschwänglichkeit umarmt, es feiert wie einen überladenen Kindergeburtstag, bei dem die Erwachsenen (und ihre Rationalität) irgendwann mit bunten Holzbauklötzen erschlagen werden. Einem Film wie HERCULES (1983) ist das freudige Grinsen einfach anzusehen, mit dem da jemand einfach so tut, als stecke das Kino noch in seinen Kinderschuhen und habe in den letzten knapp einhundert Jahren seines Bestehens nicht schon längst seine Unschuld verloren. Im besten Sinne sind Cozzis Filme nach 1978 welche, die noch nicht mal ihre Pubertät erreicht haben. Statt Bartwuchs, Testosteron und erster nächtlicher Pollution bieten die Jungenträume in SINBAD OF THE SEVEN SEAS (1989) Zusammengesuchtes aus dem reichhaltigen Fundus der Trivialliteratur. Ein Held braucht keine Psychologie, sondern einzig und allein Muskeln. Eine Frau muss hübsch aussehen und schmachten können, das reicht. Der Schurke darf nicht nur, sondern muss eine derart fiese Lache besitzen, dass es bereits die Grenzen zur Selbstparodie übersteigt. Zugleich aber kommt Cozzi nicht umhin, das reflektierende Bewusstsein, das er als erwachsener Mann im Europa der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts nun einmal in die Wiege gelegt bekommt hat, nicht vollständig ausschalten zu können. So naiv die Oberflächen seiner Filme scheinen mögen, so raffiniert ist sein Umgang mit Zitaten, Versatzstücken, Selbstbezüglichkeiten – und teilweise, wie in STARCRASH, ganzen Szenen, die er anderen Filmen entnimmt und seinen eigenen integriert. Bestes Beispiel dafür, dass Cozzi, ähnlich wie die deutschen Romantiker um 1800, vor dem Problem steht, einen kindlichen Animismus nicht einfach nur reaktivieren zu können, sondern diesen Reaktivierungsprozess mit einem in gewisser Weise ironischen Gestus begleiten muss, um ihn überhaupt zur Durchführung bringen zu können, ist wohl nach wie vor IL GATTO NERO, der kurzerhand beinahe die komplette italienische Horrorfilmgeschichte recycelt, reflektiert und revidiert, und, quasi nebenbei, auch noch als innoffizieller Abschluss von Argentos Mütter-Trilogie funktioniert.

Im Jahre 1976 ist die Filmwelt des knapp Dreißigjährigen jedoch noch eine ein bisschen andere. Hinter ihm liegen zu diesem Zeitpunkt bereits zwei Spielfilme. IL TUNNEL SOTTO IL MONDO (1969) zeigt Cozzi im zarten Alter von Zwanzig auf dem Höhepunkt seiner Kreativität. Nicht nur völlig außerhalb der kommerziellen Filmindustrie, sondern regelrecht mit dem Rücken zu ihr, inszeniert Cozzi mit Freunden und Bekannten, ohne nennenswertes Budget, jedoch einem Füllhorn an verrücktesten Ideen einen Film, der sich mittlerweile für mich zu einem der Glanzstücke der italienische Filmavantgarde Ende der 60er gemausert hat. Nur vordergründig ist IL TUNNEL SOTTO IL MONDO ein Science-Fiction-Film über Zeitschleifen, die Unausweichlichkeit des Schicksals und Machtmechanismen, die Menschen zu bloßen Robotern degradieren – zumal seine Handlung in der knappen Stunde, die er dauert, sowieso alsbald derart auseinanderfällt, dass man sich ganz dem eigenwilligen Bilderrausch hingeben kann, mit dem Cozzi es schafft, aus einem Minimum an (ökonomischen) Mitteln ein Maximum an (ästhetischen) Effekten zu gewinnen. Während IL TUNNEL SOTTO IL MONDO niemals offiziell veröffentlicht worden ist und daher wohl nur von den eingefleischtesten Cozzi-Fans gesehen worden sein dürfte, gilt die Phase, die ich als seine zweite bezeichnen würde, unter Genre-Fans wohl als die, in der er die überzeugendsten künstlerischen Leistungen vollbracht hat. Unter der Ägide Dario Argentos inszeniert Cozzi eine Folge für dessen vierteilige TV-Serie LA PORTA SUL BUIO (IL VICINO DA CASA (1973)) und, zwei Jahre später, den vorzüglichen Giallo L’ASSASSINO E COSTRETTO AD UCCIDERE ANCORA.

Das Jahr 1976 sieht ihn dann offenbar an einem Scheideweg. Es ist beiden Filmen, die er in diesem Jahr dreht, ziemlich offensichtlich anzumerken, dass sie von jemandem stammen müssen, der etwas Neues ausprobieren möchte, vielleicht sogar ein wenig die Orientierung verloren hat, und sich nun tastend an Stoffe heranwagt, die sich fundamental von denen unterscheiden, an denen er sich bislang abarbeitete. LA PORTIERE NUDA, eine erotische Komödie, und DEDICATO A UNA STELLA, ein Liebesdrama, präsentieren Cozzi innerhalb zweier Genres, mit denen er weder zuvor noch jemals wieder danach Tuchfühlung aufnehmen wird.

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Abb.1: Die Frau in ihrer altbekannten Musenrolle als Stichwortgeberin für den schöpferisch tätigen Mann. Kaum streift Stella Richards Umlaufbahn, läuft es auch wieder mit den kompositorischen Höhenflügen.

DEDICATO A UNA STELLA. Einem Stern gewidmet. Was für ein Zufall, dass unsere zarte sechzehn Lenze zählende Protagonistin auf den Vornamen Stella hört - (und was für eine Überraschung, dass Cozzi in vorliegendem Werk nicht die Geschichte eines fernen Planeten voller abstruser Aliens besingen möchte)! Zu Beginn des Films hat es besagte Stella auf die malerische Insel Mont-Saint-Michel an der französischen Atlantikküste verschlagen. Unerklärliche Ohnmachtsanfälle, die von Zeit zu Zeit über sie kommen, treiben sie in eine Arztpraxis, dort will sie dann aber so schnell wie möglich wieder fort, weswegen sie dem Doktor, ohne überhaupt ihre Untersuchungsergebnisse vernommen zu haben, eine folgenreiche Lüge auftischt: draußen, im Wartezimmer, säße ihr Vater, sie würde ihn nur kurz holen gehen. In Wirklichkeit sitzt dort jedoch der reichlich heruntergekommene Ex-Pianist Richard, ein etwa fünfzigjähriger Brite, der, nachdem Stella aus der Praxis entwischt ist, von ihrem behandelnden Arzt tatsächlich für ihren Vater gehalten wird und daher statt ihr die Nachricht serviert bekommt, das Mädchen leide an Leukämie und habe bloß noch etwa drei Monaten zu leben. Zufällig treffen sich Richard und Stella, die sich in der Praxis bloß flüchtig gesehen haben, später an der Küste wieder. Stella scheint einen Narren an dem grimmig dreinschauenden, wortkargen Mann gefressen zu haben, drängt sich ihm in erstaunlicher Penetranz auf – erst recht, als sie erfährt, dass er das gleiche Reiseziel, ein kleines Städtchen in der Bretagne, hat wie sie. Richard wiederum ist von dem pausenlos plappernden, aufgedrehten Gör zwar sichtlich genervt, bringt es aber, aufgrund seines Wissens über ihren drohenden Tod, nicht übers Herz, sie allzu brüsk von sich zu weisen. Gemeinsam tritt man also die lange Busreise an, bei der Stella ungefragt ihre Lebensgeschichte erzählt. Sie stamme aus Belgien, ihre Mutter sei kürzlich verstorben, und ihre Reise nach Frankreich diene dem Zweck, ihren Vater zu finden, der sich aus dem Staub machte noch bevor sie irgendeine Erinnerung an ihn hätte haben können. Nur so viel hat sie herausbekommen: er soll ein Häuschen in besagtem Bretagne-Ort haben, und dahin sei sie nun unterwegs, denn sonst gäbe es keinen anderen Platz auf der weiten Welt, wo sie hinkönne. Das alles trägt sie beschwingter vor als man beim Inhalt ihrer Worte vermuten könnte, während Richard darüber einschläft und Cozzis Kamera sich viel Zeit dabei lässt, die wunderhübsche Normandie-Landschaft außerhalb der Busfensterscheiben zu filmen.

Man mag vielleicht schon vermutet haben, worauf das Zusammentreffen dieser beiden unterschiedlicher Charaktere hinausläuft, mir hat es indes dennoch ein reichlich seltsames Gefühl beschert, als Stella schon wenige Szenen später behauptet, in heißer Liebe zu dem mindestens drei Dekaden älteren Mann, der tatsächlich ihr Vater sein könnte, entbrannt zu sein. Seltsamer ist da wohl nur noch, dass Richard, obwohl er sich anfangs noch gegen die vermeintliche Liebe der Sechzehnjährigen sträubt, nachdem man mehrere Tage miteinander verbracht hat, einknickt und keine Einwände mehr dagegen vorbringt, ein Bett mit ihr zu teilen. Ganz unschuldig ist seine Hauswirtin Simone, bei der sie kurze Zeit unterkommen, jedoch nicht: die greise Dame drängt unsere Helden förmlich in eine körperliche Beziehung hinein, ohne dass sie selbst irgendeinen Vorteil davon hätte oder die Handlung das in irgendeiner Form rational erklären würde. Aber Gefühle – und schon gar nicht die der Liebe – sind eben nicht mit menschlicher Logik zu entschlüsseln, und so muss der Betrachter es einfach als Fakt hinnehmen, dass noch keine halbe Stunde von DEDICATO A UNA STELLA vergangen ist, und sich der zunehmend lockerer und aufgeschlossener werdende Pianist und das zunehmend nervtötender und alberner agierende Mädchen bereits auf eine gemeinsame Partnerschaft einlassen. Schließlich findet man über all dem Liebesgeplänkel auch das Häuschen von Stellas Vater, der ist allerdings ausgeflogen, und zwar nach Paris, wo er seinen Hauptwohnsitz hat. Immerhin setzt sich Richard zwischen den vier Wänden von Stellas Erzeuger zum ersten Mal seit langer Zeit wieder an einen Flügel, und spielt auf Anhieb derart hinreißend, dass Stella sich vor Entzücken kaum noch halten kann. Der weitere Weg unserer Liebenden ist von nun an vorprogrammiert: man fährt nach Paris, streitet sich zwar zwischendurch mal heftig, größtenteils ist aber alles in Butter, der Altersunterschied, der zwischen ihnen klafft, wird weder von der sie umgebenden Gesellschaft noch von ihnen selbst jemals nennenswert thematisiert, Richard beginnt, inspiriert von seiner neuen Muse, seine Pianistenkarriere wiederaufzunehmen und Stella streicht ihren Papa endgültig aus ihrem Herzen, als sie herausfindet, dass er längst eine neue Familie, kleine Kinder, ein Leben hat, in dem sowieso kein Platz für sie wäre. Doch Stellas Erkrankung schwebt, vom Drehbuch zeitweise vollkommen vergessen, nach wie vor wie ein Damoklesschwert über dem jungen Glück, und lässt, gerade als es für unsere Helden am prächtigsten läuft, nicht darauf warten, das Liebesmärchen in eine waschechten Liebestragödie zu verkehren.

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Abb.2: Le Mont-Saint-Michel: ein Ort, den ich wohl für immer mit Guy de Maupassants Kurzgeschichte LA LÈGENDE DU MONT-SAINT-MICHEL (1882) verbinden werde.

Was bei DEDICATO A UNA STELLA zuallererst nicht nur sprichwörtlich ins Auge sticht, ist seine weichgezeichnete, lichtdurchflutete Optik. In diesem Film gibt es keine Schatten, überall bricht sich ein blendendes Gegenlicht Bahn, die Konturen von Menschen und Gegenständen sind verschwommen, als stünden sie kurz vor ihrer Auflösung. Impressionistische Poesie ist das jedoch nicht für mich, sondern eher der immerhin gutgemeinter Versuch, DEDICATO A UNA STELLA einen distinktiven, arthouse-igen Look zu verpassen, der letztlich an seinen zu hochgesteckten Ambitionen scheitert. Ja, dieser Film sieht hübsch aus, doch daran hat man sich nach spätestens dreißig Minuten sattgesehen, und dann reicht hübsch leider nicht mehr, mich bei der Stange zu halten – einmal ganz abgesehen davon, dass die meisten Bildkompositionen nicht wirklich originell wirken, und der Film, sobald die Handlung nach Paris gewechselt hat, ohne beeindruckende Landschaften auskommen muss, für die die irgendwie sterilen, klinischen Innenaufnahmen von Stadtwohnungen natürlich kein vollwertiger Ersatz sind.

Was bei DEDICATO A UNA STELLA zuallererst nicht nur sprichwörtlich ins Ohr sticht, ist der Score vom verdienten Stelvio Cipriani, dem man nicht nachsagen kann, er würde irgendetwas anbrennen lassen. Flötchen, Glöckchen, Frauensummen, Akkordeonmelodien, am Ende ein volles Orchester, das noch die rührendste Szene mit einem derart dichten Kitsch zukleistert, dass es mir fast schon Spaß gemacht hat, zuzuhören bzw. zuzuschauen wie die vergleichsweise nackten Bilder unter dem in tausend bunte Roben gehüllten Soundtrack förmlich in sich zusammenbrechen, da sie ihm einfach nicht die Stirn bieten können. Es gibt kaum eine Szene in DEDICATO A UNA STELLA, in der Cipriani nicht irgendeine wunderliche Idee anbringen dürfte. Ein beständiger Wohlklang schwebt über diesem Film, sodass die wahre Tragik der Geschichte kaum einmal zum Zuge kommt. Folgerichtig endet DEDICATO A UNA STELLA in einem großen Live-Auftritt Richards, bei dem dieser das Sterben Stellas am Klavier begleitet. Falls es so etwas geben sollte, dann ist das ein Film primär für die Ohren, erst sekundär für die Augen.

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Abb.3: Licht, wohin man schaut: Gerade in den Innenaufnahmen scheint es, als sei die äußere Welt völlig von einem grellen Leuchten verschlungen.

Was bei DEDICATO A UNA STELLA zuallererst nicht nur sprichwörtlich in den Verstand sticht, ist das von Cozzi mitverantwortete Drehbuch, dem es selten gelingt, das Verhalten der Figuren nachvollziehbar und plausibel darzustellen. Weshalb verliebt Stella sich Hals über Kopf in einen ihr komplett fremden, zudem auch noch mürrischen, zynischen Mann? Man könnte mal wieder Freud bemühen und ihrer Psyche andichten, sie suche in dem weitaus älteren Herrn den Vater, der ihr ihr ganzes Leben lang gefehlt hat – damit wäre jedoch die Art und Weise torpediert, mit der Cozzi die Liebe der beiden im Folgenden als wahrhafte Romanze inszeniert. Während ein heutiges Publikum aufgrund der Tatsache, dass da ein Fünfzigjähriger mit einer Sechzehnjährige kopuliert – obwohl Cozzi uns jedwede Sexszene erspart: um genau zu sein gibt es im ganzen Film gerade mal ein einziges leidenschaftlicheres Küsschen zwischen Richard Johnson und Pamela Villorosi -, sicher mehrmals schlucken muss, scheint es im Italien der 70er das Normalste von der Welt zu sein, was sich allein im Verhalten der (wenigen) Menschen zeigt, die von Richards und Stellas Liebe erfahren, und nicht ansatzweise irgendetwas Befremdliches an ihr finden. Positiv hätte immerhin sein können, dass Cozzi den Fokus seines Films ganz auf das Verhältnis der Liebenden zueinander richtet. Minimalistisch, völlig ohne Subplots, bis auf Richards ehemalige Hauswirtin Simone sogar ohne nennenswerte Nebenfiguren kommt DEDICATO A UNA STELLA aus, und webt die Liebesgeschichte seiner Helden damit in eine Seifenblase, in der soziale Realitäten sowieso nichts zu sagen haben. Leider versteht Cozzi es aber nicht, diese Liebesgeschichte, gerade nachdem man sich in Paris niedergelassen hat, kontinuierlich interessant in Szene zu setzen. Viel Leerlauf gibt es vor allem in der letzten halben Stunde, viele Szenen, in denen Richard minutenlang am Klavier sitzt, Stella minutenlang durch die französische Metropole läuft usw. Etwas Straffung hätte notgetan, um mich nicht im letzten Drittel etwas unruhig im Sesselpolster hin und her rutschen zu lassen.

Was bei DEDICATO A UNA STELLA außerdem auffällt, ist, wie zahm, wie konventionell, wie völlig ohne die subversiven Ausreißer, die man sonst von ihm kennt (und erwartet), Cozzi bei diesem Filmchen verfährt. DEDICATO A UNA STELLA wäre wohl der einzige Film Cozzis, den ich problemlos meiner Mutter oder sogar Großmutter zeigen könnte, ein Film, der niemandem wehtut, der einfach nur eine simple, naive Geschichte erzählt, der alsbald vergessen ist, nachdem er einem für neunzig Minuten das Herz erwärmt hat. Damit ist DEDICATO A UNA STELLA wohl ebenso der Film Cozzis, der am meisten den Standards des bürgerlichen Kinos entspricht. Wie gesagt: Gesellschaft, Politik, all das, was unser Leben, ob wir es wollen oder nicht, tagtäglich bestimmt, spielt in Cozzis Paralleluniversum keine Rolle. Das tut es zwar auch in seinen anderen Filmen nicht, doch schreit mir vorliegender geradezu danach, dass er wesentlich spannender, substanzvoller geworden wäre, hätte Cozzi wenigstens irgendwelche sozialen Probleme angedeutet, die Richard und Stella aus ihrer ungleichen Liebe erwachsen würden. Letztendlich ist es für die reine Story nämlich völlig unerheblich, ob Stella sechzehn oder sechsundzwanzig ist, und Richard fünfzig, vierzig oder dreißig. Wenn Cozzis Spätwerk einer Revolution gleicht, dann ist DEDICATO A UNA STELLA das zufriedene Abendessen von Menschen, die für nichts mehr kämpfen müssen und sowieso keine Lust mehr darauf haben. Ihr einziger Feind: ein Blutkrebs, gegen den man eh keine Chance hat.

Da es in fast jedem Film für mich mindestens eine Szene gibt, die mich nachträglich beschäftigt, möchte ich abschließend (und trotz aller negativer Worte) die drei vorstellen, die es bei DEDICATO A UNA STELLA gewesen sind:

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Abb.4: Ein Kavaliersdelikt: Richard entschuldigt sich bei Stella dafür, dass er ihr beinahe den Wangenknochen gebrochen hat.

1. Ein einziges Mal verliert Luigi Cozzi seine gutbürgerliche Maske und der Film damit einhergehend seine Fassung. Richard und Stella streiten sich am Strand. Erneut provoziert sie ihn mit blöden Sprüchen und albernem Gehabe. Diesmal reicht es Richard und er gibt ihr eine Ohrfeige. Aber nicht eine Ohrfeige von der Sorte, die kurz aufblitzen und dann schon nicht mehr wehtun, sondern eine Ohrfeige, in die er seine gesamte Körperkraft legt. Sie reicht aus, Stella im wahrsten Wortsinn den Boden unter den Füßen verlieren zu lassen. So heftig wird ihr ins Gesicht geschlagen, dass sie umfällt, nur um dann, keine Sekunde später, schon einen knienden Richard neben sich zu haben, der sich bei ihr entschuldigt und besorgt fragt, ob alles in Ordnung sei. Stella indes hat noch immer nicht genug von ihren Faxen. Wie ein kleines Kind läuft sie vor Richard davon, zieht Grimassen, verhöhnt ihn, kreischt herum. Für einen kurzen Moment dachte ich da echt, dass gleich die Fassade dieses Films herabrutscht und irgendwelche haushohen Monstren auftauchen, gegen die sich unsere Helden die kommende Stunde zur Wehr setzen müssen.

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Abb.5: Mhm, das schmeckt! Lucia D'Elia schlägt sich das Bäuchlein voll.

2. Als Richard und Stella bei Simone zu Gast sind, lernen wir auch deren Töchterchen kennen. Gespielt wird sie von niemand Geringerem als Lucia D’Elia, die dem geneigten Genrefreund als unglückliche Tramperin und spätere zerstückelte Frauenleiche in D’Amatos BUIO OMEGA ein Begriff sein dürfte. In DEDICATO A UNA STELLA hat sie keine Sprech-, sondern einzig eine Fressrolle. Beim Frühstück sitzt Richard ihr gegenüber und schaut fassungslos dabei zu wie das Mädchen sich den Mund mit allerlei Köstlichkeiten vollstopft. Dazu serviert ihre Mutter ihr immer neue Leckereien, die sie genüsslich von den Tellern mampfen kann. Was genau Cozzi mir damit sagen möchte, weiß ich nicht, denn für die Handlung des Films hat Frau D’Elias kulinarischen Exzess rein gar nichts beizutragen, gerade deshalb war das aber ein weiterer dieser Momente, bei denen ich das Gefühl hatte, ich solle vom handzahmen Aussehen des Films in einen ironiegesättigten Hinterhalt geführt werden.

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Abb.6: Kühe auf einer Weide, verwaschen vom Fahrtwind.

3. Ganz zu Beginn, während Stella und Richard im Bus durch die Normandie fahren, findet sich ein ganzer Strang von Szenen, die einfach nur die Landschaft außerhalb des Transportmittels zeigen. Kühe stehen auf Weiden herum wie Kühe das eben tun, und alte Bauernhäuser stehen am Straßenrand herum wie alte Bauernhäuser das eben tun, und verwinkelte Altstadtgassen fehlen ebenso wenig wie pittoreske Meeresausblicke. Im Jahre 1960 schreibt Siegfried Kracauer: „Indem der Film die physische Realität wiedergibt und durchforscht, legt er eine Welt frei, die niemals zuvor zu sehen war, eine Welt, die sich dem Blick so entzieht wie Poes gestohlener Brief, der nicht gefunden werden kann, weil er in jedermanns Reichweite liegt. […] So merkwürdig es klingt: Straßen, Gesichter, Bahnhöfe usw., die doch vor unseren Augen liegen, sind bisher weitgehend unsichtbar geblieben.“ Diese „Errettung der physischen Realität“ hat Cozzi für mich in seinen Fahrtaufnahmen nahezu physisch spürbar gemacht. Es ist, als führe ich selbst durch französische Kleinstädte und Dörfer, die heute mit Sicherheit nicht mehr so aussehen wie 1976. Es ist, als sei die Zeit in einer Momentaufnahme konserviert. Es geht nicht nur um diese Kühe, um diese Bauernhäuser – die sind lange verfallen und längsst geschlachtet -, es geht darum, dass mir zum ersten Mal bewusst geworden ist, wie das eigentlich aussieht – und zwar nicht wahrgenommen mit dem eigenen Augenpaar -, wenn eine Kuh auf einer Weide steht, und man in einem Bus oder einem Auto an ihr vorbeifährt. Mit Cozzis Film hat das freilich nur noch bedingt was zu tun.
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

Beitrag von Salvatore Baccaro »

THE CURSE OF FRANKENSTEIN zündet 1957 wie eine Bombe. Zum ersten Mal ist eine der klassischen, von den US-amerikanischen Universal Studios in den frühen 30ern etablierten Horrorgestalten in Farbe auf der Leinwand zu sehen. Dennoch stellt THE CURSE OF FRANKENSTEIN nicht einfach bloß einen bunten Neuaufguss des James-Whale-Films dar, in dem Boris Karloff dem künstlich erzeugten Monstrum seinen Körper lieh. Wohl nicht zuletzt wegen der Drohung Universals, Hammer vor Gericht zu zerren, sollten sie auch nur ein Detail ihrer Frankenstein-Interpretation von 1931 wiederverwenden, haben die Briten nicht nur mehr eigene Ansätze verfolgt als bereits Bekanntes kopiert, sondern sowohl die Originalgeschichte Mary Shelleys als auch das, was daraus in der Fassung von James Whale geworden ist, völlig auf den Kopf gestellt. Letztlich wird THE CURSE OF FRANKEINSTEIN ein solche Erfolg, dass Hammer sein Programm von nun an fast ausschließlich auf ähnlich gelagerte gotische Schocker umstellt. Mit den quasi über Nacht zu Stars des Horrorfilms avancierten Darstellern von Dr. Frankenstein, Peter Cushing, und seinem Monster, Christopher Lee, sowie unter der erprobten Regie von Terence Fisher, mit einem Drehbuch von Jimmy Sangster und einem Soundtrack von James Bernard dreht man schon im Folgejahr eine weitere Eigeninterpretation zu einem bis dahin eng mit der Visualisierung durch die Universal Studios verbundenen Schauer-Mythos, nämlich den des Grafen Dracula.

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Abb.1-4: Genese eines Schlosses: (1) Die Burg Oravský in der heutigen Slovakei, die F. W. Murnau sich für Nosferatu, gemäß seines romantischen Naturalismus, als Kulisse ausgeguckt hat. (2) Schon in der US-amerikanischen Fassung der Universal von 1931 - sowohl bei der von Tod Browning gedrehten englischsprachigen als auch bei der spanischsprachigen Version von George Melford - ist das Schlösschen des Grafen nichts weiter als ein matte-painting, d.h. ein Kulissenteil, der seinerzeit auf Glas gemalt und mit den reellen Bildbestandteilen - in diesem Fall: der im Vordergrund fahrenden Kutsche - zusammengebracht wurde - zudem in der einzigen Szene, in der es auftritt, kaum zu erkennen und eher eine schwarze unförmige Masse, die sich nicht leicht von den sie umgebenden Gebirgsformationen abgrenzen lässt. (3) Klarer sieht man bei Mehmet Muhtars türkischer Variante DRAKULA ISTANBUL'DA von 1953, dass es sich "nur" um ein künstlich erzeugtes Bildchen handelt - dafür scheinen aber die ins Bild ragenden Ästchen echt zu sein, und genauso echt ist der Nebel, der über dem schaurigen Domizil wabert, denn da man sich aus Budgetgründen keine Trockeneismaschine leisten konnte, haben die Verantwortlichen einfach einen Haufen Techniker zusammengetrommelt und sie Unmengen von Zigarretten paffen lassen, deren Rauch sie danach ins Bild pusteten, und schon ist sie fertig, die transsilvanische Nebelbank! (4) Gesehen durch die Augen der britischen Hammer-Filmstudios erinnert mich das Ganze eher an den Himalaya, und zugleich ist dieses Schloss wohl das mit Abstand besucherfreundlichste, wohl auch deshalb, weil wir es stets bei Tage zu sehen bekommen und nicht, wie seine Vorgänger, nur in finsterster Nacht.

Auch bei DRACULA stellt Hammer die Originalgeschichte ihres Landmanns Bram Stoker von den Füßen auf den Kopf, sodass ihr fast alles, was sie ursprünglich ausmacht, aus den Taschen purzelt. Fünf Jahre nach der bis dato romantreusten Verfilmung, dem türkischen DRAKULA ISTANBUL’DA, dessen Variationen minimal sind im Vergleich zu den teilweise drastischen Eingriffen, die die 1931er Fassung der Universal in beiden Sprachversionen und Murnaus unautorisierter NOSFERATU sich leisteten, liefert der 58er DRACULA die Stoker-Adaption mit der höchsten kreativen Eigenleistung. Drehbuchautor Jimmy Sangster orientiert sich zwar grob an der Struktur des Romans in dem Sinne, dass er die Geschichte im gräflichen Schloss beginnen, den Sauger dort anhand eines von seinem Besucher Harker mitgebrachten Portraits von dessen Verlobter in rasender Leidenschaft zu dieser entbrennen und daraufhin sein Domizil verlassen lässt, um sie zu seiner Braut zu machen, ansonsten wirkt sein Umgang mit dem zugrundeliegenden Text, als wolle er ihn so weit wie möglich gegen den Strich bürsten. Das fängt schon bei der Grundprämisse an, die die Handlung überhaupt erst in Gang setzt. Bei Stoker – und bislang in jeder Verfilmung – reist Jonathan Harker (bzw. Hutter bei Murnau, Renfield bei Browning/Melford, Azmi bei Mehmet Muhtar) reichlich unbedarft nach Transsilvanien, um den Grafen als Makler bei der Suche nach einer neuen Heimstatt in England zu unterstützen. Die Warnungen der ihm unterwegs begegnenden rumänischen Dorfbewohner kann er nur deshalb leichtfertig in den Wind schlagen, weil er sich als aufgeklärter Brite weit über dem einfältigen Aberglaube Osteuropas stehend wähnt – jedenfalls bis ihn die Zusammenkunft mit Dracula und die schauderhaften Erlebnisse in dessen Schloss eines Besseren belehren. In der Hammer-Version der Geschichte stehen die Dinge grundlegend anders: Dort bestellt Dracula Harker zwar ebenfalls zu sich nach Transsilvanien – und zwar als neuen Bibliothekar, der wohl als Festangestellter mit ihm unter einem Dach wohnen und seine reichhaltigen Buchbestände katalogisieren soll, von denen zumindest ich in vorliegendem Film nicht viel zu Gesicht bekommen habe -, doch Harker ist nicht der, der er zu sein scheint: Statt der Bestie blind in die Falle zu tapsen, handelt es sich bei ihm um einen engen Vertrauten Van Helsings, den dieser, sozusagen als Vorhut, unter dem Deckmäntelchen des Bücherwurms ganz bewusst ins Schloss Draculas entsandt hat, um dem Untier den Garaus zu machen. Freilich bedeutet das für den Zuschauer eine komplett andere Ausgangssituation als bei sämtlichen vorherigen Adaptionen: Während sich in einem Film wie NOSFERATU oder dem 31er DRACULA das Grauen langsam aufbaut und erst nach und nach wissenschaftlich bzw. logisch entschlüsselt wird, befinden wir uns bei der Hammer-Variante schon von Anfang an mittendrin in der Auseinandersetzung zwischen dem untoten Aristokraten und seinem akademischen Widersacher, sodass zum einen großangelegte Erklärungen über das Wesen der Vampire wegfallen dürfen, vor allem aber der gesamte Film wesentlich stärker auf den Konflikt zwischen Gut und Böse konzentriert ist. Folgerichtig agiert Harker während seines etwa die ersten fünfundzwanzig Minuten des Films umfassenden Aufenthalts in Draculas Domizil nicht wie ein nichtsahnender Gefangener, sondern treibt mit dem Grafen ein Katz-und-Maus-Spiel, bei dem er allerdings – und das spricht nicht unbedingt für seine Qualität als Vampirjäger – letztlich den Kürzeren zieht, weil er mit seinen Pfählungsversuchen stets bis Einbruch der Nacht wartet und seinem Feind damit genügend Gelegenheiten bietet, ihn zu übertölpeln. Als Van Helsing im gräflichen Schloss eintrifft, kann er nichts weiter für seinen Helfershelfer tun als ihn mit einem Pflock ins Herz zu erlösen.

Der Hausherr selbst ist inzwischen ausgerissen – scheinbar halb getrieben von der Schönheit, mit der ihn Harkers Liebste aus ihrem Photo heraus bestochen hat, und zur andern Hälfte von Rachegelüsten Harker gegenüber, dem er seine Mordversuche dadurch heimzahlen möchte, dass er nun auch die um Blut und Leben erleichtert, die ihm am kostbarsten auf der Welt sind -, doch anders als in der Stoker’schen Vorlage oder den Adaptionen Murnaus und Muhtars muss Dracula keine weite Seereise von seiner Heimat bis nach, wahlweise, London, Norddeutschland oder Istanbul zurücklegen, denn unsere restlichen Helden wohnen offenkundig gleich bei ihm um die Ecke. Tatsächlich spielt Hammers DRACULA komplett in Siebenbürgen – was indes nicht die inflationären Schilder mit deutschen Namen und Begriffen erklärt -, um genau zu sein in einem fiktiven Örtchen namens Clausenberg, weshalb vom Vampirschloss aus die Behausungen von Mina, Lucy und Arthur bequem per Postkutsche zu erreichen sind. Die Namen mögen vertraut klingen, dennoch geht bei ihnen das Verwirrspiel vorliegenden Films munter weiter: Nicht, wie sonst, heißt Harkers Verlobte Mina, sondern Lucy. Eine Mina gibt es aber, wie erwähnt, trotzdem, doch ist die die Ehefrau von Arthur, Lucys Bruder. Und die ganze Familie trägt dabei den Nachnamen Holmwood. Was auch immer man sich hierbei gedacht haben mag, in Grundzügen sind die Strukturen von Stokers Roman trotzdem noch zu erahnen: Lucy stirbt wie ihr Verlobter, streift anschließend vampirisiert auf Kinderfang durch die umliegenden Dörfer, wird von einem kleinen Mädchen denunziert und bekommt den Brustkorb von einem Pfahl penetriert. Inzwischen hat Dracula aber auch Mina umgarnt, sodass Van Helsing und Arthur, die mittlerweile zusammenarbeiten, um dem nächtlichen Räuber Fledermausflügel und Handwerk zu legen, mit letzter Mühe dem Grafen ein weiteres weibliches Opfer entreißen und ihn zum finalen Gefecht in seinem Schloss stellen. Wenn ich mich bei Universals DRACULA schon darüber beklagt habe, dass die in Stokers Vorlage durchaus psychologisch schlüssige Motivation für des Grafen Reise nach England aufgrund der straffenden Umarbeitung des Stoffs weitgehend unter den Tisch gefallen ist, klaffen in der noch extremer gestrafften Hammer-Fassung, die zentrale Figuren wie Dr. Seward oder Renfield gleich ganz aus der Geschichte wirft, derart viele Logiklöcher, dass man tunlichst vermeiden sollte, in sie hineinzutappen. Warum Dracula nun eigentlich genau sein Schloss verlässt, weshalb er ausnahmslos die Familie Holmwood terrorisiert, wieso sein Treiben in der Gegend offenbar vorher, außer bei einem Spezialisten wie Van Helsing, nicht ruchbar geworden ist, wo doch alle nahezu Wand an Wand wohnen, das alles sind Fragen, die ich nur deshalb nicht stelle, weil man vielleicht sowieso mit Werkzeugen der Logik nicht an einem Film wie vorliegendem herumdoktern sollte.

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Abb.5&6: Orloks bzw. Draculas erster Blickkontakt mit Ellen bzw. Lucy. ist, nicht zuletzt, eine schöne Fabel über die Macht der Bilder.

Was DRACULA wohl seinerzeit so revolutionär erscheinen ließ, ist dann auch weniger sein freimütiger Umgang mit Stokers Roman, sondern das, was man sein subversives Potential nennen könnte. Wenig verwunderlich bricht DRACULA meist dann aus seiner konventionellen Montage, seinen braven Bildkompositionen, dem vorhersehbaren Einsatz seines suggestiven Soundtracks aus, wenn es darum geht, die Elemente ins rechte, d.h. grelle Licht zu rücken, wegen denen das Gros der Zuschauer überhaupt erst ein Billett für den Film gelöst haben mag. Dass DRACULA, wie CURSE OF FRANKENSTEIN, Ende der 50er einerseits das zaghaft am Horizont aufdämmernde Splatter-Kino antizipierte und andererseits für knapp ein Jahrzehnt den Hammer-Stil des sogenannten Gothic Horrors manifestierte, liegt, meine ich, allein an einer Handvoll Szenen – dem Horror-Anteil, könnte man sagen -, die Regisseur Terence Fisher auf derart innovative Weise umsetzt, dass sie zurecht in die Annalen der Genre-Geschichte eingegangen sind. Zunächst muss man DRACULA assistieren: wenn der Film etwas zu nutzen weiß, dann seine Farbe. Genauso wie es, jeder auf seine Art, DRAKULA ISTANBUL’DA und Tod Brownings bzw. George Melfords Adaption verstanden haben, aus ihrem mauen Budget dadurch die eine oder andere Augenweide herauszuholen, dass sie ihren Schwarzweißanstrich mit einer pointierten Beleuchtung im Stil von Stummfilmexpressionismus oder Film noir betonten, so weiß Hammers DRACULA allein schon mal aufgrund seines zwar bunten, aber nie überorchestrierten Looks zu gefallen. Dass die Verantwortlichen zudem wussten, was man in ihren Kulissen voller kleiner, liebevoller Details mit Farbe so alles anstellen kann, beweisen die wenigen blutigen Momenten des Films. Der rote – und wie rot er im Vergleich zu der bisherigen schwarzweißen Genre-Sauce auf einmal ist! – Lebenssaft spritzt zwar nicht fontänengleich durchs Bild, wenn aber Dracula – von Christopher Lee weniger wie ein würdiger Gentleman verkörpert, den ich zum Tee einladen würde, als wie ein echtes Raubtier – vom Beutefang heimkehrend und rasend vor Wut der Kamera entgegenstürzt und ihm noch das Blut seines letzten Opfers an den Lefzen hängt, oder wenn Van Helsing – von Peter Cushing zugleich würdig als auch zerbrechlich und menschlich verkörpert - der armen Lucy das Herz zerhämmert und unter dem Saum ihres Totenkleids ein roter Quell entsteht, dann sind das reduzierte, aber wirkungsvolle Effekte, die noch gut auf dem Spagat balancieren zwischen – immer im Zeitkontext betrachtet – schockierender Offenherzigkeit und vornehmer Zurückhaltung. Außerdem verweist DRACULA gleich in seiner Eröffnungsszene auf den fundamentalen Unterschied, der zwischen ihm und der 31er Fassung besteht, indem er eine Szene aus dieser sich unter neuen Vorzeichen zu eigen macht: Wie in Brownings bzw. Melfords Varianten fährt die Kamera im Gewölbe des gräflichen Schlosses auf den gräflichen Sarg zu, auf dem diesmal groß und breit der Name seines Bewohners zu lesen ist. Statt dass sich nun aber die Hand Bela Lugosis oder Carlos Villarías unter dem Deckel hervorschält, kommt das bewegte Element von oben ins Bild getröpfelt. Es handelt sich um einen ganzen Batzen überrotes Kunstblut, das sich schön eklig auf dem gefürchteten Namen verteilt, und, kann ich mir vorstellen, das eine oder andere Auge eines zeitgenössischen Publikums zum Zukneifen und das eine oder andere Herz zum Rasen gebracht haben dürfte.

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Abb.7&8: Die Defloration der Genre-Moral: Hammers DRACULA zersticht ein zensorisches Hymen und verteilt das rinnende Blut auf jenem Namen und jenen Lefzen, die von nun an nicht mehr ohne es zu denken sein werden.

In dem Zusammenhang ist auch noch einmal die Darstellung Draculas durch Christopher Lee hervorzuheben, die die Geschichte mit sexuellen Implikationen spickt, von denen zuvor, außerhalb Stokers Romans, nur ein bisschen etwas in DRAKULA ISTANBUL’DA zu spüren war. Wenn dort der Graf seinem Opfer, dem Mina-Ersatz Günzin, beim Tanzen in einem Nachtclub zuschaut, kann man seinen Blicken problemlos ablesen, dass ihm nicht nur die Eckzähne spitz werden. Diese, über die Christopher Lee freilich ebenfalls verfügt, und sie damit im westlichen Horrorfilm einführt – denn DRAKULA ISTANBUL’DA dürften wohl die wenigsten Europäer damals in ihrem Stammkino gesehen haben -, sind es, die den erotischen Impetus unserer Geschichte graphisch zum Ausdruck bringen. Blutverschmiert, noch warm vom letzten Biss, oder sich lustvoll in die Hälse der sich ihnen regelrecht entgegenbäumenden Frauen machen Draculas Beißerchen gar keinen Hehl daraus, was sie repräsentieren sollen. Die für mich beste schauspielerische Leistung in DRACULA absolviert Melissa Stribling in ihrer Rolle als Mina. Es ist ein wahrer Genuss zuzusehen wie die junge Frau sich, erst einmal vom Vampir-Virus infiziert, regelrecht wie eine Drogensüchtige aufführt, um ihrerseits in den Genuss der Fangzähne zu kommen. Als seien Draculas Beißer für sie das Gothic-Horror-Äquivalent zur Heroinspritze, arbeitet Mina den Bestrebungen von van Helsing und Arthur konsequent entgegen, reißt den schützenden Knoblauch von den Fenstern ihres Zimmers, belügt die sie umsorgende Magd, um sie aus dem Raum zu bekommen, lädt den Grafen unter vollem Körpereinsatz dazu ein, sie nachts zu besuchen und zu beißen. Die Szene in DRACULA, mit der damals wie heute am wenigsten zu spaßen ist, und an der für mich hochinteressanten Schnittstelle zwischen ernstzunehmender Transgression, lupenreinem Trash und Ekeleffekt operiert, ist der Tod des Grafen nach dem finalen Duell zwischen ihm und Van Helsing, das ebenfalls mehr als eine Filmgeschichte geschrieben hat. Unter Einfluss der Morgensonne, mit der Van Helsing ihn überzieht, indem er einen Katzensprung zum Vorhang eines Fensters seines Schlossspeisessaals wagt und ihn kurzerhand herunterreißt, wird Dracula förmlich geröstet. Das ist nicht nur eine nette Verbeugung vor Murnaus NOSFERATU, sondern führt außerdem dazu, dass die Verantwortlichen sämtliche Hemmungen fallenlassen und tief in der ekligen Trickkiste wühlen, um Christopher Lee Stück für Stück vom relativ humanoiden Vampir in ein Häuflein Staub zerfallen zu lassen – mit Zwischenstation bei einem stöhnenden Fleischkumpen, von dem die Haut sich abzulösen beginnt.

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Abb.9&10: Die Todes des Grafen Dracula: Sowohl in Hammers Fassung von 1958 als auch in Murnaus NOSFERATU wird das Untier vom Sonnenlicht geröstet. Während in letzteren bzw. chronologisch ersterem von ihm jedoch nicht mehr bleibt als ein zartes Flämmchen, das von unten her in den Bildkader züngelt, schwelgen die Briten über drei Jahrzehnte später in einem detailfreudigen Zersetzungsprozess, der sich regelrecht an der Dekonstruktion des untoten Grafen-Körpers ergötzt.

All diese Ingredienzien – die sexuelle Hörigkeit seiner Opfer zu Dracula, das Kruzifix als bewährtes Mittel gegen Vampir-Attacken, blutaffine Pfählungen – schreiben die Hammer auch zwei Jahre später in ihrem nächsten Vampirfilm fort, der zwar THE BRIDES OF DRACULA heißt, in dem der Graf selbst aber nicht auftritt – dafür jedoch Van Helsing, weshalb ich den Film, wenig puristisch, ebenfalls zur Hammer’schen Dracula-Reihe hinzuzählen würde. „Transylvania, land of dark forests, dread mountains and black, unfathomed lakes. Still the home of magic and devilry as the nineteenth century draws to it's close. Count Dracula, monarch of all vampires, is dead, but his disciples live on, to spread the cult and corrupt the world”, erklärt uns dort eine bedeutungsschwanger hallende Erzählerstimme aus dem Off, wozu der Film eines seiner hübschesten Bilder vorführt, das ich mir durchaus gerahmt über dem Kopfende meines Bettes vorstellen könnte. Zwar dachte ich bislang, dass der Tod eines Obervampirs die Auslöschung sämtlicher der von ihm Infizierten zur Folge hat, weshalb Siebenbürgen eigentlich nach dem Ableben Draculas im Vorgängerfilm vor unangetasteten Halsschlagadern nur so hätte strotzen müssen, doch wird diese Regel in THE BRIDES OF DRACULA verworfen, um uns eine Geschichte zu erzählen, die zu jedem Zeitpunkt wirkt, als hätte Terence Fisher und Jimmy Sangster nichts ferner gelegen als einfach ein stumpfes Remake ihres Erfolgsfilms von vor zwei Jahren nachzuschieben.

Das Treiben der Bräute von Dracula, der im Film exakt ein einziges Mal erwähnt wird, nämlich im bereits zitierten Vorspann, gestaltet sich wie folgt: Marianne ist eine natürlich junge und natürlich hübsche Französin, die in einer Mädchenschule mitten in den Karpaten ebenfalls jungen und ebenfalls hübschen Zöglingen aus gutem Hause die Kenntnisse ihrer Muttersprache beibringen soll. Zu Beginn von Draculas Bräuteschau bringt sie die obligatorische, im 58er DRACULA jedoch fehlende Kutsche, zum ebenso obligatorischen Gasthaus, in dem das Schankwirtsehepaar alles daran setzen, die sorglose Marianne zur raschen Weiterfahrt zu animieren, denn, sagen sie, die Region sei nicht geheuer. Freilich ist die Baroness Meistner schneller, die sich auf einmal im Gasthof materialisiert und Marianne anbietet, die Nacht bei ihr im nahen Schloss verbringen zu können, ein Angebot, das Wirt und Wirtin beinahe die Augen aus den Höhlen treten lässt, dessen positive Aufnahme durch Marianne sie aber letztlich nicht verhindern wollen oder können. Im Domizil der Baroness herrscht eine triste, melancholische Stimmung. Allein mit ihrer Haushälterin Greta verbringt die Greisin ihren Lebensabend in selbstgewählter Isolation. Zwar sei auch ihr Sohn unterm gleichen Dach untergebracht, doch, erzählt sie Marianne beim Abendessen, der sei schwerkrank und sie sehe ihn nie, nur Greta kümmere sich um ihn, der in einem abgelegenen Teil des Schlosses permanent eingesperrt sei. Es bleibt nicht aus, dass Mariannes Schlafzimmerfenster genau auf den Balkon hinausreicht, den der junge Baron, soweit es ihm seine Fußfessel möglich macht, betreten kann, um wenigstens etwas frische Luft zu schnappen, und es bleibt nicht aus, dass ihr der adrette Adlige auf den ersten Blick mehr als sympathisch vorkommt und sich Mitleid in ihr regt, das von Meinster noch angeheizt wird, als er ihr berichtet, seine habgierige Mutter halte ihn, der kerngesund sei, aus rein pekuniären Motiven unter Verschluss. Marianne lässt sich beschwatzen, der Baronin den Fußfesselschlüssel zu entwenden und ihn ihrem Sohn zuzuspielen, der sich daraufhin befreit, und blutige Rache an seiner Mutter nimmt: sich als Vampir entpuppend schlägt er ihr die Beißer in den Hals, während die noch immer ahnungslose Marianne zumindest einsieht, dass es vielleicht besser sei, so schnell wie möglich zu ihrer zukünftigen Arbeitsstätte zu gelangen, sich im Wald verläuft, ohnmächtig und von Professor van Helsing gefunden wird, der in der Gegend weilt, um einer unheimlichen Mordserie an jungen Mädchen nachzugehen, die allesamt verdächtige Bisswunden an den Hälsen aufweisen. Nachdem er Marianne bei ihrer Mädchenschule abgeliefert hat, klärt sich für ihn im Gespräch mit dem Priester, der ihn her zitiert hat, schnell auf: Baronesse Meistner hat ihren Sohn mit frischem Blut versorgt, ist nun aber von diesem selbst vampirisiert worden, während der junge Baron wiederum als Objekt seiner Begierden die unschuldige Marianne auserkoren hat, der er nicht nur den Hof macht, sondern schon mal anfängt, an ihren Lehrerinnenkolleginnen seine Fangzähne und Lippen in Übung zu halten…

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Abb.11&12: Der klassische Hammer-Stil in THE BRIDES OF DRACULA, möglicherweise meinem liebsten Vampir-Film der britischen Produktionsfirma. Liebevoll sind die altmodischen Kulissen mit unaufgeregten Details angefüllt - wie das fromme Bildnis im Hintergrund von (11), dessen goldenes Leuchten zumindest teilweise versucht, die Tristesse des Gasthofes zu durchdringen, und bereits vorverweist auf den in den kommenden neunzig Minuten stattfindenden Kampf zwischen Gott und Teufel -, und erweisen sich - wie in (12) - als wahre Schatzkammern von Objekte, die sich in ihre magischen Konnotationen wie in einen Nimbus hüllen.

Auch bei THE BRIDES OF DRACULA wird deutlich, wenn man nur ein bisschen an der Storyoberfläche kratzt, dass man dem Film nicht mit allzu vielen Fragen der Logik konfrontieren sollte. Weshalb veranstaltet das Gasthauspärchen zu Beginn ein derartiges Theater aus Verstellungen und Lügen, um Marianne von der Baronesse fernzuhalten, wo sie ihr doch im Prinzip einfach nur hätten zuflüstern müssen, sie solle sich vor der ältlichen Dame in Acht nehmen? Wieso hält eine ordinäre Kette ums Fußgelenk den jungen Baron, der oft und gerne von seiner Fähigkeit Gebrauch macht, sich in eine Fledermaus verwandeln zu können, davon ab, einfach seine Gestalt zu verändern, einen Fledermausfuß aus der Schlinge zu ziehen und vom Balkon in die Nacht zu flattern? Was passiert mit beiden Bräuten des Baron Meinsters, die er sich im Laufe des Films erbissen hat, im feuersprühenden Finale, das einfach mit dem Tod des Aristokraten endet, und scheinbar komplett vergisst, dass da noch zwei Gespielinnen übrig sind, die sichtbar aus dem Flammenmeer fliehen können? Aber wenn es mir bei einem Film auf stringente, kohärente, psychologisch glaubwürdige Handlungen ankäme, dann hätte ich mir wahrscheinlich weder die Mühe gemacht, mir vorliegenden Film anzusehen geschweige denn über ihn mehr als zwei vernichtende Zeilen zu schreiben. Dafür zeigt THE BRIDES OF DRACULA die Hammer-Studios an einem Punkt, an dem sie ihren ureigenen Stil zu einer gewissen Perfektion gebracht und noch nicht für modernistische Tendenzen geöffnet haben. Die Kulissen sind derart voller Feinheiten, dass man sich kaum sattsehen kann an ihnen und helfen gemeinsam mit den theaterhaften Schauspielern und der durch die Farbgebung noch verstärkten allumfassenden Künstlichkeit dabei, eine eigenwillige Atmosphäre entstehen zu lassen, die es wohl ist, die man bis heute damit meint, wenn man von der Idiosynkrasie der klassischen Hammer-Filme spricht.

Mehr noch als im 58er DRACULA wimmelt es dabei in BRIDES OF DRACULA vor Fledermäusen. Angeblich weil die ungleich eindrucksvolleren Ursprungsmodelle verloren oder versehentlich vernichtet worden seien, haben die Hammer Studios schließlich auf geflügelte Mäuschen zurückgegriffen, die beinahe wie der erfolgreiche Versuch eines Illusionsbruchs wirken, und die angesprochene Künstlichkeit der pseudo-gotischen Welt voller altertümlicher Kostüme und deutscher Schilder und Namen, noch zementieren. Hammers Fledermäuse fliegen nicht wirklich, sondern bewegen sich, was jedes Kind sieht, an Fäden fort, schlagen zudem mit den Flügeln auf außerordentlich mechanische Weise, und haben Augen, die deshalb rot glühen, weil man ihnen kleine Glühbirnen von einer Lichterkette in die Stoffköpfchen gedrückt hat. Dadurch, dass diese Fledermäuse nicht etwa nur in ein, zwei Szenen am Rande auftauchen, sondern oft und gerne in Großaufnahmen bei ihren drolligen Angriffen gezeigt werden, erhält BRIDES OF DRACULA eine konsequente Meta-Ebene, in der der Film, ob er es nun will oder nicht, den Diskurs darüber anstößt, wie glaubhaft Spezialeffekte in Horrorfilmen sind, waren und irgendwann sein werden, wenn erstmal genügend Zeit verflossen ist, dass die Sehgewohnheiten der Masse sich grundlegend geändert haben. Die möglicherweise interessanteste Figur in BRIDES OF DRACULA ist Greta, die Haushälterin der Meinsters, der das Drehbuch eine Ambivalenz auf den Leib geschrieben hat, die ich mir nur dadurch erklären kann, dass man nicht recht wusste, ob sie nun als Helfershelferin der Vampirsippe oder als deren vehemente Kritikerin fungieren soll. Zu Beginn nämlich beklagt sie wortreich die geglückte Befreiung des jungen Barons, steht voller Vorwürfe an Marianne neben seiner fußleeren Kette, und kündet von dem Unheil, das durch die Mitschuld des unbedarften Mädchens auf die Menschheit losgelassen wurde. Später aber, und zwar in der wohl großartigsten Szene des gesamten Films, ist sie aktiv bei der Erweckung einer von Meinster gebissenen und initiierten Dorfschönheit zugegen. Van Helsing beobachtet entsetzt wie Greta wild lachend und gackernd auf dem frischen Grab der Toten herumkriecht, während sich unter ihr so etwas wie eine Geburtsszene abspielt. Als sei das ziemlich dicht unter der Erdoberfläche angelegte Grab ihr Uterus und Greta ihre Hebamme, schält sich Meinsters Braut Nummer eins aus dem geweihten Boden, schiebt erst tastend eine Hand hervor, lässt die zweite folgen, endlich ihren gesamten Körper, um mit gespitzten Eckzähnen ihr zweites Leben beginnen zu können. Eine derartig mit Konnotationen aus dem medizinischen bzw. anatomischen Feld versehene Vampir-Auferstehungsszene ist mir im gesamten Genrekino der westlichen Welt noch nicht untergekommen. Ebenfalls mehr als alle DRACULA-Verfilmungen zuvor ist BRIDES OF DRACULA ein Werk, das eine christliche Agenda vor sich herträgt, bei der man sich fragen darf, ob sie völlig ernstgemeint sein soll oder nicht doch ein Alibi dafür, einen innerhalb des Zeitkontextes vergleichsweise bluttriefenden und abartigen Film wie vorliegenden überhaupt ohne schlechtes Gewissen drehen zu können. Nicht nur, dass Van Helsing im Zwiegespräch mit seinem priesterlichen Freund den Vampirismus wie ihn Dracula und Meinster praktizierten wortwörtlich als heidnische Religion definiert, auch sonst sind Kruzifixe in ihrer heilsamen, weil abschreckenden Wirkung gegen die Nachtgespenster omnipräsent.

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Abb.13&14: (13) Das Bild, mit dem BRIDES OF DRACULA eröffnet, stellt wohl eine der schönsten visuellen Kompositionen des gesamten Hammer-Kanons dar. Neblig, trist, verwunschen ist die Landschaft, die an sich schon eine äußerst dichte Atmosphäre ausstrahlen würde, und durch die nicht nur ins Bild ragenden, sondern dieses regelrecht verästelnden und verrätselnden Kahlbäume mit einem Element der Unruhe ergänzt wird. (14) Eine Szene fast so, als hätte Mario Bava eine Szene in einem Film von Marcel L'Herbier inszenieren dürfen - und irgendwie hat das Ganze auch den naiven Charme eines Blutsudlers wie Herschell Gordon Lewis: In PRINCE OF DARKNESS bricht für einen kurzen Moment, eine Sekunde bevor sich die Kiste öffnen und einen zerstückelten Körper präsentieren wird, die filmische Avantgarde mit Sturmfahnen herein - eine Form scheinbar absolut kontingenter Subversion.

Während der 58er DRACULA, wie man sich erinnert, unter anderem damit endete, dass Van Helsing seinem Widersacher zwei überkreuzte Kerzenständer vors Gesicht hielt und somit erstmal auf dem Boden festpinnte – und ich mich fragte, wie Vampire, wenn sie anfällig nicht nur für geweihte Kruzifixe sind, sondern für einfach alles in Kreuzform, unbeschadet an, beispielweise, Fensterkreuzen vorbeigehen können? -, überhöht BRIDES OF DRACULA diesen kreativen Einfall, aus Alltagsgegenständen spirituelle Waffen zu basteln, in seinem eigenen Finale ins Groteske: Eine Mühle ist, wie im Universal-FRANKENSTEIN, der Schauplatz des Showdowns zwischen Van Helsing und Baron Meinster, und nachdem dem Sauger zunächst das Angesicht mit Weihwasser verätzt worden ist, hängt unser niederländischer Professor sich an eins der Windmühlenräder, um sie sich zu einer Kreuzesform drehen zu lassen. Der Erfolg bleibt nicht aus: Schon der Schatten des Mühlenradkreuzes reicht aus, den Baron bei seiner Flucht zu stoppen, als er ihm auf den Rücken fällt und niedermacht, als habe ihn eine Kugel getroffen – tatsächlich eine Szene wie aus Howard Hawks SCARFACE.

Nach diesen beiden, wie ich meine, klassischen Hammer-Vampirfilmen – zu erwähnen wäre vielleicht noch THE KISS OF THE VAMPIRE von 1963, der aber dadurch kreativer ausgefallen ist, da er seine Blutsauger in einer sektenähnlichen Gemeinschaft formiert, inklusive Geheimriten und Kutten -, sollte es bis ins Jahre 1966 zur erstmaligen Erweckung Draculas dauern, worauf sich die Serie von DRACULA – PRINCE OF DARKNESS an konsequent ohne größere Unterbrechungen bis ins Jahr 1974 fortentwickelt. PRINCE OF DARKNESS, erneut entstanden unter der Regie von Terence Fischer und nach einem Drehbuch von Jimmy Sangster, breitet über seine gesamte Laufzeit die Ur-Szene des Horrorkinos aus, d.h. eine Geschichte von einsamen Reisenden, die gezwungen sind, die Nacht an einem unheimlichen Ort verbringen zu müssen und es dort mit Tod und Teufel zu tun bekommen. Unsere Helden sind streng symmetrisch in zwei Ehepaare unterteilt – auf der einen Seite die Kents, Charles und Diana, auf der andern Seite ebenfalls die Kents, Alan und Helen, da die beiden Männer des Gespanns verbrüdert sind. Diese Truppe unternimmt eine Bildungsreise durch die Karpaten und landet innerhalb von Szenen in Draculas Schloss, die auch aus einem Märchen hätten stammen können: Eine Kutsche ohne Kutscher holt sie an dem Wegkreuz ab, wo sie von ihrem eigenen Kutscher sitzengelassen worden sind, da der sich weigerte, auch nur einen Fußbreit näher zum Grafenschloss zu fahren. Im Schloss selbst wartet ein gedeckter Tisch mit allerlei kulinarischen Köstlichkeiten auf sie. Sogar die Zimmer sind hergerichtet mit frischer Bettwäsche und zurückgeschlagenen Decken. In Folge entmystifiziert sich PRINCE OF DARKNESS nur halb, als ein gewisser Klove auftritt, seines Zeichens Leibdiener des verblichenen Schlossherrn, der, natürlich, insgeheim seit zehn Jahren auf Gäste wartet, mit deren Blut er seinen Gebieter zu neuem Leben erwecken kann. Schon früh fällt auf, dass PRINCE OF DARKNESS sich scheinbar noch immer dahingehend an der Vorlage Stokers orientiert, dass sein bedeutendstes Innovationselement, nämlich das Vorhandensein eines Dracula-Gehilfen mit sinisterem Gesichtsausdruck, offensichtlich nach der im 58er DRACULA abstinenten Figur des Renfield modelliert worden ist. Klove zeigt zwar keine Anzeichen wirklicher Geisteskrankheit – einmal abgesehen natürlich davon, dass er eine Dekade in einem verlassenen Schloss auf unschuldige Reisende wartet, von denen er einen dann mit dem Kopf nach unten über Draculas sterbliche Hülle hängt und mit präzisem Schnitt die Halsschlagader öffnet -, dennoch ist er seinem Meister ebenso unterworfen wie Renfield im Roman und der 31er Fassung. Interessanterweise rührt die Idee, Dracula einen Diener an die Seite zu stellen, aus DRAKULA ISTANBUL’DA her – von dem ich jedoch annehmen darf, dass es eine Kopie Mitte der 60er nicht vor die Augen der Hammer-Studiobosse geschafft hat – oder etwa doch? Während Draculas Diener aber dort Azmi sogar gegen seinen Brotherrn hilft, indem er sich selbst als Kanonenfutter hergibt, auf dass unser Held unversehrt entschlüpfen kann, steht Klove in PRINCE OF DARKNESS seinem Gebieter an Grausamkeit in nicht viel nach. Damit aber noch nicht genug Renfield: Im letzten Drittel führt der Film, wie ich meine, dramaturgisch wenig schlüssig eine Figur namens Ludwig ein. Der sitzt seit über zehn Jahren, sprich: seit Draculas Ableben, in einem nahen Irrenhaus und frisst Fliegen. Als Dracula nun erneut eine Spur der Verwüstung durch die abgeschiedenen Karpatengegend zieht, entpuppt der unbedarft scheinende alte Mann sich ebenfalls als Handlanger des Grafen, dem er vor über einem Jahrzehnt bereits verfallen ist.

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Abb.15-18: Die Allmacht des Kreuzes, die für sich spricht in: DRACULA (15), DRACULA HAS RISEN FROM THE GRAVE (16), BRIDES OF DRACULA (17) - und Howard Hawks' SCARFACE (18)

Damit enden indes schon die inhaltlichen Kongruenzen zur Originalgeschichte, und das, was PRINCE OF DARKNESS sonst entwickelt, kann man wohl guten Gewissens als in höchstem Maße unterhaltsames Genre-Kino, zusammengeschraubt aus allen möglichen Versatzstücken der Schauerliteratur, bezeichnen. Interessant ist hierbei zweierlei: Die, wenn man sie so nennen mag, Splattereffekte in den frühen Hammer-Horrorfilmen wie CURSE OF FRANKENSTEIN oder eben DRACULA zeichneten sich durch ihre Kapselhaftigkeit aus. Sie sind hermetisch abgeriegelte Einsprengsel mit dem Charakter von Exklaven, meist Großaufnahmen von Blutfontänen oder sonstigen Gewalttätigkeiten, die ein Zensor problemlos hätte entfernen können, ohne damit die Struktur des Gesamtfilms zu beeinträchtigen. Nur jäh, kurz bricht die physische Dekonstruktion in die ansonsten, was visuelle Scheußlichkeiten anbelangt, relativ heile Theaterwelt herein. Bei PRINCE OF DARKNESS nun zeichnet sich schon ein Wandel ab, der das kommerzielle Horrorkino in den kommenden Jahren mehr und mehr mit subversiven Strategien solcher Underground-Filme wie Herschell Gordon Lewis‘ BLOOD FEAST durchsetzen sollte. Die wohl härteste Szene des Films, nämlich die Entführung Alans und seine Weiterverwertung als Blutopfer, wird bereits weitaus expliziter ausgespielt und trägt zudem eine immanente Grausamkeit mit sich, die nicht mit ein, zwei Schnitten aus ihr zu tilgen wäre. Kühl, rational bereitet Klove alles für die Opferung vor. Beinahe klinisch wirkt der Kehlenschnitt, der Alan das Leben nimmt und es an Dracula weiterreicht. In Großaufnahme sehen wir eine weitere Penetrationsszene: Das fröhlich plätschernde, wenn auch eher an ziemlich dickflüssige Kirschmarmelade erinnernde Blut benetzt Draculas Staubhäufchen. Mehr noch als die Vorgängerfilme unterstreicht PRINCE OF DARKNESS außerdem all die sexuellen Stricke, die Draculas Opfer an ihn binden. Christopher Lee, der im gesamten Film kein Wort sprechen darf und nun wirklich rein gar nichts mehr von einem Gentleman hat, sondern eher einer Raubkatze oder einem allein von seiner Fressgier bestimmten Reptil gleicht, wird in PRINCE OF DARKNESS vollends zum absoluten Antidot zur viktorianischen Geschlechts- und Gesellschaftsmoral. Helen, zu Beginn des Films eine schreckliche Spießerin, die an allem etwas auszusetzen hat und deren Bluse nicht hochgeschlossen genug sein kann, verwandelt sich unter Draculas Biss fundamental: Sobald ihr die ersten Eckzähne gewachsen sind, leitet sie der Durst nach Blut und Sex, und aus der Konservativen ist ein Vamp im wahrsten Wortsinne geworden.

Solchen 1966 wohl recht schockierende Einblicke in die Dunkelkeller der menschlichen Psyche stehen dabei aber, erneut, die Omnipräsenz der (Katholischen) Kirche und der von dieser gegen die Vampirbrut ins Feld geführten Kruzifixe als ihr Herr-schaftssymbol gegenüber. Statt Van Helsing ist es in PRINCE OF DARKNESS ein Abt namens Shandor, der als Kontrahent Draculas fungiert. In der wundervollen Eröffnungsszene reitet er mitten hinein in eine Pfählung, die Dorfbewohner an einer Mädchenleiche vollziehen wollen und die von ihm in letzter Sekunde verhindert wird. Seit zehn Jahren schlägt Shandor sich mit seinen Landsleuten herum, die einfach nicht wahrhaben wollen oder können, dass Dracula endgültig vernichtet ist, und es in ihrem Landstrich keine Vampire mehr gibt – übrigens ein klarer Widerspruch zu der Prämisse, die BRIDES OF DRACULA voranging. Nachdem klar wird, dass die Kents ungewollt den Grafen zur erneuten Materialisation verholfen haben, ergreift der bärbeißige Shandor entschlossen Kreuz und Pflock, und erklärt Dracula und seiner anwachsenden Anhängerschaft den Krieg. Ob PRINCE OF DARKNESS nun als Kritik an der Amtskirche oder deren Affirmation gelesen werden sollte, darüber dürfte sich streiten lassen – feststeht, dass Shandor als unser Sympathieträger, anders als zuvor Van Helsing, Dracula nicht im Namen der Wissenschaft, sondern ausdrücklich in dem seiner Religion beseitigt. Zwar hat sich auch Cushing in den Vorgängern Kruzifixe bedient, um seinen Gegner zu schwächen, doch mit PRINCE OF DARKNESS ist erstmals ein dezidiertes Mitglied einer christlichen Gemeinschaft, in diesem Fall eines äußerst wehrhaften Mönchsordens, der direkte Opponent unseres Monstrums. Genau dieser Aspekt soll in den beiden Folgefilmen, die auch deshalb als Einheit begriffen werden können, derartige Ausmaße annehmen, dass ich geneigt bin, DRACULA HAS RISEN FROM THE GRAVE (1968) und TASTE THE BLOOD OF DRACULA (1970) schon fast als religiöse Erbauungsfilme zu verstehen, die – mit Abstrichen in der Gewaltspitzen – rein inhaltlich dem Programm keines Kinoabends irgendeiner freien Bibelgemeinde zuwiderlaufen würden.

Der christliche Subtext, der sich in DRACULA, BRIDES OF DRACULA und PRINCE OF DARKNESS hauptsächlich auf der Symbolebene abgespielt hat, manifestiert sich in DRACULA HAS RISEN FROM THE GRAVE auf der Ebene des Handlungspersonals: Nachdem Dracula sein Ende, mutmaßlich am Finale von Shelleys FRANKENSTEIN-Roman angelehnt, im Vorgängerfilm dadurch fand, dass er in einen zugefrorenen See vor seinen Schlosspforten plumpste, knüpft DRACULA HAS RISEN FROM THE GRAVE daran direkt an, wenn er einen Bischof namens Monsignore Ernst Müller sowie den ängstlichen, abergläubischen Dorfpriester Jahre später hinauf zum einstigen Domizil des Grafens schickt, wo ersterer ein überlebensgroßes Kreuz aufpflanzen will – zum Zeichen, dass das Untier endgültig besiegt ist. Dann verketten sich die Ereignisse: während der Bischof kniet und betet, stürzt der Dorfpfarrer, warum auch immer, einen Abhang hinab, schlägt sich den Kopf auf, entlässt aus diesem Blut, das natürlich unter die Eisdecke und direkt in Draculas Maul rinnt, wozu sich, stilecht, ein Gewitter entlädt. Schon bald ist es aus mit dem Karpatenfrieden und die Bewohner der umliegenden Dörfer müssen wieder um Leib und Leben zittern, darunter vor allem die Tochter des Monsignores, an dem Dracula sich rächen will, weil er aufgrund des Riesenkruzifixes, das den Zugang zu seinem Schloss versiegelt, dieses nicht mehr betreten kann. Die Bischofstochter, Maria, ist verliebt in Paul, der ihrer Familie gegenüber keinen Hehl daraus macht, dass er mit atheistischen Ideen nicht bloß kokettiert, sondern sie mit beiden Armen umfasst hält. Nachdem der Bischof ihn seines Hauses verwiesen und Maria verboten hat, den Ungläubigen jemals wieder zu treffen und zu küssen, verlaufen ihre Stelldicheins nachts auf den Dächern des Dorfes – was DRACULA HAS RISEN FROM THE GRAVE Gelegenheit gibt, zum ersten Mal innerhalb der Hammer-Dracula-Reihe eine Liebesgeschichte voller sehnsüchtiger Blicke, Herzschmerz und verstohlener Berührungen zu inszenieren. Am Ende des Films steht eine dreifache Läuterung: Paul, der sich mit zunehmender Laufzeit immer bewusster geworden ist, dass es zwischen Himmel und Erde mehr gibt als sein Menschenverstand begreifen kann, scheint, ohne dass der Film das explizit betonen würde, zu sich und zum christlichen Gott zu finden, den er spätestens dann nicht mehr leugnen kann, als ihm klar wird, dass dessen Herrschaftszeichen, das Kreuz, als wirksamstes Mittel gegen den Vampirfürsten fungiert. Schon einmal hat Paul seinen fehlenden Glauben negativ zu spüren bekommen: Als er Dracula pfählt, die Tat aber nicht mit einem Gebet besiegelt, zieht der sich den Pflock einfach wieder aus der Brust. Dass er Maria nach dem Abspann mit Segen des Bischofs heiraten und eine Musterehe führen wird, liegt auf der Hand. Ebenfalls geläutert wird der Dorfpriester, der dadurch, dass es sein Blut gewesen ist, das Dracula wachrüttelte, zu dessen unfreiwilligem Helfershelfer geworden ist. Den gesamten Film über wohnen zwei Seelen in seiner Brust: eine, die gerne seiner früheren Prozession nachgehen würde, und eine, die unter der Gewalt Draculas steht. Am Ende siegt der Gott in ihm, und er begleitet Draculas Ableben mit einem inbrünstigen Gebet. Die dritte Läuterung ist die am graphischsten umgesetzte: Während Dracula in den Vorgängerfilmen, wie erwähnt, vom Sonnenlicht zersetzt bzw. im nicht allzu ewigen Eis versenkt worden ist, wird Christopher Lee bei seinem dritten Auftritt mit Fangzähnen die Ehre zuteil, seinen Tod direkt durch ein Kruzifix zu finden, und zwar genau dem, das der Monsignore zu Beginn vor sein Schloss geschleppt hat. Diese äußerst schmerzhafte und äußerst blutsudelende Penetration potenziert zum einen das Leiden der Bestie, zum andern lässt sie keinen Zweifel daran offen, dass es gewissermaßen der christliche Gott selbst ist, der hier über das Böse triumphiert. Nicht extra erwähnt werden muss, dass Dracula, obwohl er zurück zur Sprache gefunden hat, weiterhin primär ein Raubtier ohne Charakterzüge ist, die über einen ungesunden Sadismus hinausweisen würden.

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Abb.19&20: Nicht nur Murnaus NOSFERATU ist eine beständige Hintergrundfolie, auf die Hammers Dracula-Reihe kontinuierlich zurückgreift, zumindest einmal wagt man sich in noch esoterische Gefilde vor, wenn Van Helsing in DRACULA A.D. 72 in seinem Studierzimmer ein Portrait seines Erzfeindes hängen hat, das für mich aussieht, als sei es stark von den Filmplakat des ungarischen Films DRAKULA HALÁLA von 1921 inspiriert, der, bis auf eine Handvoll Standphotos, als verschollen gilt.

Noch mehr Gott wird in TASTE THE BLOOD OF DRACULA geliefert, dessen Finale Dracula so etwas wie eine tödliche Epiphanie erleiden lässt. Zuvor hat es drei Gentleman in die Gegend um des Grafen Schloss verschlagen – wo plötzlich jeder englische Vor- und Nachnamen trägt, und nicht mehr, wie in jedem Vorgängerfilm, urdeutsche. Alle drei sind nach außen hin wahre Biedermänner, Würdenträger, Autoritätsfiguren, die am heimischen Herd Moral und Tugend predigen, doch in ihrer Freizeit jagen sie dem ultimativen Kick hinterher, verbringen die Nächte in Hurenhäusern und lassen sich von zwielichtigen Figuren für viel Geld in Dingen unterweisen, die der Film mehr andeutet als wirklich zeigt. Bei einem solchen Abend lernen sie den jungen Lord Courtley kennen. Der macht den des Lebens überdrüssigen Lüstlingen den Vorschlag: wieso nicht den Fürsten der Dunkelheit, Graf Dracula, in einem okkulten Zeremoniell zu neuem Leben zu erwecken? Sollte das nicht etwas sein, das so aufregend ist, dass man noch Tage später davon zehren kann? Weil Courtley bei besagtem Ritus den Tod findet – die drei Herren prügeln ihm, als sie bemerken, auf was für einen Teufelshandel sie sich da eingelassen haben, die Seele aus dem Leib -, sinnt Dracula, wie so oft bei Hammer, auf Rache. Alle drei Gentlemen sollen sterben, und zwar, wie perfide!, durch die Hände ihrer eigenen (erwachsenen) Kinder, um die Wut des Ungeheuers zu lindern. Was folgt ist wenig innovativ, erneut ausgestattet mit einer rührseligen Liebesgeschichte zwischen einer Alice und, schon wieder, einem Paul, und beweist vor allem, dass Graf Dracula mit Zahlen umzugehen weiß, denn nach jedem erledigten Opfer zählt er dieses regelrecht aus. Nachdem die drei Lüstlinge, deren Lebenswandel uns Hammer als einen wenig erstrebenswerten verkauft, bei dem man den verdienten Lohn, nämlich den Tod, früher oder später auf recht unangenehme Weise empfängt, ausgelöscht worden sind, kämpft Paul, um seine Liebste zu retten, im Finale mit Dracula in einer Kirche. Kein Sonnenlicht, kein Pfahl, kein Gebet ist notwendig, um die Bestie zu bezwingen. Als Dracula auf einer Balustrade steht, überwältigt ihn die Allgegenwart Gottes so sehr, dass er zu schwanken beginnt – unterstrichen von einer desorientiert durch den Kirchenraum schwenkenden Handkamera. Während die eigentlich verfallene Kapelle plötzlich erstrahlt, als sei sie eben erst eingeweiht worden, verliert Dracula endgültig das Gleichgewicht, stürzt auf den Altar und verwandelt sich dort, wie von selbst, in das bereits bekannte Häuflein Asche. Ohne ironische Brüche, ohne das geringste Augenzwinkern feiert TASTE THE BLOOD OF DRACULA ein Christentum, das sich in Oberflächlichkeiten erschöpft. Ein Paar gefaltete Hände, ein Stoßgebet gen Himmel, ein geweihter Ort reichen schon aus, um zum Seelenheil zu finden – und irgendwie wirkt es, als würde der Film dabei nur notdürftig zu vertuschen versuchen, dass all seine vordergründige Frömmigkeit nur dazu dient, die immer explizit werdenden Gewaltszenen in einen sie legitimierenden Kontext zu stellen.

Nötig hat man das vor allem beim Folgefilm, bei dem, nach Freddie Francis und Peter Sasdy, nun Roy Ward Baker den Regiestuhl über- und das Drehbuch von John Elder alles unternimmt, um mit Sex und Gewalt zu vertuschen, dass die Handlung in ihrem Kern nichts weiter ist als ein Neuaufguss der in PRINCE OF DARKNESS durchexerzierten Geschichte: Ein junger Mann namens, schon wieder?!, Paul hat es bei seiner Beschäftigung als Frauenaufreißer diesmal übertrieben und sich mit der Tochter des Bürgermeisters eingelassen, weshalb er ins Hinterland flieht und dort ausgerechnet dem Beißer Dracula ins Netz geht, der zusammen mit seinem Diener Klove, von dem wir in den letzten beiden Filmen keine Spur mehr zu sehen bekamen, nach wie vor in seinem weltvergessenen Schlösschen haust. Als von Paul keine Lebenszeichen mehr kommen, brechen sein Bruder und dessen Verlobte Sarah zur Suche nach ihm auf. Die Fährte führt zur Schlossruine und zu den üblichen Beiß- und Pfählattacken bis der Graf, deus ex machina, von einem Blitzstrahl niedergestreckt wird. Schon die Eröffnungsszenen wirft, ähnlich wie die im DRACULA von 1958, dem Publikum unmissverständlich ins Gesicht, worauf es sich in den kommenden eineinhalb Stunden einstellen muss: Eine Fledermaus zieht über Draculas Sarg ihre Kreise, erbricht schließlich einen Schwall Blut - und fertig ist die Reanimation. In SCARS OF DRACULA agiert Christopher daraufhin entmenschlichter als je zuvor. Nicht nur instinktgetriebenes Raubtier muss er sein, sondern zudem ein sadistischer Brotherr, der seinem Sklaven Klove, wenn der nicht pariert, mit wollüstigem Grinsen und einem glühenden Eisen den Rücken versengt. Daneben steht Dracula mehr denn je mit seiner flatternden Verwandtschaft in Kontakt. Die wohl heftigste Szene, noch im Prolog, zeigt uns das Innere einer Dorfkirche, in dem ein aufgebrachter Mob Frauen, Kinder und Greise untergebracht hat, nachdem ein Heer Fledermäuse dort eingefallen ist. Die Söhne, Ehemänner, Väter, die eben des Grafen Schloss abfackelten, trauen ihren Augen genauso wenig wie ich, wenn das Gotteshaus sich als von abgerissenen Armen, aus ihren Höhlen gedrückten Augen und sonstigen Ekeleien entweiht herausstellt. Aber natürlich, die Herrschaft Draculas wird auch diesmal wieder gebrochen, und obwohl er nicht die Hauptfigur darstellt, ist ein Priester, der verdächtige Ähnlichkeit mit Peter Cushing hat, erneut mit von der seelsorgerischen Partie, und insgesamt verlässt sich SCARS OF DRACULA derart auf Altbewährtes, dass mich sein Floppen an den Kinokassen irgendwie nicht verwundert. Mit ihrem, je nachdem ob man BRIDES OF DRACULA mitzählt oder nicht, sechsten bzw. fünften Dracula-Abenteuer sind Hammer längst dem Gesetz der Serie, d.h. der fließbandartigen Herstellung von Produkten, die sich zumindest soweit ähnlich sehen müssen, dass man sie sofort als welche aus der gleichen Gussform erkennt, in die Falle gegangen. Obwohl die Filme, mal abgesehen davon, dass zumindest ihre jeweiligen Enden und Anfänge aufeinander aufbauen, rein inhaltlich wenig bis gar keine narrativen Anknüpfungspunkte zueinander haben – so tragen die Figuren mal englische, mal deutsche Namen, die vom 58er DRACULA etablierte Chronologie wird schon mit PRINCE OF DARKNESS über den Haufen geworfen, mal verwandelt Dracula sich oft und gerne in Fledermäuschen, dann wieder scheint er über diese Fähigkeit gar nicht zu verfügen -, sind sie doch dadurch aneinander gekoppelt, dass sie die immer gleichen Szenen und Situationen verhandeln, zwischen denen die zarten Andeutungen innovativer Idee weniger Platz haben als die zunehmend offenherzigen Dekolletees der durch die Bank weg optisch ansprechenden Darstellerinnen und die zunehmend körpersaftfreundlicheren Gewalteskapaden.

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Abb.21&22: Das Gesetz der Serie: Nahezu identische Szenen in DRACULA HAS RISEN FROM THE GRAVE und TASTE THE BLOOD OF DRACULA - und dies sind nur zwei Beispiele aus einer Fülle von Material, das im Prinzip austauschbar ist, weil absolut kongruent.

Nachdem sich die Hammer-Studios schon in ihrer ersten Adaption von DRACULA weit von Stokers Romanvorlage entfernt haben, wird der Bruch mit der Tradition in den Folgefilmen nur noch deutlicher, wenn sich Dracula in der Verkörperung durch Christopher Lee bereits im nominellen Sequel PRINCE OF DARKNESS zu einer reinen Chiffre entwickelt hat, die mit ihrem literarischen Vorbild kaum mehr als das gemein hat, was man den Grundstock des Vampir-Genres nennen könnte.. Komplett losgebunden von seinem ursprünglichen Kontext wird der Name Dracula zu einer Sammelstelle an Handlungsmustern und Szenenabläufen, die ganz allgemeine dem Horrorfilm eingeschriebene Situationen verhandeln. Zu Beginn jedes Folgefilms ist Dracula zunächst eigentlich mausetot, erwacht dann aufgrund meist haarsträubender Zufälle zu neuem Leben bzw. Untoten-Dasein, bringt die erforderliche Anzahl obgliatorischer Auftritte hinter sich – fast immer dabei: die Nummer, in der als personifiziertes Patriarchat die sexuelle Emanzipation seiner Bräute unterdrückt, indem er sie in letzter Sekunde von einem ihrer Opfer wegreißt, und dieses dann für sich beansprucht -, und stirbt zu guter Letzt, obwohl final, doch mit der Option, im nächsten Film schon wieder putzmunter vor verriegelten Fenstern und entblößten Hälsen zu stehen. Das Gesetz der Serie nötigt Dracula auf, sich in einen im Prinzip endlosen Kreislauf von Sterben und Werden zu begeben - und dass die Hammer-Studios irgendwann gänzlich darauf verzichten, eine innere Chronologie und Kontinuität ihrer Dracula-Abenteuer zu wahren, führt letztlich dazu, dass die Filme beliebig austauschbar werden: jeder Film ist dahingehend eigenständig, dass er in sich den gesamten erforderlichen Fundus an unverzichtbaren Zutaten trägt, um Teil der Serie zu sein, und jeder Film ist dahingehend uneigenständig, dass er, als Teil der Serie, nicht darum umhinkommt, eine gewisse Anzahl an Zutaten unverzichtbar mit sich herumzutragen. Bis zu SCARS OF DRACULA hat die Reihe sich zu einem Geflecht entwickelt, das gefangen scheint in seinen eigenen formalen, ästhetischen und narrativen Postulaten. Wie eine von der Funzel geblendete Fledermaus kreisen die Filme um sich selbst, rezipieren sich selbst, beziehen sich auf sich selbst, und können dabei nur in quantitativer und nicht in qualitativer Hinsicht Land gewinnen.

Dies scheinen auch die Verantwortlichen bei Hammer gespürt zu haben, denn nach der kommerziellen Misere von SCARS OF DRACULA bedeutet DRACULA A.D. 1972 zwar gewissermaßen einen Rückgriff auf vertraute Rezepte in dem Sinne, dass sich nach vierzehn Jahren endlich wieder Peter Cushing und Christopher Lee in ihren Paraderollen gegenüberstehen dürfen, andererseits bricht der Film schon in seinem Prolog mit allem, was zuvor zur gräflichen Geschichte gesagt und gezeigt worden ist: Dieser beginnt im Jahre 1872 und zeigt Van Helsing und Dracula in einem Finalkampf, der nicht etwa aus einem Vorgängerfilm entlehnt, sondern extra für vorliegenden Film gedreht worden ist. Weshalb ausgerechnet 1872? Nun, damit exakt einhundert Jahre später der Nachkomme des dubiosen Gesellen, der, nachdem Van Helsing und Dracula sich synchron vom Leben in den Tod befördert haben, die Asche des letzteren einsammelte und in einem Schächtelchen verwahrte, im modernen London auf hippen Partys herumspringen kann. Dort lebt auch der Nachkomme von Lawrence Van Helsing – wieso eigentlich nicht Abraham? -, Vorname: Lorimar, gemeinsam mit Enkeltochter Jessica, die befreundet ist mit Johnny Alucard, dessen Nachname nichts Gutes erahnen lässt. Bei einer Schwarzen Messe, zu der Johnny die gesamte extrem fesche Clique zusammentrommelt, und die ausgerechnet in der Kirche stattfinden soll, die zu dem Friedhof gehört, auf dem sowohl Van Helsing als auch Dracula bestattet liegen, macht er ihm dann auch alle Ehre, holt den Grafen zurück unter die Lebenden, und führt ihm anschließend Frischfleisch zu, das er aus besagter Clique rekrutiert, sodass es der ermittelnden Polizei nicht schwerfällt, da eine Verbindung herzustellen. Van Helsing wird nach anfänglichem Zögern als Okkultismusspezialist zu Rate gezogen, um gemeinsam die inzwischen verschleppte Jessica zu retten, an der Dracula sich stellvertretend für all das Leid, das ihm der Van-Helsing-Clan gebracht hat, bitterlich rächen will.

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Abb.23-25: Die (toten?) Augen des Grafen Dracula: Selbst im Tiefschlaf kann unser Antagonist seinen hypnotisch-manipulativen Kräften freien Lauf lassen, denn, wie SCARS OF DRACULA zeigt, nicht mal die eigenen Augenlider halten diesen stand. Ansonsten agieren Fledermäuse als seine Organprojektionen - (24) zeigt mit der blutkotzenden aus, ebenfalls, SCARS OF DRACULA die wohl berühmteste und berüchtigste des gesamten Hammer-Universums - jedenfalls so lange bis sie in SATANIC RITES OF DRACULA durch Dziga Vertovs allsehendes Kamera-Auge ersetzt werden, und jedweder antiquierte Bühnenzauber der funktionalen Schlichtheit einer rational durchorganisierten Gesellschaft weichen muss.

Ist es eine gute Entscheidung, eine Geschichte, die normalerweise im Gewand des achtzehnten Jahrhunderts funktioniert, in die zeitgenössische Gegenwart zu projizieren, und dort dann auch noch mitten hinein in eine Jugendszene, deren Vertreter Beatmusik, Joints und Miniröcken verfallen sind? Im Falle von DRACULA A.D. 1972 muss ich das eher verneinen als bejahen. Der Film mag als interessantes Zeitdokument unschätzbare Werte haben – zum Beispiel als Untersuchungsobjekt für die Frage: wie haben Filmproduzenten in den frühen 70ern ihre eigene Gegenwart imaginiert? -, als Film aber bleibt das interessante Zeitdokument vor allem hinter den Erwartungen zurück, die frühere Hammer-Fans an es gehabt haben dürften. Dass DRACULA A.D. 1972 irgendwie rebellisch wirken möchte, zeigt schon die Szene zu Beginn, mit der wir im London der Moderne ankommen. Eine Hausparty tobt wie ein wilder Stier. Zwischen auf Tischen tanzenden Blumenmädchen und eigentlich doch recht brav rockenden Popkapellen sitzen ältere Herrschaften mit verzogenen Gesichtern. Der Gipfel der Revolte: Johnny Alucard zerdeppert eine sicherlich kostbare Statue der Hausbesitzerin! Dass da ein Riss mitten durch den Film verläuft, eine Grenze, die verhindert, dass sich der gotische Mummenschwanz von Teufelsmessen, Blutpentagrammen und Vampirzähnen mit der Agentenmusik unter vollem Bläsereinsatz, den trivialen Liebesproblemchen unserer Helden und dem omnipräsenten Seventies-Style homogen verbinden kann, ist dem Film selbst deutlich eingeschrieben: Einmal erweckt verlässt Dracula niemals den Boden der alten Kirche, die ihm als neue Heimstatt dient, d.h. er bleibt verwahrt in seinem eigenen traditionellen Kosmos, während draußen die Discos pulsieren und eine ganz ordinäre Londoner Polizeieinheit nach ihm forscht. Klar, Kreuze helfen noch immer, und die Sexualmoral bleibt ebenfalls unangetastet, wenn Jessica Van Helsing nicht etwa Promiskuität predigt, sondern einen festen Liebespartner an ihrer Seite hat, der dann trotzdem das Filmende nicht lebend erlebt, und deshalb fällt Hammers Anbiederung an den Zeitgeist unterm Strich wie eine Mühe aus, die auf halber Strecke stehenbleibt und umkehrt.

Beim Nachfolgewerk, THE SATANIC RITES OF DRACULA (1973), führt ebenfalls Alan Gibson Regie und Don Houghton schreibt ein Drehbuch, das Dracula diesmal mit Haut und Haar in der Moderne verortet – vorbei ist es mit Staubfängern wie gruseligen Abteien, Fledermausflügelschlag und nebelverhangenen Friedhöfen. Noch fetziger kommt mir der Soundtrack vor, fast wie aus einem James-Bond-Film, noch rasanter ist die Montage, noch großstädtischer das Gesamtflair, noch inflationärer die Actionszenen, bei denen Autoverfolgungsjagden und Explosionen noch das Mindeste sind. In einem solchen Rahmen kann Dracula freilich nicht mehr im Aristokratenumhang auftreten, sondern gibt den Geschäftsmann: Als Industrieller D. D. Denham regiert er ein Reich aus Konzernen und Untergebenen, ist verstrickt in die satanischen Rituale, die Vertreter der Hochfinanz, der Politik, der Wirtschaft im Geheimen zelebrieren, und verfügt über ein wahres Harem an gefügigen Vampir-Frauen, die im Keller eines alten Fabrikgebäudes untergebracht sind. Lorimar Van Helsing und seine Enkelin Jessica erhalten Unterstützung von Scotland Yard, um den zum Superverbrecher, einem neuen Dr. Mabuse, hochstilisierten Grafen zur Strecke zu bringen, der diesmal, dem megalomanischen Skript gemäß, nichts weniger will als die Weltherrschaft, nachdem er die Erde mit einem todbringenden Virus entvölkert hat – und wären die deplatzierten Bissszenen nicht, könnte man tatsächlich glauben, in einem handelsüblichen Agenten-Trash gelandet zu sein. Dass der Film es ernstmeint mit seinem Bruch mit der eigenen Vergangenheit, verdeutlicht er damit, dass eins seiner beiläufig abgehandelten Themen die Frage nach medialer (Re-)Präsentation bzw. die intertextuellen Verflechtungsmöglichkeiten sind, die uns die modernen Medien bieten. In Draculas Wolkenkratzerschloss sind Kameras allgegenwärtig, Organprojektionen, die für ihn die Funktion allsehender Augen einnehmen, und ihm das, was in und vor seinem technologisierten Schloss geschieht, auf zahlreiche Bildschirme liefern. Sie decken damit das ab, was in früheren Zeiten seine Fledermäuse für ihn geleistet haben, sind Komplizen und willige Dienstboten in einem. Auch die eigentliche Erweckung der Bestie bekommen wir medial vermittelt. Eine Tonbandaufnahme, vom britischen Geheimdienst bei einer der Schwarzen Messen mitgeschnitten, eröffnet den Ermittlern akustische Einblicke in das, was die Finanzelite privat an Schweinereien anstellt, und nur wir bekommen das, was die Agenten bloß hören, dann auch zu sehen, und zwar analog zu dem, was die laufenden Bänder freigeben. Technik wird in SATANIC RITES OF DRACULA als mindestens die neue Weltformel präsentiert, ein Gut, das für gute oder böse Zwecke genutzt werden kann, auf jeden Fall aber nicht mehr zu abstrahieren ist von einer Gesellschaft, in der jedes einzelne Bausteinchen auf sie zurückführt. Während DRACULA A.D. 1972 bei seinem Versuch die zeitgenössische Jugendkultur zu portraitieren ungefähr so wirkte wie ein erzkonservativer Greis, der in einen Hippie-Rock schlüpft und eine Dreadlock-Perücke aufzieht, um ein paar junge Frauen im örtlichen Tanzlokal abzugreifen, ist SATANIC RITES zum einen wesentlich nüchterner, kühler, zum andern auch wesentlich ehrlicher in seiner Kritik und Selbstkritik einer Welt, die nicht nur in ihrem ökonomischen System gemäß der Maxime einer stetigen Progression arbeitet. Zeitlupenaufnahmen, coole Kamerawinkel, noch coolere Ermittler – man könnte meinen, es habe die Karpaten nie gegeben. Nur am Ende, wenn Cushing und Lee einander zum letzten Mal gegenüberstehen, verliert sich der Film doch noch einmal in eine Welt, in der Symbole wirkungsmächtiger sind als von Computern errechnete Daten und Diagramme. Van Helsing versteckt sich in einem Dorngebüsch und lockt Dracula zu sich, der wie von Sinnen in das Gestrüpp hineinprescht und damit sein Todesurteil unterschreibt: Mit Dornenkrone umkränzt und Stigmata an den Händen stürzt er vor seinem Feind zu Boden und empfängt von dem den Tod der Ungerechten durch Pfählung. Es ist die einzige Szene des Films, in der so etwas wie echte Emotionen aufkommen wollen.

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Abb.26-29: Die Todes des Grafen Dracula II: Auch hier lässt das Seriengesetz wenig Spielraum zu. Christopher Lee verendet kläglich in stetig wiederkehrenden Posen - sei es nun in DRACULA HAS RISEN FROM THE GRAVE durch ein gigantisches Kruzifix (26), in TASTE THE BLOOD OF DRACULA durch eine Art Epiphanie (27), in DRACULA A.D. 72 durch den altbekannten Pflock (28) - nur in SATANIC RITES (29) hat man sich die Freiheit genommen, den Grafen - weshalb auch immer - als Christusfigur hochzustilisieren - nur echt mit Stigmata und Dornenkrone! Wenn Friedrich Kittler in DRACULAS VERMÄCHTNIS die These vertritt, dem Grafen werde durch die Schrift selbst der Garaus gemacht, sage ich: bei Hammer stirbt der Graf als im Grunde beklagenswertes Opfer der Genre-Regeln, denen er von Film zu Film erbarmungslos so lange ausgesetzt ist bis er sich in SATANIC RITES so weit zu einem wahren Märtyrer gemausert hat, dass auf seine Vampirhaut einfach nicht mehr Leiden und in meine Augen nicht mehr sadomasochistisch konnotierte Agonien gehen.

Mit THE SATANIC RITES geht eine Ära zu Ende, mit THE LEGEND OF THE SEVEN GOLDEN VAMPIRES beginnt eine neue, zumindest für einen Film lang. Was tut man, wenn keine modernistischen Tendenzen beim Publikum wirklich fruchten wollen? Nun, man schließt sich mit einer Produktionsfirma zusammen, die zurzeit auf Erfolgskurs schippert. Hammer verbündet sich mit den Hongkonger Shaw Brothers, die dabei sind, den Unterhaltungskinomarkt mit Martial-Arts-Kloppern zu überschwemmen und bricht damit erneut mit allem, was man zuvor etabliert hat. Bei den SEVEN GOLDEN VAMPIRES lautet die Vorgeschichte nun wie folgt: Im Transsilvanien des Jahres 1804 pilgert der Chinese Kah zum altbekannten Grafenschloss, um Dracula darum zu bitten, die legendären sieben goldenen Vampire, sein asiatisches Äquivalent, zu neuem Leben und Unheil zu erwecken. Dracula zeigt sich nach anfänglicher Skepsis sehr überzeugt von der Idee. Wieso soll ich mein restliches Leben in diesen tristen Gemäuern verbringen?, denkt er, so, als ob er vorher die Möglichkeit zu verreisen nie in Erwägung gezogen hätte. Allerdings will er nicht in seiner leiblichen Gestalt nach China, sondern nimmt kurzerhand die Kahs an. Hundert Jahre vergehen, Professor Van Helsing befindet sich in Chung King und hält Vorlesungen über Vampirismus an der dortigen Uni, worauf die meisten Studenten wegen des okkulten Blödsinns den Saal verlassen. Nur einer, Hsi Ching, bleibt und erklärt, einer seiner Vorfahren habe bereits gegen die sagenumwobenen Goldvampire gekämpft, und zumindest einen von ihnen beseitigt, bevor sie das mit ihm machten. Außerdem stünde sein Heimatdorf noch immer unter deren Einfluss und wenn Van Helsing wolle, würde er mit ihm und seinen Brüdern, von denen jeder eine andere Kampftechnik in Perfektion beherrscht, dorthin aufbrechen. Ebenfalls mit dabei: Van Helsings Sohn und Hsi Chings Schwester, die sich irgendwie obligatorisch ineinander vergucken, und, als Finanzspritze der Reise, Vanessa Buren, die wiederum ein Auge auf Hsi Ching wirft. Einige Fragen, wie z.B. Van Helsing dem Grafen Dracula überhaupt, wie er mehrmals erwähnt, schon einmal begegnet sein will, wenn der seit einem Jahrhundert in einem fremden Körper im fernen Osten lebt – und nein, Peter Cushing trägt nicht das Make-Up eines Methusalems -, schluckt man besser herunter, denn dass THE LEGEND OF THE SEVEN GOLDEN VAMPIRES niemals mehr wollte, als zu unterhalten, stellt er mit jeder Minute Laufzeit unter Beweis – und, anders als die beiden Vorgänger, fährt er darin recht gut für meinen Geschmack. Christopher Lee soll das Drehbuch gelesen und weit von sich geschleudert haben, weshalb man die Antagonistenrolle mit John Forbes-Robertson besetzte, dessen grelle Schminke man zumindest in zwei Szenen zu sehen bekommt, denn die meiste Zeit läuft er ja, wie gesagt, im Körper des Kah herum. Ansonsten ist der Horroranteil des Films aber sowieso auf das nötige Minimum begrenzt – wenigstens, was Horror im Sinne klassischer Hammer-Filme anbelangt. Entsprechend ist das nunmehr allerletzte Finale zwischen Van Helsing und Dracula in einem Hammer-Film ausgefallen. Nachdem Dracula Kahs Hülle abgestreift hat, nähert er sich dem Professor, der wiederum ihn einfach zu Boden wirft und pfählt, als sei das nichts weiter als eine Fliege zu verscheuchen. In gewisser Weise springen die Hammer-Studios in dieser auffällig lustlos inszenierten Szene immerhin ehrlich mit ihrem Erbe um: Das Publikum, für das THE LEGEND OF THE SEVEN GOLDEN VAMPIRES erscheint, ist ein völlig anderes als das, das bei den Blutspritzern im 58er DRACULA quiekte.

Das eine Drittel Hammer-Horror fällt demnach kaum ins Gewicht gegenüber dem zweiten Drittel Shaw-Horror und vor allem dem letzten Drittel Shaw-Martial-Arts-Kämpfen. Eindrucksvoll wird die kaum gelingen wollende kulturelle Diversität des Projekts anhand der Figuren Van Helsing Vater und Sohn deutlich. Wenn es zur Sache geht, d.h. Hsi Chen und seine für mich kaum auseinanderzuhaltenden Brüder sowie seine kaum ein Wort sagende Schwester sich mit irdischen und überirdischen Halunken herumschlagen, stehen die beiden Briten oftmals unbeteiligt daneben und schauen irgendwie ungläubig zu, was da an blutigen Effekten, präzisen Handkantenschlägen und Tritten, die einen ausgewachsenen Vampiren zwischen die Wolken befördern können, abgeliefert wird. Klassische Vampir-Mythologie gibt es zudem ebenfalls kaum: In Kahs bzw. Draculas Lager liegen hauptsächlich barbusige Frauen auf rituellen Schlachtbänken und die sieben goldenen Vampiren, die allesamt Masken tragen und deren magische Macht sich in goldenen
Fledermausschmuckstückchen manifestiert, befehligen Heere von zombieartigen Geschöpfen, die sich in der – übrigens exzellenten! – Rückblende, die die Geschichte von Hsi Chens Großpapa erzählt, aus der Erde freischaufeln, als seien sie frühe Verwandte von Bianchis ekligen Etruskern in LE NOTTI DEL TERRORE. Ansonsten bewegen diese untoten Leibeigenen sich zu Ross und in Zeitlupe fort, was wohl bedeutet, dass die Hammer-Studios durchaus Kenntnis davon hatten, was im restlichen Europa an Horrorfilmen gedreht wurden – oder sollte das nicht etwa eine überdeutliche Anspielung an die reitenden-Leichen-Epen Amando de Ossorios sein? Damit enden die Querverweise auch schon, und tatsächlich ist THE LEGEND OF THE SEVEN GOLDEN VAMPIREs ein Film, der aus nichts weiter besteht als einer bunten Fassade, die ein leeres Dahinter schmückt, und dabei ein prächtiges Gefieder hat.

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Abb.30: So unfassbar THE LEGEND OF THE SEVEN VAMPIRES - nicht nur als krönender Abschluss der Hammer-Dracula-Serie - sich inhaltlich gestaltet, so merkwürdig sind einige seiner Bilder. Bei diesem - es soll das Schloss des Grafen inmitten der Karpaten zeigen, malerisch gelegen zwischen hohen Bergzinnen und süßen Schafherden, betrachtet von Kah und einem Wegkreuz - fällt mir eigentlich nur ein Wort ein, und das lautet: Photoshop.

An dieser letzten Stationen unserer knappen Reise von 1958 nach 1974 kann man abschließend feststellen: Die Moralvorstellungen, die die Dracula-Filme der Hammer-Studios vertreten, bilden eine Konstante, deren systemstützende, kruzifixsehnsüchtige, altgroßväterliche Bildgewalt man zwar unterstellen kann, sie sei ein bloßes Alibimäntelchen, unter dem die Blut- und Sexorgien umso ungehemmter ausagiert werden können, nichtsdestotrotz führt sie zu einem erzkonservativen Rückenmark, mit dem die Filme ganz aufrecht ihren selbstgeschaffenen Ungeheuern entgegentreten. Was in den frühen Dracula-Filmen freilich noch ein Topos ist, den man (nicht nur) aus der Vampirliteratur übernommen hat – denn gegen die Mächte des Bösen hilft im Zweifelsfall eben nur ein Gott -, das wird in THE LEGEND OF THE SEVEN GOLDEN VAMPIRE umgedeutet in eine Art Idee von einer transkulturellen Gesellschaft, in der jede Religion gleichberechtigt neben der andern stehen darf: nun kann man Dracula, je nach Kulturkontext, nicht mehr nur mit einem Kreuz in die Flucht schlagen, in Asien tut es beispielweise auch eine Buddha-Statue (so wie in DRAKULA ISTANBUL’DA ein islamischer Talisman). In gewisser Weise stellen diese Filme eine der letzten Bastionen einer prä-aufklärerischen Geisteshaltung dar, die mit der Morgendämmerung des modernen Horrorfilms Ende der 60er nach und nach verschwinden wird. Ein letztes Lebewohl auf die Gewissheit: wenn ich den Knoblauch vom Fensterkreuz nehme, werde ich im Gegenzug eine wilde Nacht bekommen.
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