Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Trilogía de la Revolución - Fernando de Fuentes (1933-1936)
1933 ist es erst ein knappes Jahrzehnt her, dass in Mexiko mit der Präsidentschaftswahl Plutarco Elías Calles‘ allmählich die Zentralgewalt wiederhergestellt wird. Seit Anfang 1910 oppositionelle Kräfte um Francesco Madera zum Aufstand gegen den autokratisch regierenden Porfirio Díaz geblasen hatten, versank der zentralamerikanische Staat in der Folge für beinahe fünfzehn Jahre in einem Bürgerkrieg, in dessen Verlauf die unterschiedlichsten Interessensgruppen, Ethnien und Parteien das Land im Prinzip unregierbar gemacht haben. Zwischen dem Sturz Díaz‘ und dem Regierungsantritt Calles‘ wechseln die freilich über nur limitierte Durchsetzungsgewalt verfügenden Staatsoberhaupt allein neunmal, zwischendurch weitet sich der innenpolitische Konflikt durch Intervention der Vereinigten Staaten weit über die Landesgrenzen hinaus aus, teilweise werden Mexiko City und andere Großstädte von marodierenden Soldatentruppen oder Gangsterbanden in Angst und Schrecken versetzt. Selbst unter Calles kommt es bis in die frühen 30er Jahre hinein immer wieder zu lokalen Aufständen.

Dass der Sinn der Bevölkerung in einem solchen Klima, wo der Verfall jeglicher Ordnung wie ein Damoklesschwert drohend über der mühsam erlangten Stabilisierung der gesellschaftlichen Lage schwebt, nicht nach einem Kino steht, das seine Finger in die offenen Wunde der zurückliegenden Jahre voller Militärgewalt, Verrat, Meuchelmord und Bruderkämpfen gräbt, dürfte klar sein. In seinem Goldenen Zeitalter von den frühen 30ern bis in die 50er Jahre wird Mexiko international, wenn man mal von den subversiven Eskapaden eines Luis Bunuel wie vor allem LOS OLVIDADOS (1950) einmal absieht, für seine Melodramen bekannt, in denen Stars wie die Diven Mariá Félix und Dolores del Río, der singende Cowboy Eulalio González oder gestandene Mannsbilder wie Pedro Armendáriz hauptsächlich in zeitlose Liebesgeflechte verstrickt werden. In diesen Filmen dienen die ökonomischen, gesellschaftskritischen, sozialpolitischen Kommentare – wie beispielweise in den kürzlich von mir auf dem Cinema Ritrovato begutachteten EL REBOZO DE SOLEDAD (Roberto Gavaldón, 1952) oder MACLOVIA (Emilio Fernández, 1948) – meist als bloße Hintergrundfolie, vor denen sich die üblichen Konstellationen von verbotenen Beziehungen, folgenschweren Verwechslungen und Selbstopferung in recht schematischer, d.h. Hollywood-konformer Weise abspielen.

Schon zu Beginn der Mexikanischen Tonfilmzeit hat allerdings bereits Fernando de Fuentes (1894-1958), seines Zeichens studierter Philosoph, Journalist und zeitweilige linke Hand des Revolutionsführers Venustiano Carranza, den Versuch unternommen, in seiner sogenannten TRILOGÍA DE LA REVOLUCIÓN sowohl von eher rührseligen Schmachtfetzen Abstand zu nehmen als auch davon, die zurückliegenden Bürgerkriegsjahre in irgendeiner Weise zu glorifizieren oder auch nur zu romantisieren. Vom zeitgenössischen Publikum geschmäht und vom Ausland gleich gar nicht zur Kenntnis genommen, erfuhren seine drei zwischen 1933 und 1936 gedrehten, und nicht personell oder handlungstechnisch, sondern allein durch Fuentes Haltung gegenüber der ontologisch fassbaren Wirklichkeit miteinander verbundenen Filme erst ab den 60er Jahren ihre Aufwertung als Meilensteine eines Kinos, das es weniger kümmert, was die Außenwelt von ihm an Traumbildern fordert, sondern dem es um die Darstellung einer – wie auch immer gearteten und definierten – „Wahrheit“ geht. Im Folgenden möchte ich auf sämtliche Bestandteile der Trilogie – EL PRISIONERO TRECE (1933), EL COMPADRE MENDOZA (1934) sowie VÁMONOS CON PANCHO VILLA! – relativ kurze kritische Schlaglichter werfen, und vor allem herausstreichen, was für ästhetische, formale und narrative Methodiken es sind, die sie als Dreiergespann zusammenhalten.

EL PRISIONERO TRECE
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Produktionsland: Mexiko 1933
Regie: Fernando de Fuentes
Drehbuch: Fernando de Fuentes, Manuel Ruiz
Darsteller: Alfredo del Diestro, Luis G. Barreiro, Adela Sequeyro, Arturo Campoamor, Adela Jaloma

Julián Carrasco ist wohl einer der heftigsten Schluckspechte der Filmgeschichte: Gleich im Prolog von EL PRISIONERO TRECE lernen wir den Colonel von seiner unliebsamsten Seite kennen. Beim Kartenspiel mit einem Zechbruder hat er derart zügellos zur Flasche gegriffen, dass er kaum noch die Karten in seinen Händen erkennt. Anschließend poltert er wegen einer Nichtigkeit gegen seine Ehefrau, Marta, und ihren gemeinsamen kleinen Sohn Juan los, und droht sogar, von seiner Schusswaffe Gebrauch zu machen. Marta wiederum hat endgültig die Nase gestrichen voll von den Exzessen ihres Angetrauten, packt in einer Nacht-und-Nebel-Aktion ihre wichtigsten Halbseligkeiten, und verschwindet mit dem Knaben auf Nimmerwiedersehen. Jahre verstreichen, wir schreiben Ende 1914, offiziell an der Regierungsmacht befindet sich General Victariano Huerta, dem Carrasco als beflissener Handlanger gerne dabei behilflich ist, Mexiko von Oppositionellen zu säubern. Ohne jemals wieder Kontakt mit dem Vater gehabt zu haben, ist inzwischen auch Juan zu einem jungen Erwachsenen herangereift, hat bereits eine Freundin namens Gloria, und wohnt zusammen mit Marta in einer Wohnung gar nicht allzu weit entfernt von dem Regierungsgebäude, wo Carrasco noch immer eifrig dem Schnaps zuspricht und seine Macht ebenso eifrig für den eigenen Vorteil nutzt. Eine seiner liebsten Einnahmequellen stellen Geldspenden von Familien dar, die ihre Söhne vor der anstehenden Hinrichtung loskaufen wollen, und als Mutter und Schwester des inhaftierten José Ramos, der im Morgengrauen den Körper voller Blei bekommen soll, bei ihm um Begnadigung von Sohn und Bruder bitten, sieht er darin ein besonders lukratives Geschäft. In ihrer Notsituation sind die Ramos gleich bereit, Carrasco und seinen Helfershelfern ihren gesamten Grundbesitz abzutreten, und da der Colonel selbst im Vollrausch noch sein Wort hält, wird der Verurteilte noch am gleichen Abend in die Freiheit entlassen. Problem ist nur: Damit dem Erschießungskommando am nächsten Morgen nicht das Fehlen eines Delinquenten auffällt, muss Ersatz gefunden werden. Carrasco schickt also einen seiner Untergebenen in die nächtlichen Straßen von Mexiko City mit dem Auftrag, irgendjemanden aufzugreifen, der entfernte Ähnlichkeit mit José Ramos hat, und an seiner Stelle aufs Schafott geführt werden kann – egal, um wen es sich dabei handle. Wie es der Zufall und das perfide Drehbuch will, ist es ausgerechnet Carrascos eigener Sohn auf dem Weg zu seiner Liebsten, der den Häschern ins Netz geht…

EL PRISIONERO TRECE ist der wohl grobschlächtigste, krudeste, schwärzeste Film aus Fuentes Revolutionstrilogie. Das liegt nicht nur daran, dass er technisch noch sehr in den Fußstapfen der Stummfilmzeit steht, von der sich Mexiko erst kurz zuvor verabschiedet hat, sondern vor allem an der reichlich unsentimentalen Geschichte: In EL PRISIONERO TRECE gibt es, was auch für die beiden Folgefilme gelten wird, keine wirkliche Identifikationsfiguren, sondern einzig Menschen, die vom Schicksal in bestimmte Situationen geführt werden, und dort entweder – wie Juan oder Marta – nichts weitertun können als sich ohnmächtig zu fügen, oder aber – wie Carrasco – nach dem schlechtesten Anteil ihres Gewissens zu handeln. Dass der Colonel als ein Scheusal vor dem Herrn gezeichnet wird, das, wenn es seinem eigenen Vorteil dient, noch die eigene Mutter an den Teufel verschachern würde, und die ihm unterstellten Militärs entweder als mindestens genauso gierige Selbstbereicherungsmaschinen oder als kritiklos noch jeden Befehl hinnehmende Ausführungsorgane ohne humane Züge, macht es genauso unmöglich, in deren Reihen irgendeinen Sympathieträger oder gar Helden ausfindig zu machen, wie auf der entgegengesetzten Seite: Wenn sich die Gelegenheit ergibt, ist José gerne bereit, seine Kameraden im Stich zu lassen und zusammen mit Mama und Schwester in sein vorheriges aristokratisches Leben zurückzukehren, was ein ähnlich ernüchterndes Licht auf die angeblich hehren Ideale der Revolutionäre wirft wie die Tatsache, dass die meisten von ihnen, angesichts der auf sie gerichteten Exekutionsgewehrmündungen, deren tödliche Blicke nicht, wie sie angekündigt haben, stolz erwidern, sondern (verständlicherweise) in Todesangst vor ihnen ins Schlottern geraten. Selbst Juan, der als personifiziertes Opfer der Umstände noch am ehesten zur Identifikation hätte einladen können, wirkt wie ein verschüchtertes Bübchen, das von dem über ihm zusammenstürzenden Ereignissen heillos überfordert ist, und ständig am Heulkrampf entlanglaviert.

Während all diese Punkte es wahrscheinlich gewesen sind, die dem zeitgenössischen Publikum als viel zu dicht an der erlebten Wirklichkeit der Bürgerkriegsjahre aufstießen, kann ich den Film aus heutiger Sicht nur für seine Kompromisslosigkeit begrüßen: Die Montage mag zuweilen holprig und nicht frei von Anschlussfehlern sein, teilweise hat der Film, was seine Kameraarbeit betrifft, etwas allzu Statisches, und dass für die meisten Nebendarsteller Laien komplett ohne Schauspielerfahrung verpflichtet worden sind, sieht man mancher Szene überdeutlich an – obwohl das natürlich, wie man weiß, alles keine Argumente sind, die mich einen Film nicht frenetisch lieben lassen, im Gegenteil. Aber all diese vermeintlichen Defizite unterstützen die erbarmungslose, parabelhafte, von hervorragenden Hauptdarstellern getragene Story, wie ich finde, noch zusätzlich derart, dass EL PRISIONERO TRECE zugleich den ungeschliffensten, für mich persönlich aber auch den eindrucksvollsten, weil erschütterndsten Film aus Fuentes Revolutionstrilogie darstellt. Einen Wehmutstropfen gibt es indes: Da die zeitgenössische Filmzensur sich überhaupt nicht mit dem Gedanken anfreunden konnte, ein Werk auf die Leinwände zu lassen, in dem ein Vater verantwortlich am Tod des eigenen Sohns ist, musste Fuentes auf ein nicht nur versöhnliches, sondern schlicht bescheuertes Alternativende ausweichen: Dort erwacht Carrasco, nachdem gerade die Gewehre auf Juan angelegt worden sind, am Spieltisch der Eröffnungsszene aus einem alkoholinduzierten Fiebertraum, begreift, dass die komplette Filmhandlung ihm einzig und allein der böse Geist des Rums vorgegaukelt hat, und schwört, fortan nie wieder einen Tropfen von dem Teufelszeug anzurühren, und sich stattdessen vorbildlich um Frau und Kind zu kümmern. Wie sehr mit der heißen Nadel gestrickt dieses Happy End dem Film seinerzeit aufgepfropft worden ist, zeigt allein folgende Überlegung: Wenn, wovon auszugehen ist, da der kleine Juan im Jahre 1914 bereits die Pubertät hinter sich hat, zu Beginn aber erst schätzungsweise fünf oder sechs Jahre alt ist, die Anfangsszene von EL PRISIONERO TRECE irgendwann um die Jahrhundertwende spielt, muss Carrasco wahrhaft prophetische Gaben besitzen – denn wie sonst hätte er in seinem Alkoholdelirium voraussehen können, dass über eine Dekade später in Mexiko ein Bürgerkrieg toben und General Huerta kurzzeitig das Amt des Staatsoberhaupt bekleiden wird?

EL COMPADRE MENDOZA
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Produktionsland: Mexiko 1934
Regie: Fernando de Fuentes
Drehbuch: Juan Bustillo Oro
Darsteller: Alfredo del Diestro, Carmen Guerrero Franco, Antonio R. Frausto, Luis G. Barreiro

Während der Revolutionsjahre ist Rosalío Mendoza wie das sprichwörtliche Fähnchen im Wind, vielleicht auch wie ein Chamäleon, das die Farbe seiner Haut nach derjenigen der Umfelde ausrichtet, in die es versetzt wird: Seine Hacienda steht prinzipiell jedem offen, der dort Einlass gewährt. Wenn es Zapatisten zu ihm verschlägt, lässt er seinen Haushälter Atenógenes das gerahmte Bildnis des Generals Huerta in seinem Arbeitszimmer durch ein Gemälde Emiliano Zapatas ersetzen, und wenn Regierungstreppen bei ihm rasten, hat sich das Gesicht an der prominenten Wandstelle auf wundersame Weise in die entgegengesetzte Richtung verwandelt. Eine Weile fährt Mendoza mit dieser Taktik prächtig, und auch sonst läuft es im Leben des gutsituierten Großgrundbesitzers nicht schlecht: Mit Dolores findet er letztlich sogar eine ungleich jüngere Frau, die ihn nicht unbedingt liebt, aber respektiert, und die bereit ist, mit ihm das Band der Ehe zu knüpfen, um in den unsicheren Zeiten eine gesicherte Existenz und ein Dach über dem Kopf zu erhalten. Auf der Hochzeitsfeierlichkeit knallen indes nicht nur die Korken: Da auf Mendozas Grund und Boden einige Zapatisten von der Mexikanischen Armee gefangengenommen worden sind, stürmen diese wiederum sein Freudenfest, und verurteilen ihn, und einige Anwesende, ihrerseits zum Tode. Nur durch das gute Zureden General Felipe Nietos, einem Cousin Zapatas höchstpersönlich, bleibt es Mendoza erspart, sein junges Eheglück gegen einen frühen Tod eintauschen zu müssen. Aus Dankbarkeit, erneut seinen Hals aus der Schlingen gezogen zu haben, bittet er Nieto, zum Patenonkel seines ungeborenen Sohns zu werden, der dann auch seinen Namen, Felipe, tragen soll. Nieto erklärt sich bereit, die Patenonkelschaft zu übernehmen, was innerhalb der Mexikanischen Kultur ein Bündnis bedeutet, das an Dicke noch das der Freundschaft übersteigt: Im Falle des Todes Mendozas wird Nieto die Vaterrolle für den kleinen Felipe einnehmen. Obwohl die Gegend zunehmend von Regierungstruppen kontrolliert wird, schafft es Nieto dennoch, seinem Freund und seinem Patenkind in den Folgejahren immer wieder heimliche Besuche abzustatten - immer unter dem Risiko, die Abstecher ins Feindesgebiet mit dem Leben zahlen zu müssen. Womit Nieto, Dolores, und vor allem der kleine Felipe, der seinen Patenonkel abgöttisch verehrt, nicht gerechnet haben: Als eine gesamte Jahresernte Mendozas mitsamt dem Zug, der sie in die Hauptstadt transportieren sollte, von den Zapatisten in Schutt und Asche gelegt worden ist, die finanzielle Situation der Familie deshalb zunehmend desolater wird, und er von Angehörigen der Mexikanischen Armee, die zeitweise bei ihm einquartiert sind und von seiner engen Verbindung zu Nieto erfahren haben, versichert bekommt, würde er dafür sorgen, dass der führende Zapatist ihnen ins Netz ginge, solle das sein Schaden nicht sein, gerät das Fähnchen Mendoza erneut unter den Einfluss eines wütend pustenden Winds…

Dass Fuentes Kino sich seit dem (im positiven Sinne) ungehobelten Vorgänger technisch und formal weiterentwickelt hat, ist bei EL COMPADRE MENDOZA nicht zu übersehen: Es gibt nun klug choreographierte Kamerafahrten, die Situation und Figuren akzentuieren, der Schnitt ist wesentlich geschmeidiger, insgesamt macht der Film einen wesentlich professionelleren Eindruck, was noch durch die - im Übrigen aus der Feder des "Vaters" des mexikanischen Horrorfilms, Juan Bustillo Oro, stammende - ungleich komplexere Handlung verstärkt wird, die in einem Zeitrahmen von etwa einem Jahrzehnt nicht nur die verschiedenen politischen Umwälzungen innerhalb des Bürgerkriegs nachzuzeichnen versucht, sondern zugleich die, erneut parabelhafte und zeitungebundene, Geschichte einer Familie, einer Freundschaft und eines Verrats erzählt – und dabei ungleich subtiler zu Werke geht als noch EL PRISIONERO TRECE. EL COMPADRE MENDOZA ist leiser, behutsamer, subtiler – dass beispielweise zwischen Dolores und Nieto offenbar mehr als eine reine freundschaftliche Beziehung besteht, veranschaulicht Fuentes allein über den einen oder anderen Blick, den die beiden einander, wenn sie sich unbeobachtet von Mendoza und uns, ihren Zuschauern, meinen, verstohlen zuwerfen: ein Understatement, das in mir sofort Assoziationen an die ähnlich unausgesprochene, und doch irgendwie spürbar in der Luft liegende Liaison zwischen Ethan Edwards und seiner Schwägerin in John Fords THE SEARCHERS wachruft -, und dabei auf keinen Fall weniger herzzerreißend.

Obwohl man das Ende lange schon voraussieht, ändert das nicht an dem Kloß im Hals, den man dann tatsächlich verspürt, wenn man die steifgewordenen Füße Nietos im Abendwind pendeln sieht, und obwohl eine Figur wie Nieto und einige der Zapatisten dann doch eher als angenehme Zeitgenossen auftreten, fällt es auch in EL COMPADRE MENDOZA schwer, eine Person ausfindig zu machen, mit der man gerne Kaffeetrinken gehen würde: Für Mendoza - erneut von dem mich unweigerlich an Heinrich George erinnernden, schlicht großartigen Alfredo Del Diestro verkörpert! - hat man im Grunde bereits relativ früh nicht viel mehr als Verachtung übrig, während seine Frau, Dolores, in ihrer gesellschaftsbedingten Unscheinbarkeit sowieso zur Handlungsunfähigkeit verdammt ist, und man sich selbst bei Nieto, wenn er, gerade frisch von einem Scharmützel kommend, im Schutz der Nacht zu seinem Patenkind schleicht, ernsthaft fragen muss, inwieweit seine Besuche bei den Mendozas nicht primär von dem Verlangen geprägt sind, Dolores um sich zu haben. Der einzige weiße Fleck in dem zutiefst korrumpierten, selbstsüchtigen, machtbesessenen Ensemble trägt, erneut, die Gestalt eines Kindes: Der kleine Felipe ist, bei seinem Alter wenig verwunderlich, nicht nur genauso naiv und blauäugig wie der ungleich ältere Juan in EL PRISIONERO TRECE, sondern begreift bis zum bitteren Ende nicht, was um ihn herum eigentlich vor sich geht. Wenn er gemeinsam mit der Mama von der Hacienda flüchtet, wo die Revolutionstruppen zum letzten Gefecht mit den Zapatisten blasen, und, als er sie weinen sieht, sie damit zu ermuntern versucht, dass der Patenonkel sie doch auch in ihrer neuen Heimat besuchen kommen könne, dann schüttet Fuentes noch eine zusätzliche Schaufel Bitterkeit in seinen Film, denn das böse Erwachsen steht dem unbedarften Buben ja erst noch bevor. Doch auch Fuentes zurückhaltend beobachtende Weise, seine Geschichte zu erzählen, trägt dazu bei, den Betrachter auf eine Distanz zu halten, die allerdings keinen Schutz bedeutet. Dreh- und Angelpunkt ist nahezu ausschließlich Mendozas Hacienda, der die Kamera interessiert, jedoch ohne Mitleid dabei zuschaut wie die Zeit über sie und ihre Bewohner hinwegfegt, und letztlich selbst für die Ewigkeit geschmiedete Bündnisse wie eine Männerfreundschaft auseinanderpflückt.

VÁMONOS CON PANCHO VILLA!
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Produktionsland: Mexiko 1936
Länge: 92 Minuten
Regie: Fernando de Fuentes
Drehbuch: Fernando de Fuentes, Xavier Villaurrutia
Darsteller: Antonio R. Frausto, Domingo Soler, Manuel Tamés, Ramón Vallarino, Carlos López

Lasst uns Pancho Villa folgen! Gemeint ist natürlich nicht der philippinische, 1925 im Alter von gerade mal dreiundzwanzig Jahren verstorbene Fliegengewichtsboxer, dem Mark Kozelek einen ergreifenden Song gewidmet hat, sondern der mexikanische Revolutionär, der zwischen 1910 und 1920 ist Villa für den Norden des Landes das darstellte, was Emiliano Zapata für den Süden gewesen ist: Die Anhänger Porfirio Díaz‘ sehen in ihm einen Banditen, die Landbevölkerung und seine Waffengefährten verehren ihn noch nach seinem frühen Tod 1923 – er verstirbt, wie Zapata drei Jahre früher, an den Folgen eines Attentats – als nahezu mythische Figur, die mittels Volkslegenden Unsterblichkeit erlangt. Leben und Sterben von Zapata hat sich Hollywood bereits in den frühen 50ern angenommen, zu einem Zeitpunkt, als Mexiko unter Präsidenten wie Camacho, Valdés oder Cortines innenpolitisch und wirtschaftlich wieder auf einigermaßen stabilen Beinen steht. VIVA ZAPATA! gerät mit Marlon Brando in der Titelrolle und unter der Regie von Elia Kazan zu einem veritablen Historienfilm über die korrumpierende Kraft der Macht – und bleibt, für Hollywood-Verhältnisse, schon nahezu zurückhaltend, was Faktoren wie Pathos oder Kitsch betrifft. Bereits 1936 aber hat Mexiko selbst mit dem dritten Teil von Fuentes‘ Revolutionstrilogie eine eigene Superproduktion über die Wirren der Revolution in die Lichtspielhäuser entlassen. Erstmals steht Fuentes ein ordentliches Budget zur Verfügung, zudem stellt die Regierung der mit 1 Million Pesos bis dato teuersten Filmproduktion des Landes überhaupt ein unglaubliches Kontingent an Ressourcen zur Verfügung. Von Uniformen, Pferden, Waffen bis hin zu ganzen Regimentern ist da alles dabei, was Fuentes braucht, um sich von den vergleichsweise kammerspielartigen, zumeist in Privaträumen sich abspielenden Vorgängerfilmen zu lösen, und ein Schlachtfeldpanorama des Bürgerkriegs zu inszenieren. Freilich erzählt VÁMONOS CON PANCHO VILLA!, im Gegensatz zu VIVA ZAPATA!, dennoch viel mehr die Geschichte einiger namenloser Bauern, die dem titelgebenden Revolutionsführer auf Gedeih und Verderb folgen, und die in keinem Geschichtsbuch der Welt jemals eine Erwähnung finden werden, die über die als amorphe Masse hinausgehen würde.

Die Löwen von San Pablo nennen sich die sechs Freunde, die, als die Not der Landbevölkerung unter Díaz unerträglich wird, ihren Schwur auf Villa leisten, und gemeinsam mit seiner Guerilla-Armee gegen das Staatsmilitär losmarschieren. Don Tiburico Maya ist, aufgrund seines fortgeschrittenen Alters, Anführer der kleinen Gruppe, während Miguel Ángel del Toro, genannt „Das Kalb“, am anderen Ende der Altersskala den tatenfrohen, jedoch noch weitgehend unerfahrenen Buben gibt, den die Revolution zum Mann machen wird. Zwischen diesen beiden Pole liegt ein breites Spektrum unterschiedlichster Typen, angefangen vom etwas fettleibigem Tollpatsch, der fast immer danebenschießt, nur dann nicht, wenn es drauf ankommt, über den bärbeißigen Draufgänger, der Rum statt Wasser trinkt, bis hin zum aufopferungsvollen Tatmenschen, der sein Leben für das der Gruppe gibt. Unsere Protagonisten erleben in den neunzig Minuten, die VÁMONOS CON PANCHO VILLA! benötigt, um sein Publikum von der These zu überzeugen, dass man, geeint von einer Idee, nur im Kollektiv wirklich stark ist, wenn jeder bereit ist, seinen Kopf für seine Brüder hinzuhalten, zahlreiche Abenteuer, die aber allesamt wirken, als seien sie vollkommen dem Leben abgeschaut, d.h. Fuentes Film ist für ein Kriegsdrama der mittleren 30er so wirklichkeitsbezogen wie man nur sein kann, nicht unnötig melodramatisch, nicht unnötig angereichert mit Zufallswendungen oder deplatzierten Liebesgeschichten, stattdessen wird zwar nicht unbedingt nüchtern, aber unverblümt gezeigt, was mit so einer Revolution alles zusammenhängt, das Angenehme wie das Unangenehme, der Rausch nach einem erfolgreich gemeisterten Gefecht wie der Verlust eines Kameraden, der Rausch beim abendlichen Besäufnis in einer eroberten Stadt wie die Entbehrungen draußen in der Wüste, die Macho-Sprüche wie die nur mit Mühe unterdrückten Tränen oder Ängste. Dabei ist VÁMONOS CON PANCHO VILLA! ein Männerfilm im wahrsten Sinne des Wortes: Frauen tauchen eigentlich nur zu Beginn auf, danach verabschiedet sich der Film in einen Kosmos der Selbsterhaltung, der Befehle, des blutgetränkten Sandes. Ernst Jüngers Formel vom Kampf als innerem Erlebnis passt, glaube ich, auf den Prozess, den jeder unserer Löwen in der Folge durchläuft, wie die Faust aufs Auge: Wenn das Finale nur Tiburico lebend erreicht, dann liegt hinter ihm ein Weg, der rein in Kilometern genauso lang ist wie der, den er in seinem Innern hat zurücklegen müssen.

Auffällig ist – und eine Texttafel zu Beginn sagt das ganz deutlich -, dass VÁMONOS CON PANCHO VILLA! sich weitgehend eines rückblickenden Urteils über Gräuel und Glorie der Revolution enthält. Der Film ergreift keine Partei, feiert selbst Villa nicht über Gebühr, tut so, als wolle er einfach illustrieren, was Männern zu einem bestimmten Zeitpunkt in der mexikanischen Geschichte widerfahren ist, und wie sie damit umgegangen sind. Sicher, für einen kritisch-pazifistischen Blick bietet der Film noch immer genügend Widerhaken, an denen er sich verfangen kann, und wenn zu Schlachtengemälden in grimmigem Schwarzweiß eher muntere Folklore ertönt, oder wenn einer der Löwen bei einem sinnlosen Kneipenduell sein Leben lassen muss bzw. freiwillig aus Gründen der Ehre gibt, weil er bei einer Wette unterlegen ist, dann kann man darüber durchaus die Stirn in Falten ziehen, und sich fragen, was für ein Kriegerethos das ist, das nicht unterscheidet zwischen Tod auf dem Schlachtfeld und Tod vor dem Whiskeyfass. Für all die etwas plakativen komödiantischen Einlagen oder manche etwas, meiner Meinung nach, ausgewalzte Saufszene entschädigen aber die letzten fünf bis zehn Minuten, die wohl jeden irgendwie berühren, der einen Sinn für durch Bilder vermittelte Emotionen besitzt. Zu verstecken braucht VÁMONOS CON PANCHO VILLA! sich dort nämlich, finde ich, weder vor zeitgenössischen französischen Noir-Klassikern von Renoir oder Carné (mit denen Fuente eine ähnliche Ästhetik teilt) noch vor früheren Kriegsfilmen aus der Schmiede von Pabst oder Milestone (wenn auch bei Fuente das Verheizen von Menschenmaterial noch wesentlich stärker mit Sinn versehen daherkommt.) Dass mich dieser abschließende Teil der Revolutionstrilogie weitaus weniger berührt hat als die beiden Vorgänger, liegt wahrscheinlich daran, dass VÁMONOS CON PANCHO VILLA! vielleicht derjenige der drei Filme ist, den man noch am ehesten zu Zwecken der Glorifizierung und Romantisierung missbrauchen könnte, auch wenn Fuentes‘ Intention sicherlich eine ganz andere gewesen ist.

Wie anfangs erwähnt, keiner der drei Filme hat seinerzeit in Mexiko, was Kritikerlob oder Einspielergebnisse betrifft, großartig etwas reißen können, und im Falle von VÁMONOS CON PANCHO VILLA! sogar zum Bankrott der beteiligten Produktionsfirma geführt. Dennoch: Wie so viele zunächst verkannte Werke der Kinogeschichte sind alle drei Ausflüge, die Fuentes zwischen 1933 und 1936 in die unmittelbare Vergangenheit seines Heimatlandes unternimmt, wert, auch hierzulande breiter rezipiert werden, und für jeden hiermit nachdrücklich empfohlen, der einmal einen mexikanischen Film sehen möchte, bei dem es sich NICHT um einen des Horrors oder einen von Bunuel handelt.
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Originaltitel: Brazil: A Report on Torture

Produktionsland: USA 1971

Regie: Saul Landau / Haskell Wexler

Darsteller: Politische Gefangene und Folteropfer der Brasilianischen Militärdiktatur
Im Januar 1971 wird der Schweizer Botschafter in Brasilien von einer Gruppe Untergrundaktivisten entführt. Ihre Forderung: Sie werden ihn nur dann lebend ausliefern, wenn im Gegenzug ihren Kameraden, die teilweise seit Beginn der brasilianischen Mili-tärdiktatur 1964 als politische Gefangene hinter Gittern sitzen, die Freiheit geschenkt wird. Aufgrund des öffentlichen Drucks gerade des Auslands erfüllt der derzeitige Machthaber, der für seine Säuberungsaktionen und Niederschlagung noch der leisesten Opposition berüchtigte General Emílio Garrastazu Médici, die Wünsche der Revolutionäre und lässt siebzig Männer und Frauen, allesamt in miserabler physischer wie psychischer Verfassung, nach Chile ausfliegen. In einem Lager für politische Flüchtlinge nahe Santiago erhalten sie kurz darauf Besuch von zwei US-amerikanischen Reportern, Saul Landau und Haskell Wexler.

In ihrem Buch THE BODY IN PAIN von 1992 führt die US-amerikanische Literaturwissenschaftlerin und Essayistin die Erfin-dung der Kultur auf die zivilisatorisch erlernte Fähigkeit des Menschen zurück, seinen Schmerz einer produktiven Objektivierung zu unterziehen. Selbst wenn jemand, der unerträgliche (physische) Schmerzen erleidet, zu keiner Lautäußerung außer Wimmern und Winseln mehr fähig ist, können (und müssen) seine Mitmenschen diese unartikulierten Laute, um sie zu bändigen, letztlich wieder in ein System integrieren, das sie ordnet, beschreibt, letztlich konsumierbar macht. Wo vom Schmerz gesprochen wird, argumentiert sie, artikuliert sich niemals dieser selbst. Der Schmerz bleibt unaussprechbar, unbeschreiblich für die menschliche Sprache. Er besitzt keinen Referenten. Der muss ihm erst gegeben werden, für uns, die ihn unerträglich finden. Genau in diesem Übergang von etwas, das außerhalb der Sprache liegt, hin zu einer sprachlichen Objektivierung sieht Scarry einen kritischen Punkt. Klar unterteilt sie ihr Buch in zwei Unterkapitel, MAKING und UNMAKING. Ersteres beschreibt die schmerzlindernde Wirkung, die es haben kann, wenn wir unsere Qual in sprachliche Ausdrücke ummünzen. Ich führe Tagebuch, während ich an Krebs strebe. Ich schreibe einen Brief nach Hause von der Front. Ich verfasse einen Gedichtzyklus, nachdem meine Frau mich verlassen hat. Zweiteres aber beschreibt den entgegengesetzten Prozess: Ein Mensch wird gefoltert. Die Folterer monopolisieren die Schmerzauslegung und Schmerzobjektivierung. Sie machen die Sprache zu ihrem Komplizen. Gemeinsam verstärken sie den bereits vorhandenen Schmerz ins Unermessliche. Außerdem machen sie ihn nutzbar. Ein vom Herrschaftsapparat bereitgestelltes Koordinatensystem wartet nur darauf, ihn aufzunehmen, und für seine Zwecke zu verwenden. Scarry schreibt: „Das Geständnis ist der konkreteste Beweis für den Versuch des Folterers, Laute hervorzulocken, die dann dem Sprecher entrissen werden, um sie zum Eigentum des Regimes zu machen.“ Alle Rede über Folter ist Täterrede, könnte die Kurzform dieser These lauten, für deren Untermauerung BRAZIL: A REPORT ON TORTURE das filmische Äquivalent darstellt.

Während Saul Landau Anfang der 70er als prominente Figur der US-amerikanischen Linken fungiert – (und neben vorliegendem Film zusammen mit Raoul Ruiz und Nina Serrano noch eine weitere sehenswerte Dokumentation, nämlich ¡QUÉ HACER! über die Präsidentschaftswahlen in Chile Anno 1970 gedreht hat, aus der Salvador Allende zwar als Sieger hervorgehen, dann aber, 1973, beim Militärputsch durch Augusto Pinochet den Freitod wählen wird) -, hat Wexler beachtliche Karriere in Hollywood gemacht: Bereits 1966 hat der Kameramann, der immer wieder als einer der einflussreichsten seiner Zunft gehandelt wird, für seine Photographie bei Mike Nichols WHO’S AFRAID OF VIRGINA WOOLF? seinen ersten Oscar einstreichen können – (der zweite wird 1976 für Hal Ashbys Woody-Guthrie-Biographie BOUND FOR GLORY folgen) -, und 1968 mit MEDIUM COOL, seinem Debut-Film als Regisseur, ein eindrucksvolles Beispiel für einen selbstreferentiellen Balanceakt zwischen Inszenierung und Dokumentation vorgelegt. Dass ihr Gemeinschaftsprojekt BRAZIL: A REPORT ON TORTURE indes niemals in die Nähe einer Oscar-Nominierung kommen wird, das dürfte Landau und Wexler allerdings selbst klargewesen – und herzlich egal gewesen sein.

Landau und Waxell verzichten auf jegliche plakativen Schauwerte, auf jeglichen emotionalen Effekt, auf jegliche Glättung ihres Rohmaterials, jegliche politische Stellennahme und damit selbstverständlich auf jegliche Möglichkeit, die Gespräche, die sie mit den Folterüberlenden in Chile geführt haben, in irgendeiner Form für mich konsumierbar zu machen. Tatsächlich besteht BRAZIL: A REPORT ON TORTURE aus nichts anderem: Ohne Off-Kommentar, ohne Texttafeln oder sonstige Kontextualisierungs-Unterfangen lassen Landau und Waxell die jungen Männer und Frauen, die kurz zuvor erst aus den Folterkellern ihrer Heimat entlassen worden sind, der Kamera (und uns) berichten, was ihnen dort alles widerfahren ist. Man lebt in Freiheit, die meisten Wunden sind geheilt, man ist umgeben von Kindern, Dschungel, einer insgesamt friedvollen Atmosphäre, fast schon paradiesisch mutet das Camp an, in dem sie leben, könnte ein Garten Eden sein. In manchen Szenen, wenn die Dissidenten scheinbar unbeschwert miteinander herumalbern, kann man daran glauben, dass auf sie ein Leben wartet, das das Potential besitzt, die zurückliegenden Martern vergessen zu lassen. Außerdem gibt es da noch den gemeinsamen Kampf, der immer wieder in Nebensätzen, in komplizenhaften Blicken, in Prophezeiungen der chiliastisch herbeigesehnten Weltrevolution hindurchschimmert, an den man sich klammern kann, wenn man Halt braucht. Dann aber ist Landaus und Wexells Kamera, so schmucklos und brutal wie man nur sein kann, auf ihre Gesichter gerichtet, und animiert sie zum Sprechen, und das, was ich da höre, stanzt nicht nur Risse in die vermeintlich intakte Oberfläche, sondern reißt sie gleich völlig herunter, um Narben aufzudecken, die niemals verschwinden werden.

Ich werde nicht wiedergeben, was die jungen Leute ihren Interviewern anvertrauen. Das hat nichts mit moralischen Gründen zu tun. Landau und Wexell machen überdeutlich, dass zwischen ihren Gesprächspartnern und ihnen ein Abkommen auf Au-genhöhe geschlossen worden ist. Die Zeugnisse der Überlebenden werden zu keinem Zeitpunkt ausgebeutet oder als grelle Exploitation-Ware feilgeboten. Vielmehr sind es die Aktivisten selbst, die sprechen wollen. Um aufzuklären. Um den Finger in die Wunde zu tauchen. Um an die Kameraden zu erinnern, die es nicht geschafft haben. Um irgendwie klarzukommen. Obwohl nahezu die gesamte Laufzeit von BRAZIL: A REPORT ON TORTURE daher aus einer Schilderung nach der andern besteht, was Menschen sich an Methoden aussinnen können, um andere Menschen körperlich wie seelisch zugrunde zu richten, werde ich diesem schon allein durch den Titel herausgestellten Mittelpunkt des Films mit einer Leerstelle begegnen. Zu groß wäre die Gefahr, selbst spekulative Anreize zu schaffen, obwohl man das gar nicht möchte. Zu stark wäre das obszöne Gefühl, etwas wiederzukäuen, von dem es reicht einmal ausgesprochen zu werden, und zwar von denen, die es selbst erlebt haben. Zu sehr würde es vielleicht schmerzen. Woran aber liegt das? Der Schmerz ist bereits in Sprache überführt. Er liegt zurück. Er ist ver-gangen, kann nur per Erzählung wiederbelebt werden. Scheue ich möglicherweise davor, zum Verbündeten einer Sprache zu werden, in die sich die Praktiken der Folterer unwiderruflich eingeschrieben hat?

Wie dem auch sei, belasse ich es bei Folgendem: Die Opfer stellen nach, was ihre Folterer wiederum mit ihnen angestellt haben. Nur schwer verschwindet das Unbehagen unter einer Schicht aus nervösem, gezwungenem Gelächter. Eine junge Frau lacht am meisten. Sie wirkt beinahe beschwingt, vergnügt. Auch dann, wenn sie uns die schlimmsten Dinge berichtet. Sie tut es im Tonfall von jemandem, der sich an Erlebnisse erinnert, die weder angenehm noch unangenehm, sondern einfach passiert sind. Einer der Interviewer, Landau oder Wexell, zeigt sich erstaunt. Wie kann sie all diese Dinge noch mit einem Lächeln erzählen? Sie wiegelt ab. Ich beginne zu verstehen. Sie heißt übrigens Maria Auxiliadora Lara Barcelos. Am 1. Juni 1976 wird sie in Westberlin den Freitod wählen. Neben ihr sitzt eine andere junge Frau. Man sieht ihrem Gesicht an, wie oft es geschlagen worden sein muss. Mit einem Lächeln fordert ihre Kameradin sie auf, der Kamera doch ihre rechte Hand zu zeigen. Ihr fehlt ein Daumen, und erneut entweicht einem der Interviewer, Landau oder Wexell, ein Laut des Entsetzens. Sie haben Angst davor, dass wir zurückkehren, erklärt ein anderer Revolutionär. Deshalb werden wir genau das tun: Sobald wie möglich im Geheimen nach Brasilien einschiffen, unseren Kampf fortführen, bis zum Sieg, bis zum Tod. Bis zum endgültigen Ende der Militärdiktatur wird es da übrigens noch knapp fünfzehn Jahre, bis 1985 nämlich, dauern.

Ich habe schon einige schlimme Filme gesehen, mir beispielweise kürzlich erstmals die FACES-OF-DEATH-Reihe vorgenommen, aber was man in BRAZIL: A REPORT ON TORTURE eben gerade NICHT zu sehen, sondern einzig über sprechende Gesichter zu hören bekommt, das ist eine derart schmerzhafte, direkte, unmittelbare Erfahrung, dass ich, weil der Film das nicht für mich übernimmt, gar nicht anders konnte als sie in den obigen holprigen Zeilen irgendwie auf Distanz zu meinem wunden Herz zu rücken, sprich, im Sinne Scarrys, sie zu "objektivieren".
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Originaltitel: Wendy - Der Film
Produktionsland: Deutschland 2017
Regie: Dagmar Seume
Darsteller: Jule Hermann, Benjamin Sadler, Jasmin Gerat, Maren Kroymann, Julius Hotz
Bereits seit Juni 1986 kann man sich als junger Mensch von der „Pferdezeitschrift für Kinder“ WENDY auf dem steinigen Pfad der Pubertät begleiten lassen. Nutzlose Deko-Accessoires wie Plastikschmuck oder Pferdesticker, Lifestyle-Tipps, aber auch Themen wie Tierschutz oder Wissenswertes über Fauna und Flora versüßen im dreiwöchigen Publikationsrhythmus die Mußestunden des (zumeist) weiblichen Publikums, und flankieren dabei als hübsches Beiwerk den eigentlichen Mittelpunkt der Hefte. Der kreist seit Anfang der 90er um die im Comic-Format erzählten Abenteuer, die die zwölfjährige Titelheldin Wendy Thorsteeg zusammen mit ihren Rössern, der Hannoveranerstute Penny sowie der Pintostute Miss Dixie, rund um das fiktive Gestüt Rosenborg erlebt. Zum zwanzigjährigen Jubiläum der Zeitschrift manifestiert sich Wendy nun in Fleisch und Blut: - wenn auch ihre Inkarnation auf der Leinwand wenig mit der Vorlage gemein hat. Vor allem nämlich unterzog man Fräulein Thorsteeg einer Verjüngungskur um drei Jahre, was dem zur Disposition stehenden Themenspektrum automatisch einen eher infantileren Zuschnitt verpasst. Diese Wendy interessiert sich (noch) nicht für Schminke und Jungs, sondern lebt in einem intakten jungfräulichen Kokon, dem Eros und Thanatos noch keine nennenswerten Risse beigefügt haben. Gerechtfertigt wird diese Entscheidung gewissermaßen durch die, laut Trailer, selbsterklärte Absicht des Films, zu berichten, „wie alles begann“, d.h. die Vorgeschichte der Magazine zu bebildern, wie Wendy zur begnadeten Reiterin geworden ist und vor allem wie sie Freundschaft mit ihrer treuen vierbeinigen Freundin Dixie geschlossen hat –, während ihr aus den Heften bekanntes Zweipferd Penny indes für die Dreharbeiten den Stall hat hüten müssen.

Es ist Sommer, und der Opa gestorben, weswegen Blondschopf Wendy zusammen mit dem mitten in der Pubertät steckenden Bruder Tom, der seltsam abwesenden, weil ständig mit ihrem Smartphone kommunizierenden Mutter Heike und dem smarten Papa Gunnar die hippe Oma Herta auf ihrem Bauernhof irgendwo im bundesdeutschen Hinterland besucht. Obwohl Wendy sich freilich freut, die geliebte Großmutter wiederzusehen, ist ihre Laune aber nicht nur wegen der anstehenden Beerdigung getrübt: Einstmals aufstrebende Dressurreiterin hat unsere Heldin vor genau einem Jahr einen schweren Unfall gehabt, aus dem sie schwer traumatisiert hervorgegangen ist. Noch immer trägt sie an ihrem rechten Bein eine Orthese, die sie, wenn ich das richtig verstanden habe, eigentlich gar nicht mehr bräuchte, und unerbittlich ist sie ihren Eltern gegenüber, deren Versuche, sie doch wieder auf einen Pferderücken zu locken, sie mit dem unverrückbaren Standpunkt begegnet, nie wieder in ihrem Leben mit dem Hintern einen Sattel berühren zu wollen. Natürlich stehen die Entschlüsse eines zwölfjährigen Kindes nicht auf allzu festen Sockeln, denn kaum ist Wendy Zeugin geworden, wie der örtliche Metzger einer Stute zu Leibe rücken will, die es nur in letzter Not schafft, vor seinem Schlachtbeil in die Wälder zu türmen, entwickelt sich zwischen Mädchen und Tier bald schon eine Freundschaft, die das Universum bedeutet. Wendy versteckt Dixie, wie sie ihre neue Freundin nennt, zunächst in einer abgelegenen Forsthütte, dann, als ihre Erzfeindin Vanessa hinter ihr wieherndes Geheimnis zu kommen droht, bei Oma im Stall, wo es sich sowieso bereits allerlei Getier von Hühnern bis Hängebauchschweinen gutgehenlässt. Einen wirklichen Konflikt gibt es bis jetzt in WENDY – DER FILM nicht, und wird es auch nicht mehr geben: Zwar thematisiert das Drehbuch an der äußersten Peripherie mit irritierender Beiläufigkeit das ökonomische Damoklesschwert, das an einem Rosshaar über Großmutters Hof baumelt, der, wie Papa Gunnar seufzt, wohl nicht lange in Familienbesitz bleiben wird – ein Subplot, der übrigens genauso lapidar aufgegriffen wie in der Finalszene abgetan wird, ohne die geringsten Auswirkungen auf die Kernhandlung zu haben -, und zwar wird mit der Zicke Vanessa auch so etwas wie eine Antagonistin etabliert, deren Neid Wendys Reitkünsten gegenüber sie dazu verleitet, deren innige Beziehung zu Dixie mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mittel zu torpedieren – Mittel, die, da es sich bei Vanessa um ein kleines Mädchen handelt, freilich an einem Finger abgezählt werden können -, so richtig in dramatische Fahrt kommen will die Geschichte allerdings nicht, und plätschert stattdessen über weite Strecken bedächtig dahin statt, wie es der Trailer suggeriert, im wildesten Galopp an mir vorbei zu brausen – zumal nun wirklich keine der Stationen, die Wendy auf ihrem Weg zur selbstbewussten Pferdeflüsterin meistern muss, nicht dem Mädchenabenteuer-Klischeebaukasten entstammen würde.

Zugutehalten muss ich dem Film allerdings, dass er mit seiner unaufgeregten Inszenierung weiträumig die Gefahrenzonen von plakativem Pathos und peinlichem Klamauk umfährt. Tatsächlich ist WENDY – DER FILM weitgehend einem Realismus ver-pflichtet, der seine Charaktere und selbst die abstruseren Verwicklungen seines Drehbuchs kaum einmal überzeichnet oder mit dem Holzhammer bearbeitet. So bunt und glattgeschleckt die Ästhetik des Films sein mag – das Grün der Natur knallt einem derart grell in die Fresse, dass man es nur für unnatürlich halten kann! -, und so zum Bersten voll von Zeitlupenaufnahmen bebender Nüstern und Erde aufwirbelnder Hufen – wie die Kamera Dixies Pferdekörper regelrecht fetischisiert, das sollte man aber eigentlich schon gesehen haben! - oder sterilen Kamerafahrten über Wiesen, Wälder, Felder hinweg – ihr wisst schon, die Kamera gleitet über die Landschaften hinweg wie die Hand eines Werbefachmanns, der jeden Knorpel sofort unter den Tisch kehrt, und das, was schön ist, über Gebühr ausleuchten lässt -, so wenig belastet er meine Nerven mit comic-relief-Figuren, salzverkrustetem Kitsch oder allzu unglaubwürdigen Plot-Kapriolen. Selbst in seinen aufwühlenderen Szenen – Wendy reißt sich die symbolische Manschette vom Bein, um sich auf Dixies Rücken zu schwingen, oder: Wendy und Vanessa stecken nachts im Moor fest, und müssen damit rechnen, von ihm verschluckt zu werden – verbleibt der Film in seinem gleichmütigen Tonfall ohne Höhen und Tiefen, den man wahlweise langweilig oder ehrlich finden kann. WENDY ist nicht besonders spannend, nicht besonders dramatisch, nicht mal besonders witzig und kein bisschen dazu geeignet, jemanden, der noch nie auf einem Pferd saß, die Magie der Reitkunst zu entschlüsseln. Da ich jedoch all das gar nicht von diesem Film erwartet habe – um ehrlich zu sein, rechnete ich in Anbetracht des Titels und meiner nur rudimentären Kenntnisse der zugrundeliegenden Zeitschrift mit einem ungleich plüschigeren Heile-Welt-Schmarrn -, bin ich letztlich doch positiv überrascht von der unspektakulären, kurzweiligen Art und Weise, mit der WENDY mir eineinhalb Stunden Lebenszeit gestohlen hat, nachdem ich sie dem Film angeboten hatte. Hitchcocks MARNIE ist freilich aber immer noch der bessere Film über Frauen und ihr Verhältnis zu Pferden…
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Originaltitel: Córki dancingu

Produktionsland: Polen 2015

Regie: Agnieszka Smoczynska

Darsteller: Marta Mazurek, Michalina Olszanska, Kinga Preis, Jakub Gierszal, Andrzej Konopka
Es beginnt wie eine der poetisch-schauerromantischen Visionen, mit denen Jean Rollin seine Filme so gerne einläutet: Zwei nackte Mädchen schwimmen in tiefer Nacht vom Meer her auf einen Strand zu. Dass die beiden Schwestern Srebrna und Zlota zu dieser Uhrzeit baden gehen, hat weniger mit jugendlichem Übermut zu tun, sondern mit ihrer ungewöhnlichen Lebenssituation: Unsere Heldinnen sind Sirenen, und durchqueren die Ozeane der Welt primär auf der Suche nach ihrer Hauptnahrungsquelle, Menschenfleisch und Menschenblut. In jener schicksalhaften Nacht, mit der der polnische Spielfilm CÓRKI DANCINGU aus dem Jahre 2015 einsetzt, finden sie indes statt vollen Mägen die unwiderstehliche Chance, Karriere als Tänzerinnen und Sängerinnen in einem eher zweitklassigen Cabaret Warschaus zu machen. Die dreiköpfige Familie nämlich, die sie mit ihrem Meer-jungfrauengesang zum Wasser heranlockt, ist Teil eines Ensembles von Musikern, und während der Vater der Adoption der Mädchen zunächst kritisch gegenübersteht, fassen vor allem Mutter Krysia und Sohn Mietek spontane Zuneigung zu Srebrna und Zlota. Bald schon sitzen die beiden in Hinterzimmern besagten Etablissements, lernen Texte auswendig, bereiten Choreographien vor. Gerade ein spezielles Detail möchte der Clubmanager für seinen Geldbeutel gewinnbringend ausschlachten: Sobald die Schwestern mit Wasser in Berührung kommen, verwandeln sich ihre beiden Menschenbeide in überdimensionale Fischflossen, ein Effekt wie geschaffen für schummrige Tanzbarbühnen. So sehr allerdings Srebrna und Zlota zunächst verzückt sind vom Großstadtleben unter Menschen, so wenig lassen alsbald die üblichen Teenager-Sorgen auf sich warten: Mietek verknallt sich in Srebrna, die beschließt, sich für ihn einer Operation zu unterziehen, bei der ihr Fischschwanz gegen zwei echte Mädchenbeine ausgetauscht werden soll, während Zlota demgegenüber nicht nur mit einem abgeranzten Punk-Rocker kokettiert, sondern ihren Heißhunger bezüglich ihrer Mitmenschen schließlich nicht mehr zügeln kann, und einen Mann nach dem andern verführt und verzehrt…

Was Frau Smoczynska für ihr Langfilm-Debut an scheinbar widersprüchlichen, heterogenen Elementen zusammengerührt hat, kann man wohl mit Fug und Recht als außergewöhnlich bezeichnen. Während man CÓRKI DANCINGU in den ersten Minuten, gerade angesichts des animierten Vorspanns mit Illustrationen, die jeder Neuausgabe von Andersens LILLE HAVFRUE gut zu Gesicht stehen würden, noch für eine zeitgenössische Adaption klassischer Sirenenmythen halten könnte, deren Fokus vor allem auf die horrorlastigen Komponenten der Mär gelten soll, reißt ein harter Schnitt auf Bild- und Ton-Ebene uns jäh vom nächtlichen Strand, über dem die Lockrufe der fischbeschwanzten Schwestern wie ein ätherisches Echo längst vergessenen Seemannsgarns tanzen, mitten hinein in das Tanzlokal, wo der Großteil des Films spielen wird und uns ein lauter Disco-Beat auf eine Weise begrüßt, die kaum noch Platz für verträumte Märchenanfänge lässt. Wirklich handelt CÓRKI DANCINGU in seinen Clubszenen dann hauptsächlich davon, wie ein Mythos unter ökonomischem Druck seine Demontage erfährt. Geblendet vom Licht der Show-Bühne werden Srebrna und Zlota in immer bizarrere Kostüme gesteckt, mausern sich zu veritablen Striptease-Tänzerinnen und trällern harmlose Pop-Liedchen über Liebe, Lust und Leiden. Parallel dazu verläuft ihre Integration in die Familie ihrer Ziehmutter Krysia nicht ganz so bonbonbunt, denn zum einen hängt die Ehe zwischen Hausherr und Gattin nicht zuletzt aufgrund vieler zerplatzter Träume und in Alkohol ertränkten Hoffnungen in einer desolaten Schieflage, und außerdem entwickeln sich Srerbna und Zlota bald schon sukzessive voneinander weg, sprich: während es die eine mehr zu einem bürgerlichen Leben hinzieht, lässt sich die andere im Schutz der Dunkelheit Reißwolfzähne wachsen und entseelt Männer, die an ihren Reizen wie an Fliegenpapier kleben. Bei alldem scheint sich CÓRKI DANCINGU jedoch nie wirklich entscheiden zu können, auf welche Partien der wirren Geschichte genau er seine Akzente setzen möchte. Parodistisches Persiflieren des Show-Business steht hier gleichberechtigt neben wüsten Splatter-Szenen, seifenopernhafte Liebesbeteuerungen kreuzen sich mit behutsamen coming-of-age-Momenten, surreale Traumsequenzen häufen sich neben ausgewalzten Kabarett-Nummern, und es kann auch schon einmal sein, dass eine Figur plötzlich vollkommen unmotiviert zu tanzen und zu singen anfängt, denn: CÓRKI DANCINGU versteht sich, zu allem Überfluss, auch noch als ein Musical-Film, sodass gefühlte alle fünf Minuten die nun wirklich alles andere als stringente, nachvollziehbare Handlung ins Stocken gerät, und einer unserer Protagonisten seine innersten Nöte durch Strapazieren der Stimmbänder Ausdruck verleiht.

Dabei beschränkt sich Smoczynska nicht darauf, einfach die an sich schon absonderlichen Bühnenshows der Schwestern abzu-filmen, vielmehr lässt sie harmlose Disco-Pop-Songs und Klavier-Balladen den kompletten narrativen Raum durchdringen. Mie-rek und Srebrna offerieren sich gegenseitig ihre Herzen in einem Duett, das vor keiner verliebten Phrase zurückschreckt, und wenn Zlota nachts schweren Gedanken nachhängt, dann erstarrt die Zeit im wahrsten Sinne des Wortes, und unsere Heldin wandelt zwischen ihren eingefrorenen Mitmenschen umher, um sich mit uns über ihre Sorgen und Ängste auszutauschen, und als Krysia die Mädchen durch Warschau führt, wird gleich ein ganzes Einkaufszentrum zur Weltbühne, auf der zahllose Statisten eine bis in Details ausgefeilte Choreographie zwischen Supermarktkassen, Rolltreppen und Warenregalen hinlegen. Obwohl die musikalischen Kompositionen selbst in mir keinen Nerv getroffen haben, der mehr als müde gezuckt hätte, sind gerade die Szenen, in denen die gesamte Diegese plötzlich im Dienst eines Rhythmus steht, ziemlich beeindruckend, spritzig und witzig. Auf ein Problem, das den Film wie ein roter Faden durchzieht, stößt man aber auch hier, die Frage nämlich, was genau denn nun all die Musical-Elemente der Geschichte an Mehrwert geben. Wie gesagt, Srebrna und Zlota singen die meiste Zeit über typische Themen, die junge Leute in der westlichen Welt beschäftigen – Weltschmerz, erste Drogenerfahrungen, die erste große Liebe -, und im Grunde jedes dieser Liedchen könnte, vom Film losgelöst, als eigenständiger, weil universeller Popsong funktionieren, scheint mir mit der Meerjungfrauen-Motivik jedoch in überhaupt keiner Korrespondenz zu stehen. Überhaupt ist es verblüffend, wie viel in CÓRKI DACINGU an Ideen angehäuft wurde, und wie wenig all diese Einfälle sich zu einem schlüssigen Ganzen zusammenfügen. Es gibt da einige großartige Momente – ich mochte beispielweise das Duell der Schwestern, als sie sich mit Krallen und Fangzähnen wie zwei Raubtier gegenüberstehen, dann aber plötzlich zu singen beginnen, und sich in die beiden unschuldigen Mädchen zurückverwandeln, die sie eigentlich sind, und sowieso ist das Schauspiel der Hauptdarstellerinnen Michalina Olszanska und Marta Mazurek ein wahres Filetstück, wenn es mich auch etwas irritiert hat, dass die Damen in jeder zweiten Szenen ihre Brüste in die Kamera halten müssen -, jedoch stehen diese vereinzelt, zusammenhanglos, separiert, so, als hätten wir es gar nicht mit einem ausgereiften Spielfilm zu tun, sondern einem ersten Entwurf, in dem die Verantwortlich grob das Feld abgesteckt haben, das sie inhaltlich und motivisch bearbeiten wollen. Dabei stolpert CÓRKI DANCINGU andauernd über die eigene überbordende Kreativität: Neuauflage romantischer Meerfrauenmythen von Andersen oder Fouqué, champagnerperliges Musical mit vielen farbenfrohen Kostümen und hübschen Set-Designs, irgendwie aber auch Nymphen-Horror, Jugenddrama und Theater der absurderen Sorte – dieser Film möchte alles und zwar auf einmal, und verfehlt jegliche Kohärenz weit genug, dass es nicht so wirkt, als steckte da Kalkül dahinter. Für Freunde eher abseitigerer Filmware, zu denen ich mich einmal zählen würde, dürfte ein Blick auf dieses eigenartige Potpourri an Stilen und Stilbrüchen nichtsdestotrotz riskierbar sein, zumal dann, wenn es einem bei der Vorstellung, sich ein herzlich unorthodoxes Remake von LA LA LAND mit Meerjungfrauen in den Hauptrollen anschauen zu müssen, nicht kalt wie Fischflossen den Rücken runterläuft.
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Originaltitel: Zbogum na dvaesetiot vek

Produktionsland: Makedonien 1998

Regie: Darko Mitrevski / Aleksandar Popovski

Darsteller: Nikola Ristanovski, Lazar Ristovski, Vlado Jovanovski, Toni Mihajlovski, Zvezda Angelovska
Was ich da gerade gesehen habe, kann ich nicht sagen, aber die Chronistenpflicht verlangt von mir, zumindest ansatzweise zu beschreiben, was einen erwartet, wenn man sich, wie ich, dem makedonischen Experimentalfilm ZBOGUM NA DVAESETIOT VEK von Darko Mitrevski und Aleksandar Popovski aus dem Jahre 1998 für knapp eineinhalb Stunden mit Haut und Haar hingeben sollte…

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Es ist ein Abschiedsgruß an das vergehende zwanzigste Jahrhundert, den die beiden Filmemacher mit ihrem Debut und letztem Gemeinschaftsprojekt vorgelegt haben. Zwei inhaltlich nicht miteinander verbundene Hauptstücke strukturieren den Film, wobei die beiden von einer wenigen Minuten langen Intermission voneinander getrennt sind. Das erste Teilstück setzt ein im Makedonien des Jahres 2019. Die in der Kinogeschichte vielbeschworene Nukleare Katastrophe hat einmal mehr stattgefunden, und die Welt in eine nahezu unbewohnbare Wüstenei verwandelt. Banden, deren Mitglieder, wie es dem Genre des Endzeitfilms entspricht, in bunter Kostümierung aus schamanistischer Kriegsbemalung, nicht zusammenpassenden Armeeuniformfetzen sowie phantasievollen Brillen, die nur ein Auge bedecken, oder Kopfbedeckungen wie Schleiern gewandet sind, durchstreifen wasserlose, in gleißendem Sonnenlicht brütende Gebiete, und befinden sich dabei im Krieg gegen konkurrierende Stämme wie auch gegen die unerbittliche Natur, der nun auch schon die letzten Bäume dahingewelkt sind. Eine bestimmte namenlose Gruppe, die der Film uns zu Beginn vorstellt, hat einen Gefangenen bei sich, dessen Hinrichtung ansteht. Der Bandenchef und seine an die legendären RIFFS erinnernde gemischtgeschlechtliche Truppe halten mitten in der Einöde auf einem Hügel. Kuzman, so nennt sich der Delinquent, vollführt eine theatralische Schau bevor er mit Maschinengewehr- und Pistolenkugeln vollgepumpt ist, und die beiden mitgeführten Sklavinnen als Klageweiber ihren jammernden Gesang anheben. Kaum zu Boden gegangen, erhebt sich der Tote jedoch lächelnd wieder. Um zu testen, ob seine Waffe am Ende nicht mehr funktioniere, erschießt der Häuptling einen aus den eigenen Reihen. Dieser sackt tot zusammen, nur Kuzman ist trotzdem nicht beizukommen. Das Rätsel enthüllt er uns, nachdem der ihm feindlich gesonnene Clan ihn zurückgelassen hat und er am Lagerfeuer nachts mit einem selbsternannten, offenbar ebenfalls ziellos umherschweifenden Propheten Zwiesprache hält. Er habe, sagt er, bei keiner Frau eine Erektion bekommen können, nur bei der eigenen Schwester, die er im Rückblick als Heilige verklärt. Durch die begangene Blutsünde indes sei eine Plage auf sein Volk herabgekommen, und habe sämtliche Kinder sterben lassen. Sogar die Ikone in der Dorfkirche habe plötzlich Blut geweint. Auch ihn habe der Höchste mit einem Flucht belegt: Verstoßen von den eigenen Leuten sei er, ähnlich wie der Ewige Jude, dazu verdammt, unsterblich auf der verblühten Erde herumzuirren. Der Prophet wäre kein Prophet, wenn er nicht Rat wüsste, der in meiner Kurzzusammenfassung wie folgt klingt: Eine bestimmte Pforte gebe es irgendwo, und dort müsse er einen bestimmten Ritus vollziehen, und das könne ihm die Sterblichkeit zurückgeben. Zuvor sei aber noch ein ominöser Kerl mit grünen Haaren zu erledigen, der besagte Pforte, soweit ich das verstanden habe, gewissermaßen als Wächter betreut. Dieser Typ wiederum entpuppt sich als hysterisch umherspringender, immer nur einen einzigen englischen Satz gackernder Joker, der in einer ausgestorbenen Fabrik hinter einer Opernbühne lebt, und sich mit Kuzman ein Gefecht voller alberner Mätzchen liefert, aus dem ersterer, aufgrund seiner Unsterblichkeit und weil der Grünling statt echter Waffen mit Spielzeugknarren „schießt“, natürlich als Sieger hervorgeht. Unser Held findet das besagte Tor, und wird mit einer Rückblende darüber konfrontiert, wie das damals eigentlich war, mit seiner Schwester: Er sitzt nackt in seine Wanne, sie kippt grüne Äpfel zu ihm hinein, dann sitzen sie sich beide gegenüber, und sie masturbiert ihn zärtlich…

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Visuell ist die erste Hälfte von ZBOGUM NA DVAESETIOT VEK ein wirklich seltsamer Bildertraum. Auf dem ästhetischen Gerüst von MAD MAX und Konsorten errichten Mitrevski und Popovski weniger eine kohärente Handlung, sondern ein Tableau aus ins Groteske übersteigerten kulturellen Versatzstücken der Balkanregion, Aufnahmen weiter Landschaften, dass man sich in einem John-Ford-Western wähnt, ausgedehnten Gewaltexzessen, sexuellen Tabubrüchen, einem mythischem Überbau und sprachloch machenden Bildkompositionen, die – ohne Scheiß! - Erinnerungen an Sergej Parajanov, Andrej Tarkowskij oder Alejandro Jodorowsky wachrufen. Das limitierte Budget sieht man dem Film an - (weshalb es letztlich bei Erinnerungen bleibt) -, doch hat das Regie-Gespann aus seinen bescheidenen Mitteln immerhin eine ganze Bandbreite teilweise konkurrierender Ästhetiken von lyrischen Badewannensexszenen über Western-Schießereien bis hin zu New-Age-Neon-Exzessen in verlassenen Maschinenhallen herausgeholt, bei denen im Grunde die einzige Konstante die hektische Handkameraarbeit ist, die beinahe genauso wenig Verschnaufpausen kennt wie die Andrzej Zulawskis, an dessen Science-Fiction-Epos NA SREBRNYM GLOBIE das Treiben gerade in den Außenszenen dann auch ebenfalls entfernt erinnert. So stringent wie ich die Handlung oben zusammenzufassen versucht habe, entwickelt sie sich im Film jedoch nicht, und vieles, was ich dort als Fakten präsentierte, ist letztlich doch nur Mutmaßung und Spekulation meinerseits. Zwar bietet ZBOGUM NA DVAESETIOT VEK uns mit Kuzman so etwas wie einen Helden an, was genau allerdings das gesamte Drumherum voller gestammelter wirrer Sätze, vollkommen absurden Charakteren wie dem grünen Kobold, dessen ruhelosen Bewegungen sinnigerweise mit klamaukigen Comic-Geräuschen untermalt werden, und einer Transzendenzsuche, gegen die sich selbst das Irren und Wirren in EL TOPO komplett linear ausnimmt, darüber fühle ich mich außerstande, auch nur den Ansatz von etwas zu liefern, das einmal eine Interpretation werden könnte. Das bedeutet im Gegenschluss allerdings auch: Man kann sich in der ersten Dreiviertelstunde des Films komplett auf die, wie gesagt, wundervollen Bilder, die wilde Kamera und die virtuose Montage konzentrieren, und muss – zumindest wäre das mein Rat für eine Erstsichtung – gar nicht erst damit aufhalten, in dem Gestrüpp aus epischen, bewusst trashigen, bleigeladenen und wirklich poetischen Momenten – die erwähnte Sexszene in der Badewanne ist eine Weide, so weit das Auge reicht! – einen irgendwie einfach so decodierbaren Sinn zu erschließen. Es mag ja sein, dass ein Makedonier mühelos aus den ganzen Kapriolen tiefsinnige Aussagen über Kultur, Geschichte und Zukunft seines Landes herausfiltern kann – gerade die manchmal offenkundigen Querbezüge zu osteuropäischem Brauchtum scheinen mir dann doch Potential für eine politische Botschaft zu bergen -, mir, der ich Makedonien erst noch mal mit dem Finger auf der Landkarte suchen musste, bevor ich mich an diesen Text gesetzt habe, kamen die fünfundvierzig Minuten vor wie ein weitgehend auf halluzinogenen Pilzen stattfindender Rausch und kreativer Fluss voller absichtlicher Inkohärenzen und Disharmonien.

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Die Intermission von wenigen Minuten ist im Gegensatz klar und deutlich. Es soll sich, erklärt eine Stimme aus dem Off, um die allererste auf Film festgehaltene Bluttat Makedoniens handeln, geschossen zwischen zwei Balkankriegen etwa hundert Jahre vor den dystopischen Ereignissen, deren Zeugen wir soeben geworden sind. Dementsprechend haben Mitrevski und Popovski ihr Material manipuliert: Die durchaus als eigenständiger Kurzfilm funktionierende Zwischensequenz könnte einen Laien, der noch nicht wirklich viele Filme aus der Zeit um 1900 gesehen hat, durchaus dahingehend täuschen, dass es sich um ein authentisches Zeitdokument handelt. Während im Hintergrund ein makedonisches Volkslied trällert, der Projektor rattert und der Sprecher explizit auf den didaktischen Nutzen verweist, den wir heute noch aus diesem Film ziehen können, entrollt sich vor unseren Augen eine Familientragödie. An irgendeiner Straßenecke werden zwei Liebende zusammengeführt. Der junge Mann heißt Dimitri, die bewaffneten Männer seien seine Brüder, der dicke Herr sein Vater, und die übrigens in Ketten gelegte Braut seine eigene Schwester. Auch ein griechisch-orthodoxer Priester mit Rasputin-Bart ist anwesend. Der Off-Sprecher erklärt uns die außergewöhnlichen Hintergründe der Trauung unter freiem Himmel: Obwohl die Religion solche inzestuöse Verbindungen eigentlich nicht toleriere, kaufte Dimitri seine Zukünftige doch von ihrem gemeinsamen Vater frei, weshalb selbst der Geistliche einverstanden sei, seinen Segen zu erteilen. Kaum aber sind die Turteltäubchen vereint und kaum hat Dimitri die Schwester allzu herzhaft umarmt, reißt den Brüdern der Geduldsfaden. Sie packen den Frischvermählten und schießen ihn über den Haufen. Gefilmt wird dieses Drama, das offenbar derart alltäglich ist, dass keiner der zu sehenden Beteiligten – nicht mal Dimitri, als er begreift, dass es ihm an den Kragen geht, oder die um ihren Ehemann beraubten Schwester – irgendwelche anderen Emotionen als Lethargie zeigen würden, übrigens vom örtlichen Barbier, der danach selbst ins Bild tritt, und die Linse seiner Kamera abtupft. Wenn dies, fragt der Off-Sprecher zum Schluss, der Beginn des zwanzigsten Jahrhundert sei, wie solle es dann erst enden? Ziemlich gut fasst ZBOGUM NA DVAESETIOT VEK in diesen gerade mal zwei Minuten nicht nur etliche religiöse, politische, (film-)historische Querverweise in einem prägnanten Bild zusammen, sondern spielt außerdem hintersinnig mit der Affinität des Kinos von Anfang an für Bilder von Gräueln und Grausamkeiten. Besonders schön: Mitrevski und Popovski tun so, als sei ihr, wenn man so will, fake-snuff-film tatsächlich die allererste Geschichte von Makedoniens Schuld und Sühne – eben weil nur das „wahr“ ist, was eine Kamera aufgezeichnet hat, und weswegen eine blutige Familiengeschichte, die in keinen Annalen Erwähnung finden wird, jetzt, im Nachhinein, wichtiger ist als all die unsichtbaren, weil nicht dokumentierten Schrecklichkeiten an anderen Straßenecken, fernab des Fokus eines Speichermediums.

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Noch begeistert von diesem Zwischenstück, habe ich die zweite Hälfte von ZBOGUM NA DVAESETIOT VEK dann zunächst in bester Stimmung begonnen: Wir befinden uns dort nun auf einmal am Vorabend des Millenniums, nämlich am Weihnachtsabend des Jahres 1999, wo ein Santa Claus, der an seinem Job, Familien die Geschenke frei Haus zu liefern, nicht wirklich Spaß zu haben scheint, auf einen kleinen Jungen trifft, der von der festlichen Stimmung noch weniger angetan ist als der Falschbärtige, sich vom Christkind exakt nichts wünscht, und angibt, sein Name sei Kuzman. Nach dem kurzen Gespräch mit dem Buben, der, wie wir wissen, zwanzig Jahre später mit seiner Unsterblichkeit hadern wird, läuft der Weihnachtsmann zunächst durch Einkaufszentren, in denen Big Bands, Tänzer und flimmernde Fernsehen nur unzureichend von dem extremem Kapitalismus ablenken, dem dort gehuldigt wird. Schließlich verschlägt es ihn zu einer Familie, die gerade einen Trauerfall zu beklagen hat. Der Bruder des Familienvaters, offenbar ein hohes Tier beim Militär, wie die Photographien von ihm suggerieren, die man im Wohnzimmer aufgestellt hat, musste just am Geburtstag Christi das Zeitliche segnen, liegt aufgebahrt im Nebenzimmer, während die übrigen Angehörigen mit der Totenwache beschäftigt sind. Was sich auf dem Papier recht banal anhört – zumal gerade im Vergleich zu den delirierenden Feuerwerken, die vorliegender Film in den fünfzig Minuten zuvor bereits abgefackelt hat -, entwickelt sich in der Folge zu einem derartig hyperhysterischen Ritt bizarrer Figuren in bizarren Situationen, dass sich ZBOGUM NA DVAESETIOT VEK für mich zu einer wahren Geduldsprobe ausgewachsen hat: Ohne dass ich recht wiedergeben könnte, was denn nun eigentlich der zentrale Konflikt ist, der sich zwischen den Totenwachenden und dem Weihnachtsmann, der sich spontan ihrer Gesellschaft anschließt, zutage tritt, schreien, heulen oder rülpsen die Charaktere am laufenden Band Sätze, deren Sinn sich fernab der Gesetze der Logik bewegt, prügeln sich gegenseitig die Fressen blutig, fuchteln schließlich, worin sich vor allem der Santa hervortut, mit Feuerwaffen herum, konsumieren aber auch zwischendurch päckchenweise Koks, zünden sich „aus Versehn“ die Hände an, dass sie wie Wunderkerzen brennen, tanzen zu Punkrock der Sex Pistols, reiten einander auf den Rücken, ergehen sich in Obszönitäten bis am Ende der Prophet vom Anfang erneut erscheint, und erneut weniges zu sagen hat, was ich nachvollziehbar in eigenen Worten artikulieren könnte. Nach einem finalen Massaker schwimmt die gesamte Trauergesellschaft in ihrem eigenen Blut, und unser Weihnachtsmann verabschiedet sich in genau die Unterwelt, wo auch Kuzman zwei Dekaden später das mysteriöse Tor finden wird, von dem ihm der Prophet berichtet hat.

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Erneut möchte ich mein vielleicht etwas harsches Urteil über die letzte halbe Stunde des Films dadurch mildern, dass ich auf meine Unkenntnis verweise, was in Makedonien politisch und gesellschaftlich in den Jahren der Entstehungszeit losgewesen ist – ich vermute mal, allzu rosige Zeiten dürften es nicht gewesen sein -, und die Mutmaßung in den Raum stellen, dass in der Trau-ergesellschaft verschiedene Typen, Ideologien, Ständevertreter karikiert werden sollen, die allesamt ihre Entsprechung in der Realität haben: Ein toter Militär, eine Hure, ein verlotterter Outsider, ein bürgerlicher Familienvater, der Coca-Cola-Weihnachtsmann als Repräsentant des Westens etc. Ebenfalls muss ich konstatieren: Rein ästhetisch hat auch die zweite Hälfte vorliegenden Films ihre Reize. Weiße Wände dominieren die Szenerie, in denen das literweise spritzende Blut umso eindringli-cher zur Geltung kommt, und noch immer sind Mitrevski und Popovski darum bemüht, in abgefahrenen Kamerawinkeln zu filmen, vollkommen unkonventionell zu montieren, und leichtfertig mit technischen Mitteln wie Zeitraffer oder der monochromen Einfärbung bestimmter Szenen zu hantieren. Dennoch, was mir dann doch einigermaßen Striche durch den Genuss solcher Eskapaden gemacht hat, ist der unglaublich pubertäre, fast schon infantile Humor, mit dem die Filmemacher hemmungslos um sich schmeißen – ein Humor, der es witzig findet, wenn Frauen im Koksrausch wie Hühner gackern, kleine Kinder rülpsen, und der Darm des Großvaters dermaßen verrückt spielt, dass die Winde, die er von sich gibt, seinem Rollstuhl einen eigenen An-triebsmotor verpassen. Selbst wenn die sich bis zum dann wieder entrückt-mystischen Finale zuspitzende Debilität, wovon ich einmal ausgehen möchte, ironisch gemeint gewesen sein sollte – (wofür unter anderem spricht, dass auf der Tonspur in einer Szene prominent der Zappa-Song COCAINE DECISIONS platziert ist, dessen Zeilen wie „You are a doctor or a lawyer / You got an office with a foyer / And the cocaine decisions that you make today /Will not be discovered till it's over 'n' done / By the customers you hold at bay“ eine schon recht klare Sprache sprechen bzw. singen) -, konnte ich gerade die letzten zehn bis zwanzig Minuten, was bei mir selten vorkommt, nur schwer ertragen, und war irgendwie froh und erleichtert, den Film überstanden zu haben – auch wenn natürlich seine zentrale Botschaft, dass die Zukunft genauso abgefuckt werden wird wie die Vergangenheit, nun nichts ist, was man normalerweise gerne aus einer Filmsichtung in die Realität mitnimmt.

Da es indes Mitrevski und Popovski mit ihren zotigen Späßen ganz gezielt darauf abgesehen haben können, ihr Publikum vor den Kopf zu stoßen, zu ärgern und zu verprellen – so wie es, mit anderen Mitteln, auch andere zeitgenössische Filme des kontroversen Balkankinos wie Srdjan Spasojevićs SRPSKI FILM (2010) oder Mladen Đorđevićs ZIVOT I SMRT PORNO BANDE (2009) gerne tun, um über die Schiene des (vermeintlichen) Genre-Films auf soziale Missstände ihrer Heimatländer (in diesem Fall: Serbien) hinzuweisen -, bleibt mir angesichts des exzellenten Kurzfilms in der Mitte und dem formalen, ästhetischen und stilistischen Wagemut der Jung-Regisseure letztlich gar nichts anderes übrig, als eine warme Empfehlung für diesen Film aussprechen – sofern natürlich, die potentiellen Betrachter oder Betrachterinnen können sich mit der Idee anfreunden, in krudem Mischmasch abwechselnd ein poetisches Inzest-Drama, einen epischen Endzeit-Film und ein komplett überdrehtes Szenario, in dem ein Weihnachtsmann eine Familie aus Comic-Figuren niedermetzelt, zu sehen zu bekommen. Das also dann nochmal zum zwanzigsten Jahrhundert, und demnächst sehen wir uns im einundzwanzigsten…
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

Beitrag von Salvatore Baccaro »

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Originaltitel: La bella Antonia, prima Monica e poi Dimonia

Produktionsland: Italien 1972

Regie: Mariano Laurenti

Darsteller: Edwige Fenech, Piero Focaccia, Riccardo Garrone, Dada Gallotti, Elio Crovetto, Luciana Turina
Wie so oft im italienischen Genrekino reicht eine einzige erfolgreiche Filmproduktion aus, ein ganzes Subgenre loszutreten. So geschehen bei Pier Paolo Pasolinis IL DECAMERONE, mit dem der Autorenfilmer 1971 seine Trilogie des Lebens beginnt. Insgesamt neun Geschichten hat Pasolini aus der weltberühmten, die erotische Literatur Europas nicht nur grundlegend konstituierenden, sondern in der Folge vor allem maßgeblich beeinflussenden gleichnamigen Novellensammlung Boccaccios (1313-1375) ausgewählt und für die Leinwand adaptiert. Der Titel von Boccaccios Decameron ist Programm: An zehn Tagen erzählen sich sieben Frauen und drei Männer, die sich vor der 1348 in Florenz grassierenden Pest in ein abgeschiedenes Landhaus geflüchtet haben, zur Unterhaltung je zehn Geschichten aus den Themenfeldern Liebe, Erotik und Sexualität. Die einhundert Novellen, die dabei zusammenkommen, bilden leidenschaftliche Gefühle zwischen den Geschlechtern in allen erdenklichen Konstellationen ab. Uns begegnen lüsterne Mönche, die sich als Engel verkleiden, um fromme-einfältige Frauen als Himmelsboten begatten zu können. Wir lernen Ehefrauen kennen, die ihren Männern auf die verschiedensten Arten Hörner aufsetzen. Ein ganzes Nonnenkloster vergisst nach der Ankunft eines angeblich taubstummen Jünglings seine Gelübde und widmet sich statt der göttlichen Liebe bis zur Erschöpfung ihrer Beute der irdischen. Junge Mädchen unterhalten heimliche Treffen mit ihren Liebsten bis sie von ihren Eltern erwischt werden und sich der Konflikt in einer unter Scherzen und Gelächter ausgerichteter Hochzeit auflöst. Genau das ist bezeichnend für Boccaccios sorglosen Umgang mit seinen Stoffen, und genau das ist es wohl, was Pasolini an den mittelalterlichen Texten gereizt hat: In der Welt des Decamerone mag es Schicksalsschläge, Unglücksfälle, Leid und Trauer geben wie in jeder anderen, doch die Figuren, die sie besiedeln, bewahren noch in den schlimmsten Situation ein sonniges Gemüt. Erotik und Sexualität sind keine teuflichen Bedrohungen, ihnen wohnt nichts Gewalttätiges inne, sie besitzen nur ein einziges Potential, nämlich das Leben lebenswert zu machen. Voll der Sinnesfreude hingegeben finden Boccaccios Helden zu jeder Tagesstunde Grund, in ein gelöstes Lachen auszubrechen. Demgemäß gestaltet Pasolini seine Verfilmung, trotz des einen oder anderen erigierten Penis und der Omnipräsenz des Geschlechtlichen, fast schon wie eine Antithese zur sich in den späten 60ern allmählich formierenden kommerziellen Pornographie. In volksnahem Ton, gespielt von non-professionellen Darstellern, in bewusst schlichten, schmucklosen, alltäglichen Bildern feiert Pasolini den Sexus im Rahmen einer traditionell gewachsenen, unverfälschten Kultur, deren Vertreter zechen, wenn sie zechen wollen, lieben, wenn sie lieben wollen, und stets mit einem Lächeln erwachen und einschlafen. Pasolini versteht seine Boccaccio-Adaption, der mit I RACCONTI DI CANTERBURY (1972) noch eine Fassung der CANTERBURY TALES des Geoffrey Chaucer (1343-1400) und mit IL FIORE DELLE MILLE E UNA NOTTE (1974) eine Verfilmung der Märchen aus tausendundeiner Nacht folgen sollte, durchaus als revolutionäres, anti-intellektuelles Projekt, das einer, seiner Meinung nach, von Industrialisierung, Kapitalismus, Globalisierung unterdrückten Volksstimme Ausdruck zu verleihen versucht.

Freilich wurde IL DECAMERONE von den Kritiken seiner Zeit oftmals auf die progressive Darstellung nackter Körper reduziert, und freilich ist es genau das, auf was die sofort nach dem finanziellen Erfolg des Films überall in Italien aus dem Boden sprießenden Nachzügler sich am meisten versteifen. Während STORIA SCELLERATE (1973), deutscher Titel: DECAMERONE – ABENTEUER DER WOLLUST, noch von Pasolinis Regieassistent, Drehbuchautor und engem Freund Sergio Citti gedreht wird und zumindest versucht, der frivolen Volksnähe seines Vorbilds treu zu bleiben, teilen die meisten sonstigen sogenannten decamerotici mit Pasolinis Film nicht viel mehr als ihre episodische Struktur und die Tatsache, dass sie sich freimütig an den Klassikern der erotischen Weltliteratur wie Pietro Aretino oder Boccaccio bedienen. Dabei ist es nicht übertrieben, gerade in den Jahren 1972 und 1973 von einer wahren Flut an Sexkomödien mit Boccaccio-Bezug zu sprechen. Über dreißig Filme kann man allein in diesen beiden Jahren zählen, die alle entweder schon in ihrem Titel auf das DECAMERONE Bezug nehmen oder Pasolinis Adaption doch von ihrem Wesen her stilverwandt sind. DECAMERONE NO 2 – LE ALTRE NOVELLE DI BOCCACCIO (Mino Guerrini, 1972), DECAMERONE NO 3 – LA PIÙ BELLE DONNE DEL BOCCACCIO (Italo Alfaro, 1972), DECAMERONE NO 4 – LE BELLE NOVELLE DI BOCCACCIO (Paolo Bianchini, 1972), BOCCACCIO (Bruno Corbucci, 1972) IL DECAMERONE PROIBITO (Carlo Infascelli, 1972) wären nur einmal fünf beispielhafte Titel, die allesamt den mehr oder minder erfolgreichen Versuch unternehmen, zotige Komik, splapstickhaften Klamauk, subtile Gesellschaftskritik und deftige Softsexerotik miteinander zu verknüpfen. Nicht zuletzt hat selbst der große Joe D’Amato in diesem Genre seine ersten Gehversuche als Co-Regisseur, Kameramann und Cutter unternommen – und der Alternativtitel seines NOVELLE LICENZIOSE DI VERGINI VOGLIOSE (1973) könnte besser kaum gewählt sein, fasst er doch Pasolinis gesamte Lebenstrilogie kongenial zusammen, wenn es heißt: LE MILLE E UNA NOTTE DI BOCCACCIO A CANTERBURY.

Interessanterweise mutierten all diese DECAMERONE-Rip-Offs nicht nur zu einem eigenständigen Subgenre der comedia sexy all’italiana, sie verhalfen außerdem, so meine These, dem sogenannten Nunsploitation-Genre in die Steigbügel. Um das zu beweisen, soll mir Mariano Laurentis LA BELLA ANTONIA, PRIMA MONICA E POI DIMONIA von 1972 dienen (deutscher Titel übrigens: WEHE, WENN DIE LUST UNS PACKT! Ja, wehe…!). Zunächst ist dieser Film nicht aufgeteilt in einzelne höchstens durch eine Rahmenhandlung verbundene Episoden, sondern erzählt eine kohärente Geschichte von A bis Z. Edwige Fenech, jung, gutaussehend und bereit, sich permanent splitterfasernackt auszuziehen, spielt die titelgebende schöne Antonia, die unglücklich in den blonden Jüngling Fulco verliebt ist. Das sehen ihre Eltern, vor allem ihr herrischer Vater, der sich für sie schon einen ganz anderen, wesentlich wohlhabenderen Bräutigam ausgeguckt hat, gar nicht gerne, sodass Antonia ihnen droht, sie würde in ein Nonnenkonvent eintreten, wenn sie nicht den Mann ehelichen darf, den sie liebt. Da ihr Vater dies mit einem Lächeln abtut, lässt Antonia Taten folgen und nimmt tatsächlich den Schleier. Sie wird ihn, schwört sie, erst ausziehen, wenn ihrer Verbindung mit Fulco nichts mehr im Wege steht. Das tut es aber sowieso schon nicht wirklich, denn die tugendhafte Isolation der frommen Frauen ist nichts als eine bloße Illusion: Die feiste Äbtissin hat sich den Klosterpriester sexuell hörig gemacht, unter den Nönnchen regiert Sinneslust und amüsante Ausschweifung, und mit Hilfe eines umherziehenden Künstlers, der ebenfalls kein Frauenbett unbestiegen lässt, schafft es natürlich auch Fulco, seiner Liebste ungestörte Mitternachtsbesuche abzustatten…

LA BELLA ANTONIA vereint zwei Eigenheiten miteinander, die einem auf den ersten Blick eigentlich unvereinbar scheinen. Er wagt sich heran an Themen, die 1972 noch durchaus subversives Potential besitzen: Das Laster-und Liebesleben von Klerikern und Ordensschwestern gepaart mit, obwohl es keine Sexszenen im eigentlichen Sinne zu sehen gibt, vielen entblößten Brüsten und Schenkeln und einem harmlosen, jovialen Ton, der die Sündenfälle eher lustig findet als bedenklich. Dabei ist seine Inszenierung jedoch derart antiquiert, theatralisch, nahezu statisch, dass der Film, seiner Nacktheiten entledigt, gut und gerne auch in dieser Form fünf bis zehn Jahre früher hätte entstanden sein können. Die Produtionskosten sind nicht niedrig gewesen, es gibt sorgfälte Kamerafahrten, die Kulissen sehen hübsch aus wie Frau Fenech, und trotzdem ergibt das alles keine Mischung, die ich als homogen bezeichnen würde. Ich habe LA BELLA ANTONIA weder als besonders witzig empfunden – er ist dabei weniger nahe am echten Leben als Pasolini, und wirkt oft einfach wie ein abgefilmtes Bühnenstück, lässt aber auch die richtig derben Zote vermissen, die ihn wenigstens ein bisschen deftig gewürzt hätten – noch als besonders spannung, anrührend oder erotisch – wie gesagt beschränkt sich die Erotik auf hüllenlose Darstellerinnen, und dadurch, dass alle Figuren ziemlich sorglos durch den Film tänzeln, entsteht zu keinem Zeitpunkt ein ernstzunehmendes Konfliktpotential oder ein Funken von Dramatik. Nichtsdestotrotz finde ich LA BELLA ANONIA interessant aufgrund der knappen halben Stunde, die seine Handlung sich hinter Klostermauern verabschiedet. Dort nämlich versammelt der Film all die Ingredienzien, die etwa zeitgleich zum festen Repertoire des Nonnensexfilms gehören sollten, nur eben mit dem Unterschied, dass sie, im Gegensatz zu „richtigen“ Nonnen-Exploitern wie Gianfranco Mingozzis FLAVIA (1974) oder Domenico Paolellas LE MONACHE DI SANT’ARCANGELO (1973) niemals eine bedrohliche Wendung nehmen, sprich: all die begehrten und begehrenden Nonnen, Mönche und Priester, die Antonias eigene Liebesgeschichte flankieren, müssen nie mit unangenehmen Konsequenzen ihrer Handlungen rechnen. Wo die sexuell tätige Nonne im klassischen Nunsploitation-Film ihres Lebens selten froh wird, da ihr die Heilige Inquisition auf den Hals rückt, sie sich in Machtintrigen des Klosterlebens verstrickt oder sie schlicht ihrer eigenen Lust zum Opfer fällt, die sich manchmal gar als leibhaftiger Teufel manifestiert, sind sich die Figuren des decamerotici-Universums sicher, dass sie weder von sich selbst noch von außen irgendetwas zu befürchten haben. Bezeichnend ist hierfür allein schon die Art und Weise wie Antonia überhaupt zu ihrem Habit kommt. Typisch für den Nonnensexfilm ist eigentlich, eine Figur im Zentrum zu haben, die gegen ihren Willen im Kloster landet. Antonia indes nimmt den Schleier mehr oder minder freiwillig. Ihr Vater denkt nicht daran, sie zur Nonne zu machen, Antonia als emanzipierte Frau jedoch weiß, dass sie ihn damit erpressen kann, und scheint ihr Noviziat mehr als Auszeit vom Elternhaus zu begreifen – zumal sie ihren Fulco ja, erst einmal Nonne geworden, wesentlich ungestörter treffen und lieben kann als unter den Argusaugen ihrer Familie. Ganz deutlich spürt man in einem Film wie LA BELLA ANTONIA den sorgenfreien Atem Boccaccios, der durch die Klostergänge weht. Amtskirche, Höllenfeuer, verzehrende Leidenschaften sind so weit weg wie sie nur sein können.

Zwei Traditionslinien, die hin zum Nunsploitation-Genre führen, kann man somit ausmachen. Für die erste, wesentlich besser untersuchte, steht ikonographisch Ken Russells wahnwitziger THE DEVILS von 1971, einer Adaption eines Theaterstück, das wiederum auf einem Roman Aldous Huxleys basiert, der darin authentische Vorkommnisse von Nonnenbesessenheit und darasu resultierender brennender Scheiterhäufen im Frankreich des siebzehnten Jahrhunderts dokumentiert. Diese Traditionslinie ist verwurzelt in historischen Ereignissen, in der anti-klerikalen Literatur der Aufklärung, in der, könnte man sagen, „ernsten“ Seite der Dinge. In ihnen erscheinen Nonnen zumeist als Opfer ihrer erfolglos unterdrückter sexueller Gelüste oder eines hierarchischen, patriarchalen Systems, in das sie aus unfreien Stücken hineingeraten sind. Die zweite Traditionslinie indes kommt von der „heiteren“ Seite der Dinge, und versteht das Klosterleben, ausgehend von Boccaccio, als Chance, den Fährnissen der Welt zu entfliehen und in aller Ruhe seine sinnlichen Sehnsüchte hinter schützenden Mauern auszuleben. Die Nonnen in einem Film wie LA BELLA ANTONIA nehmen sich, was sie wollen, und sie bekommen das, was sie wollen. Sie lachen viel, streiten sich höchstens mal darum, wer wann vom Klostergärtner beglückt werden darf, wahren eine Fassade, die sie aufrecht erhalten, um in ihrem Schutz ihre Sexualität zu feiern. Obwohl LA BELLA ANTONIA nun, muss ich sagen, wirklich kein Film ist, den ich besonders empfehlen würde, ist sein historisches Interesse dennoch ungebrochen für mich: Auf der Schwelle zum „richtigen“ Nunsploitation-Film kann man zusehen wie Nonnen für eine halbe Stunde all das tun, was sie später auch noch tun werden, jedoch mit einer Sorglosigkeit, die dahin ist, wenn Paolellas, Mingozzis oder Matteis Nonnen-Figuren bei lebendigem Leib die Haut abgezogen bekommen, bei lebendigem Leibe eingemauert werden oder von den Inquisitionsrichtern bei lebendigem Leib unaussprechliche Folterqualen erdulden müssen.
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Originaltitel: L'uomo della sabbia

Produktionsland: Italien 1981

Regie: Giulio Questi

Darsteller: Donato Placido, Francesca Muzio, Saverio Vallone, Mario Feliciani, Ferruccio De Ceresa
Dass Giulio Questi (1924-2014) allein deshalb zu den zwar großen, aber weitgehend unbesungenen Meistern des italienischen Kinos gehört, weil er einzig drei Kinofilme realisiert hat, ist ein Argument, das man spätestens dann nicht mehr gelten lassen kann, wenn man sich angeschaut hat, um was für Filme es sich dabei handelt. SE SEI VIVO SPARA (1967) ist einer der surrealsten und brutalsten Italowestern, die ich kenne. Es werden Halunken mit heißem Gold übergossen, goldene Kugeln aus noch zuckenden Leibern herausgerissen, dazu lungern Gürteltiere, Fledermäuse und Echsen in Gefängniszellenecken herum, und Tomás Milián bekommt es nicht nur mit einer latent homoerotischen Diebesbande zu tun, sondern wird zudem als christusgleiche Figur ans Kreuz gefesselt. Während Questis Studie über die grundlegende menschliche Eigenschaft der Gier wenigstens noch versucht, sich einigermaßen den Statuten des Genres anzupassen, dessen Korsett sie sich geliehen hat, so macht sein nächster Film, immerhin starbesetzt mit Jean-Louis Trintignant und Gina Lollobrigida, keinen Hehl mehr daraus, dass ihm Genre-Konventionen vollkommen gleichgültig sind bzw. lediglich als Steigbügelhalter eines bitteren Requiems auf den abendländischen Kapitalismus dienen. Obgleich oft genug als Giallo gelabelt, legt LA MORTE HA FATTO L’UOVO (1968) nicht nur die Identität seines Killers gleich zu Beginn freimütig offen, sondern beschäftigt sich, statt spannende Polizeiarbeit mit innovativen Mordtaten zu kombinieren, lieber damit, die emotional erstarrten Alltage seiner Oberschichtfiguren mit genauso kaltem Blick zu sezieren wie einen Film früher das über Leiche gehende Goldfieber seiner Westernhelden. Höhepunkte ist sicherlich eine Szene, in der die Entwicklungsabteilung der Hühnerfabrik, wo die Handlung des Films größtenteils angesiedelt ist, es endlich geschafft hat, die größtmögliche Produktionseffizienz zu erreichen: Die neugezüchteten Hühner haben keine Köpfe mehr, keine Flügel, sind bloß noch pralles, pulsierendes, permanent wie ein Geschwür wachsendes Fleisch. Während SE SEI VIVO SPARA ein Genre-Publikum höchstens durch die eine oder andere Szene vor den Kopf gestoßen hat, in der Questi sich etwas zu weit aus dem Fenster der Norm lehnt, dürfte LA MORTE HA FATTO L’UOVO bereits eine herbe Enttäuschung für jeden sein, der einen klassischen Kriminalfilm erwartet, und stattdessen in ein gar nicht allzu fernes Paralleluniversum entführt wird, in dem die menschlichste Tat, zu der ein Mensch fähig ist, noch das Töten eines Mitmenschen ist.

Es dauert vier Jahre bis Questi mit ARCANA seinen Abschied vom Kino nimmt – ein Film, der lange Zeit als verschollen galt, nachdem er aufgrund der finanziellen Pleite seiner Produktionsfirma lediglich mittels einer Handvoll Kopien seinerzeit überhaupt auf den Leinwänden zirkulieren konnte. ARCANA ist einer der seltenen Fälle innerhalb der Geschichte, bei denen ein einziger Film kurzerhand das Kino revolutioniert – oder, besser gesagt: das Kino revolutioniert hätte, wenn dieser Film denn so viele Augen gefunden hätte, wie er sie verdient hat. Questis Okkult-Kompendium voller inzestuöser Phantasien, verstörender Kinderspiele und magischer Praktiken von Séancen bis hin zu Esels-Levitationen und Froschgeburten innerhalb von Frauenmündern ist nicht nur seiner Zeit voraus, sondern viel eher komplett aus der Zeit gefallen – Guerilla-Filmemachen par excellence, das so tut, als gäbe es für Kamera, Montage, Schauspielführung kein Regelwerk, gedreht mit einem winzigen Team in Privatwohnungen und auf offener Straße, dafür angefüllt von so vielen bilderstürmerischen Ideen, dass man damit mehrere Spielfilme hätte füllen können. Zieht man die sinnlose Gewalt von SE SEI VIVO SPARA, die aberwitzige Gesellschaftskritik von LA MORTE HA FATTO L’UOVO und schließlich die kaum in Worte zu fassenden Zauberkunststückchen von ARCANA in Betracht, ist man, wie ich, wohl erst einmal erstaunt, dass ein Avantgardist wie Questi in den 80ern und 90ern – bevor er sich in den 2000er Jahren, weit über siebzig inzwischen, als Video-Künstler neu erfindet! – fürs italienische Fernsehen gearbeitet, und dort mir gänzlich unbekannte Serien wie QUANDO ARRIVA IL GIUDICE (1986) oder Vorabendfilme wie NON APRITE ALL’UOMO NERO (1990) zu verantworten hat.

Nicht mehr unbekannt sind mir indes – und deshalb der vorliegende Text - Questis beiden ersten Ausflüge in die Fernsehlandschaft. Es handelt sich jeweils um eine Episode für die italienischen Sendereihen I GIOCHI DEL DIAVOLO und IL FASCINO DELL’INSOLITO, in denen Klassikern der Phantastischen Literatur vor allem des neunzehnten Jahrhunderts von wechselnden Regisseuren Tribut gezollt werden sollten. Gérard de Nerval, Robert Louis Stevensons und Henry James heißen einige der Autoren, deren oftmals eher esoterischen Erzählungen von Italo Calvino für I GIOCHI DEL DIAVOLO zusammengestellt wurden, um sodann durch mir unbekannte Filmemacher und Filmemacherinnen wie Giovanna Gagliardo oder Marcelo Aliprandi ihre Transformation ins Bewegt-Bild zu erfahren. Dass I GIOCHI DEL DIAVOLO bislang nicht gänzlich in irgendwelchen Archiven zum Verstauben verschwunden ist, hat die Serie allerdings einem recht prominenten Partizipanten zu verdanken. Niemand anderes als Mario Bava, unterstützt von seinem Sohn Lamberto, ist es, der in seiner letzten Regie-Arbeit vor seinem Tod Prosper Mérimées Novelle LA VÉNUS D‘ILLE mit Daria Nicolodi in der Hauptrolle verfilmt. Wenn das allein nicht alles bereits mein Interesse geweckt hätte, wären es sicherlich die Stoffe gewesen, denen wiederum Questi sich zugewendet hat, beide Male nämlich Erzählungen eines meiner liebsten Schriftstellers der Romantischen Schule, wenn nicht der deutschsprachigen Literatur überhaupt, dem Gespenster-Hoffmann Ernst Theodor Amadeus, der gerade mit den von Questi bearbeiteten Texten wie DER SANDMANN oder VAMPIRISMUS seinen ganz eigenen und eigenwilligen Beitrag zum aufknospendem Horror-Genre um die Jahrhundertwende zwischen siebzehn und achtzehn geleistet hat.

DER SANDMANN dürfte – nicht zuletzt dank diverser Deutsch-Abis – mit Abstand E.T.A. Hoffmanns bekanntester Text sein. Erstmals veröffentlicht 1816 als Teil seiner NACHTSTÜCKE, doktert die Literaturwissenschaft noch heute an der kurzen und kurzweiligen, dennoch aber ungemein komplexen und vielschichtigen Erzählung herum, sodass es nicht übertrieben ist, von einer wahren Flut an sich gegenseitig manchmal ergänzenden, oft genug aber auch widersprechenden Analysen, Interpretationen, Kontextualisierungen der Erzählung zu sprechen. Im Zentrum der Handlung steht der Student Nathanael („das Gottesgeschenk“, was im Griechischen Theodor heißt und wie durch Zufall einer der Vornamen Hoffmanns ist), der sich in einem Brief an seinen Busenfreund Lothar Luft bezüglich eines Kindheitstraumas macht, das er nun seit vielen Jahren mit sich herumschleppt. Ein unheimlicher Hausfreund ist damals bei seinen Eltern ein- und ausgegangen, der Advokat Coppelius, mit dem sein Vater alchemistische Experimente veranstaltet habe, die Nathanaels Papa letztlich das Leben kosteten. Aufgrund der schlimmen Erinnerungen an den Advokaten identifiziert Nathanael ihn seither mit dem Sandmann, einem Kinderschreckpopanz, der ungehörigen Buben angeblich die Augen ausreißt und sie seinen vogelartigen Kindern zum Fraß vorwirft. Aber nicht nur das: Der Anlass für Nathanaels Briefbeichte ist der Wetterglashändler Coppola, der heute bei ihm hausierend vor der Türe stand, und in dem er nun ebenfalls den Unheilbringer von damals zu erkennen glaubt. In seiner Aufregung unterläuft Nathanael allerdings das Missgeschick, dass er den Brief nicht an Lothar, sondern an seine Verlobte Clara schickt, die auf das, was sie für alberne Hirngespinste hält, allergisch reagiert, und ihren Liebsten zur Vernunft zu rufen versucht. In einem dritten und letzten Brief an Lothar wischt Nathanael dann auch die ganze Geschichte vom Tisch, und bittet den Freund, vor ihm und vor Clara nicht mehr über die Sache zu reden. Nun schaltet sich der auktoriale Erzähler ein, angeblich ein Freund wiederum Lothars, von dem er dann auch erfahren habe, was das Schicksal weiterhin mit Nathanael anstellte: Der verliebt sich in die Tochter eines Hochschulddozenten, des Physikers Spalanzani, geht dadurch immer mehr zu Distanz auf Clara, und bemerkt nicht, dass die schöne Olimpia, der er sein Herz geschenkt hat, nichts weiter ist als ein zwar lebendig wirkender, aber völlig maschinell betriebener Automat, eine Puppe, die nur „Ach, Ach!“ von sich zu gibt. Schuld an Nathanaels Liebestrunkenheit ist ein Perspektiv, das er Coppola abgekauft hat, und durch das ihm die Welt wie verändert erscheint. Ebenso wähnt er bald, dass Spalanzani und Coppola, so wie sie Vater einst, gemeinsam unter einer Decke stecken, deren Stoff aus verbotenen Experimenten gewoben ist…

Mehrere Aspekte des SANDMANNS machen es, finde ich, zu einem eher schwierigen Unterfangen, den Text ohne einschneidende Eingriffe auf den Fernsehschirm zu bringen. Zum einen wären da natürlich die angesprochenen mannigfaltigen Deutungsebenen, die man in dem Text vorgefunden hat und heute noch vorfindet. Wahlweise kann man den SANDMANN interpretieren als: a) die Schilderung des Einbruchs übernatürlicher Mächte in unsere vermeintlich geordnete Welt – dann wäre die Erzählung ein klassisches Beispiel für eine Phantastische Literatur, die sich nicht in fadenscheinige Erklärungen flüchtet, um ihre irrealen Phänomene zu erklären, b) als Psychogramm eines dem Wahnsinn verfallenden jungen Manns – dann existieren all die phantastischen Interventionen einzig und allein in Nathanaels Kopf, aus dessen Sicht wir sie dann ja auch ausnahmslos erzählt bekommen -, oder c) auf einer Metaebene sogar als poetologische Aussage über Lüge und Wahrheit innerhalb der Dichtung – da selbst der auktoriale Erzähler immer mal wieder durchblicken lässt, man solle seine Worte vielleicht nicht als ganz so bare Münze nehmen. Außerdem hat Hoffmann natürlich verschiedene Diskurse seiner Zeit in der Geschichte verpackt, am prominentesten wohl die Opposition von Aufklärung und Romantik, erstere repräsentiert durch Clara, deren sprechender Name allein schon an Bündel voller Licht denken lässt, letztere repräsentiert durch Nathanael, einem verkappten Dichter, der nicht die geringsten Staudämme in seinem Innern besitzt, um sich gegen seine Phantasie zur Wehr zu setzen. Wie aber verfilmt man einen Text, der derart intensiv mit Fragen der authentischen Vermittlung spielt, der quasi permanent verdeutlicht, dass das, was wir als Fakten präsentiert bekommen, auch bloß Gespinste eines überreizten Hirns sein können, der zudem zusammenkompiliert ist aus drei Briefen und einem Erzählteil, und sich damit rein strukturell schon die erwähnten verschiedenen Perspektiven einschreibt? Demgegenüber hat DER SANDMANN allerdings aber auch das eine oder andere Bild in petto, das einer filmischen Ausgestaltung entgegenkommt. Erwähnt seien nur das hysterische Finale auf einem Aussichtsturm oder die Kindheitserinnerungen Nathanaels, die dann auch zum Garstigsten gehören, was nicht nur Hoffmann, sondern die gesamte deutsche Romantik an bizarren Horrorszenen hervorgebracht hat.

Questis L’UOMO DELLA SABBIA beginnt mit einer Szene, die in dieser Form in der Vorlage nicht zu finden ist: Nathanael, Lothar und Clara befinden sich im Elternhaus des ersteren, und zwar mitten in einer Nacht, die Nathanael aus schweren Träumen hat hochschrecken lassen. Während alle drei durch die komplett finsteren Räume wandeln, die einzig durch die mitgeführten Kerzen ein bisschen erleuchtet werden, vertraut Nathanael seinem besten Freund und seiner Verlobten an, was ihn seit Kindertagen quält. An dieser Szene sind mehrere Dinge symptomatisch für den gesamten Film: Dass Questi Nathanaels Offenbarungen vom Briefpapier in ein direktes Zwiegespräch verlegt, wirkt verständlich. Dass er uns aber die vermutlich visuell interessantesten Szenen des zugrundeliegenden Textes – Nathanaels Kindheitstage voller Angst vor Coppelius, Schlüssellochblicken in das alchemistische Labor seines Vaters und Panikträume vom Sandmann, der ihm Sandkörner ins Gesicht wirft bis ihm die Augen blutig aus den Höhlen springen – vorenthält bzw. lediglich oral vermitteln lässt, wirkt wie eine (enttäuschende) Geste der Verweigerung. Immerhin entschädigt L’UOMO DELLA SABBIA für das Fehlen surreal-beklemmender Bilder in seiner Auftaktszene mit einer Ausleuchtung zum Niederknien. Die stockdunklen Zimmer, der flackernde Kerzenflammenschein, dazu die Kostümierung der Personen im Stil des frühen neunzehnten Jahrhunderts, das evoziert eine irgendwie traumwandlerische Atmosphäre, die zwar rein gar nichts mit Hoffmanns Text zu tun hat, sich aber hübsch anfühlt – zumindest zunächst, denn je länger die Szene andauert, und je mehr Rückblenden Questi einfach in den Mund Nathanaels packt, um sie uns nicht zeigen zu müssen, desto ermüdender wird die Inszenierung, und desto deutlicher tritt ein Hauptproblem des Films zutage: Über weite Strecken wirkt L’UOMO DELLA SABBIA, als habe Questi einfach die Theateradaption des Hoffmann-Textes einer beliebigen Volksbühne mit seiner Kamera begleitet.

Schön verdeutlicht gerade der Auftakt, der, entgegen der Vorlage, in Nathanaels Elternhaus spielt, wo er sich mit Clara, Lothar und seiner Mutter zusammengefunden hat, um seine Hochzeit zu planen, was ich meine: Szene folgt auf Szene, klar voneinander geschieden, wobei jede einzelne im Grunde einzig daraus besteht, dass unsere Protagonisten sich in langen Dialogen, Monologen oder sogar Deklamationen in Richtung des Auditoriums ergehen, ohne dass L’UOMO DELLA SABBIA diese Abfolge verbaler Schlagabtäusche in irgendeiner Weise visuell kreativ ausgestalten würde. Stets beäugt die Kamera unsere Helden, als sei sie ein Theaterbesucher in einer der ersten Sitzreihe vor der Bühne, fährt ab und zu mal ein bisschen hin und her, zoomt, schwenkt, damit hat es sich aber schon an Initiativen, optisch mehr aus den staubtrockenen Gesprächen herauszuholen als in ihnen steckt. Höhepunkt dieser (im negativen Sinne) Theatralik ist eine sage und schreibe siebzehn Minuten lange Szene, die ausnahmslos in Nathanaels Studentenstube spielt. In die hat Questi so ziemlich alles reingestopft, was er in Hoffmanns Text finden konnte – eben genauso wie ein Theaterregisseur verfahren würde, wenn er den Auftrag hätte, einen hochkomplexen Text so zu straffen, dass nichts Wesentliches von ihm verlorengeht, alles aber zeitökonomisch dicht zusammenhängt. Nathanael erhält Besuch von einem Studienfreund, Nathanael erhält Besuch von Coppola, der ihm seine Guckgläser andreht, Nathanael bespitzelt die gegenüber wohnende Olimpia mit seinem neu erworbenen Fernrohr – das alles so ermüdend inszeniert wie möglich, da komplett beschränkt auf die visuell kaum interessanten vier Wände unseres Helden, die, erneut, an schlecht bzw. gar nicht kaschierte Theaterbretter erinnern.

Während man aufgrund der Tatsache, dass Nathanaels Kindheitstraumata uns lediglich durch seinen Mund kundgetan werden, noch denken könnte, Questi habe sich für einen realistischen Zugriff auf Hoffmanns Text entschieden – im Sinne von: dass er uns nur das zeigt, was Lothar und Clara ebenfalls sehen, und all das, was Nathanael vielleicht nur imaginiert, in seinem Kopf belässt -, so sieht man sich in der Folge getäuscht – glücklicherweise, muss ich sagen, denn die grotesken Dinge, die unser Held vor Linse und Auge bekommt, geben dem Film wenigstens eine klitzekleine Chance, etwas über die konventionellen Stränge zu schlagen. Wenn Nathanael am Ende feststellt, dass seine Liebste Olimpia nur eine aus Einzelbauteilen zusammengesetzte Puppe ist, um die sich Coppola und Spalanzani regelrecht prügeln, und sie dadurch genauso regelrecht zerstückeln, oder wenn Nathanael – eine von Questi erfundene Szene – sich an Coppolas Fersen heftet, und ihn heimlich dabei beobachtet, wie er von einer zwielichtigen Gestalt in einem Kellerraum eine Kiste mit einem vermeintlichen amputierten Menschenbein entgegennimmt, dann sind das Momente, die wie ein ganz entferntes und ganz leises Echo jener surrealer Bilder wirken, mit denen Questi in seinen drei Kinofilmen nur so um sich geworfen hat. Zusammen mit den Kulissen – gerade die Außenaufnahmen, für die es das Team in die verwinkelten Gassen irgendeiner italienischen Altstadt verschlagen hat, sind ein Traum -, der bereits gelobten Ausleuchtung und dem Einsatz einer Handkamera, die manchmal wirkt, als stünde sie kurz davor, das zunehmende psychische Desarrangement Nathanaels in verwackelte Bilder zu kleiden – es dann aber doch nie tut -, und zeitorientier Kammermusik mit haufenweise Streichereinsatz, können diese paar positiven Perlen in einem weitgehend statischen Meer jedoch auch nicht verhindern, dass L’UOMO DELLA SABBIA weder der literarischen Vorlage Hoffmanns in irgendeiner Weise gerecht wird noch dass er als eigenständiger Film in irgendeiner Weise nennenswert unterhaltsam, spannend oder, wie seine Integration in eine dezidierte Horror-Reihe suggeriert, gar schaurig wäre.

Ob all diese Defizite nun primär damit zu tun haben, dass Questi im Kontext einer TV-Serie wie I GIOCHI DEL DIAVOLO einfach nicht die Möglichkeit bekommen hat, sich auch nur ein Stückchen über den biederen Fenster-rahmen hinauszulehnen, oder ob er den Film selbst als bloße Auftragsarbeit betrachtet hat, für die es nicht lohnt, allzu viel Mühe und Herzblut hineinzustecken, kann ich nicht sagen. Bei all den verschenkten Chancen, zumindest im Kleinen einen respektablen Genre-Beitrag zu drehen, bleibt nichtsdestotrotz ein bitterer Beigeschmack, der nur verstärkt wird von der einzigen Szene, die tatsächlich wirkt, als hätte sie auch ARCANA gut zu Gesicht gestanden. Nathanael dringt dort nachts ins Haus Spalanzanis ein, um endlich Olimpia in Fleisch und Blut gegenüberzutreten. Die Handkamera begleitet ihn durch einen langen Flur, der gesäumt ist von ausgestopften Vögeln. Sie hängen an den Wänden, sitzen in Glasvitrinen. Es ist, als sei ein feuchter Traum Norman Bates‘ Gestalt geworden. Einmal – wenn auch viel zu kurz – versprüht L’UOMO DELLA SABBIA ein bisschen von der Film-Magie, die ansonsten in umständlichen Dialogen, standardisierten Kameraperspektiven und einer Montage nach dem Filmhochschullehrbuch erfolgreich erstickt wird. Schade drum.
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

Beitrag von Salvatore Baccaro »

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Originaltitel: Vampirismus

Produktionsland: Italien 1982

Regie: Giulio Questi

Darsteller: Antonio Salines, Roberto Tesconi, Gino Maringola, Maria Grazia Marescalchi, Francesca Archibugi
Dass Giulio Questi (1924-2014) allein deshalb zu den zwar großen, aber weitgehend unbesungenen Meistern des italienischen Kinos gehört, weil er einzig drei Kinofilme realisiert hat, ist ein Argument, das man spätestens dann nicht mehr gelten lassen kann, wenn man sich angeschaut hat, um was für Filme es sich dabei handelt. SE SEI VIVO SPARA (1967) ist einer der surrealsten und brutalsten Italowestern, die ich kenne. Es werden Halunken mit heißem Gold übergossen, goldene Kugeln aus noch zuckenden Leibern herausgerissen, dazu lungern Gürteltiere, Fledermäuse und Echsen in Gefängniszellenecken herum, und Tomás Milián bekommt es nicht nur mit einer latent homoerotischen Diebesbande zu tun, sondern wird zudem als christusgleiche Figur ans Kreuz gefesselt. Während Questis Studie über die grundlegende menschliche Eigenschaft der Gier wenigstens noch versucht, sich einigermaßen den Statuten des Genres anzupassen, dessen Korsett sie sich geliehen hat, so macht sein nächster Film, immerhin starbesetzt mit Jean-Louis Trintignant und Gina Lollobrigida, keinen Hehl mehr daraus, dass ihm Genre-Konventionen vollkommen gleichgültig sind bzw. lediglich als Steigbügelhalter eines bitteren Requiems auf den abendländischen Kapitalismus dienen. Obgleich oft genug als Giallo gelabelt, legt LA MORTE HA FATTO L’UOVO (1968) nicht nur die Identität seines Killers gleich zu Beginn freimütig offen, sondern beschäftigt sich, statt spannende Polizeiarbeit mit innovativen Mordtaten zu kombinieren, lieber damit, die emotional erstarrten Alltage seiner Oberschichtfiguren mit genauso kaltem Blick zu sezieren wie einen Film früher das über Leiche gehende Goldfieber seiner Westernhelden. Höhepunkte ist sicherlich eine Szene, in der die Entwicklungsabteilung der Hühnerfabrik, wo die Handlung des Films größtenteils angesiedelt ist, es endlich geschafft hat, die größtmögliche Produktionseffizienz zu erreichen: Die neugezüchteten Hühner haben keine Köpfe mehr, keine Flügel, sind bloß noch pralles, pulsierendes, permanent wie ein Geschwür wachsendes Fleisch. Während SE SEI VIVO SPARA ein Genre-Publikum höchstens durch die eine oder andere Szene vor den Kopf gestoßen hat, in der Questi sich etwas zu weit aus dem Fenster der Norm lehnt, dürfte LA MORTE HA FATTO L’UOVO bereits eine herbe Enttäuschung für jeden sein, der einen klassischen Kriminalfilm erwartet, und stattdessen in ein gar nicht allzu fernes Paralleluniversum entführt wird, in dem die menschlichste Tat, zu der ein Mensch fähig ist, noch das Töten eines Mitmenschen ist.

Es dauert vier Jahre bis Questi mit ARCANA seinen Abschied vom Kino nimmt – ein Film, der lange Zeit als verschollen galt, nachdem er aufgrund der finanziellen Pleite seiner Produktionsfirma lediglich mittels einer Handvoll Kopien seinerzeit überhaupt auf den Leinwänden zirkulieren konnte. ARCANA ist einer der seltenen Fälle innerhalb der Geschichte, bei denen ein einziger Film kurzerhand das Kino revolutioniert – oder, besser gesagt: das Kino revolutioniert hätte, wenn dieser Film denn so viele Augen gefunden hätte, wie er sie verdient hat. Questis Okkult-Kompendium voller inzestuöser Phantasien, verstörender Kinderspiele und magischer Praktiken von Séancen bis hin zu Esels-Levitationen und Froschgeburten innerhalb von Frauenmündern ist nicht nur seiner Zeit voraus, sondern viel eher komplett aus der Zeit gefallen – Guerilla-Filmemachen par excellence, das so tut, als gäbe es für Kamera, Montage, Schauspielführung kein Regelwerk, gedreht mit einem winzigen Team in Privatwohnungen und auf offener Straße, dafür angefüllt von so vielen bilderstürmerischen Ideen, dass man damit mehrere Spielfilme hätte füllen können. Zieht man die sinnlose Gewalt von SE SEI VIVO SPARA, die aberwitzige Gesellschaftskritik von LA MORTE HA FATTO L’UOVO und schließlich die kaum in Worte zu fassenden Zauberkunststückchen von ARCANA in Betracht, ist man, wie ich, wohl erst einmal erstaunt, dass ein Avantgardist wie Questi in den 80ern und 90ern – bevor er sich in den 2000er Jahren, weit über siebzig inzwischen, als Video-Künstler neu erfindet! – fürs italienische Fernsehen gearbeitet, und dort mir gänzlich unbekannte Serien wie QUANDO ARRIVA IL GIUDICE (1986) oder Vorabendfilme wie NON APRITE ALL’UOMO NERO (1990) zu verantworten hat.

Nicht mehr unbekannt sind mir indes – und deshalb der vorliegende Text - Questis beiden ersten Ausflüge in die Fernsehlandschaft. Es handelt sich jeweils um eine Episode für die italienischen Sendereihen I GIOCHI DEL DIAVOLO und IL FASCINO DELL’INSOLITO, in denen Klassikern der Phantastischen Literatur vor allem des neunzehnten Jahrhunderts von wechselnden Regisseuren Tribut gezollt werden sollten. IL FASCINO DELL’INSOLITO ist gewissermaßen ein Neuaufguss von I GIOCHI DEL DIAVOLO. Allerdings war dieser Serie eine längere Lebenszeit beschieden. Von 1980 bis 1982 lässt sie in drei Staffeln mir meistenteils unbekannte Regisseure – höchstens Paolo Poeti könnte man noch wegen seines Ilona-Staller-Softpornos INHIBITION (1976) kennen, und Biago Proetti dafür, dass er im Vorspann von Fulcis GATTO NERO (1981) als Drehbuchautor aufgeführt wird – sich an Texten von Klassikern der Phantastischen Literatur wie H.P. Lovecraft, Auguste Villiers de l’Isle Adam, Ambrose Bierce oder Montague Rhode James versuchen. Für Questi fällt, wie schon bei L’UOMO DELLA SABBIA für I GIOCHI DEL DIAVOLO, eine Erzählung E.T.A. Hoffmanns ab, die von RAI am 24.Juli 1982 erstmals ausgestrahlt wird. Während DER SANDMANN, den Questi ein Jahr zuvor bereits mit, wie man an entsprechender Stelle nachlesen kann, weniger künstlerischem Erfolg verfilmt hat, zu den wichtigsten Werken nicht nur Hoffmanns, sondern der gesamten deutschen Romantik gehört, ist die kurze Geschichte, die er nunmehr in ein Drehbuch umgemünzt und in bewegte Bilder übersetzt hat, wohl höchstens genauen Kennern des Hoffmann’schen Oeuvres wirklich mental präsent.

VAMPIRISMUS, DER VAMPYR, CYPRIANS ERZÄHLUNG oder HYÄNEN – der Text, der Questi für seine zweite Hoffmann-TV-Adaption als Vorlage dienen sollte, ist deshalb unter vielen verschiedenen Namen bekannt, weil der Autor selbst ihm keinen verpasst hat. Zu finden ist die kurze Erzählung in Hoffmanns Sammlung narrativer und theoretischer Texte DIE SERAPIONSBRÜDER – um genau zu sein: in deren vierten und letztem Band von 1821. Für die Serapionsbrüder hat Hoffmann seinen tatsächlichen Freundes- und Bekanntenkreis literarisch ausgestaltet: Am Namenstag des Heiligen Serapion trifft er sich nach längerer Zeit wieder mit engen Vertrauten der schreibenden Zunft – darunter für die Phantastische Literatur nicht unwichtige Herren wie Adalbert von Chamisso und Friedrich de la Motte Fouqué - und man erzählt sich gegenseitig Geschichten, die - darauf legen die Freunde großen Wert -, nicht etwa der Realität abgeguckt sein, sondern vor allem in den Sphären der genialischen Intuition wildern sollen. Hoffmanns publizierte SERAPIONSBRÜDER sind dann jedoch nicht, wie man meinen könnte, eine Kompilation aus Texten unterschiedlicher Autoren, vielmehr hat er eigene, zumeist vorher bereits veröffentlichte Schriften zu-sammengefasst, und mit einer Rahmenhandlung versehen: Eine Gruppe junger Männer kommt zusammen, plaudert über Gott und Welt, gibt Geschichten zum Besten, und diskutiert diese danach ausführlich – sprich: ganz im Sinne von Schlegels progressiver Universalpoesie wird die ästhetische Reflexion selbst zum eigentlichen Thema der Diegese. Unter dem Material, das Hoffmann für die SERAPIONSBRÜDER vereint hat, finden sich solche illustre Texte wie das drollige Weihnachtsmärchen NUSSKNACKER UND MAUSEKÖNIG, die frühe Kriminalgeschichte DAS FRÄULEIN VON SCUDERI oder mit DIE BERGWERKE VON FALUN einer der Grundlagentexte der deutschen Romantik.

Dass VAMPIRISMUS in der Hoffmann-Rezeption ein eher schattiges Plätzchen bewohnt, hat nicht nur mit der übermäßigen Konkurrenz innerhalb der SERAPIONSBRÜDER zu tun, sondern vor allem damit, dass die Erzählung – meiner Meinung nach – nun wirklich nicht zu den besten Texten aus Hoffmanns Feder gehört. Erzählt wird eine fast schon prototypische Gruselgeschichte, die sich ausgiebig bei Versatzstücken der zeitgenössischen Schauerliteratur bedient, aber ansonsten weitgehend vermissen lässt, was für Hoffmanns Stil charakteristisch ist und was ihn, in meinen bescheidenen Augen, zu einem der großartigsten deutschen Dichter aller Zeiten stempelt: Von bizarrer Komik zu blutigem Ernst ist es bei ihm oft nur ein Sprung, so wie man die besten Texte Hoffmanns überhaupt vergleichen kann mit einem Bad in einem Punschkessel. Groteske, manchmal zum Brüllen komische, manchmal beklemmende Phantasmagorien, die die Surrealisten später nicht besser hinbekommen haben, sind oft nur die Vehikel selbstreflexive Einschüben, Rückgriffe auf Volkserzählgut, das Abbilden ästhetischer Diskurse und einer satirischen, vor allem von der putzigen, lebhaften Sprache Hoffmanns lebenden Gesellschaftskritik. In VAMPIRISMUS fehlt all das. Erzählt wird vom Grafen Hyppolit, der nach langer Abwesenheit und dem Tod des Vaters zurück zum Landsitz seiner Familie kehrt, um sein Erbe anzunehmen und zum neuen Hausherr zu werden. Dort erhält er alsbald Besuch von einer unliebsamen Verwandten, einer ältlichen Baronesse, vor deren abscheulichen Wesen ihm sein Vater zu Lebzeiten nicht genug hat warnen können. Tatsächlich macht die Alte einen auf Anhieb einen recht unangenehmen Eindruck auf Hyppolit, während indes ihre Tochter, Aurelia, genau das Gegenteil bewirkt. Sofort ist der Graf Feuer und Flamme für die wunderhübsche Cousine, und es dauert nicht lange, und Aurelia nebst Mama sind bei ihm im Schloss als Verlobte und zukünftige Schwiegermutter einquartiert. Überschattet wird die anstehende Hochzeit jedoch vom plötzlichen Tod der Baronesse, die eines Tages zusammengesunken von den Dienern im Park gefunden wird. Trotzdem gehen Aurelia und Hyppolit den Bund fürs Leben ein. Zunächst läuft alles rosig. Dann aber eröffnet Aurelia ihm, wie sehr sie unter ihrer Mutter gelitten habe. Die habe sich mit zwielichtigen Männern herumgetrieben, sie noch kurz vor ihrem Tod mit einem furchtbaren Fluch belegt. Hyppolit schreibt das veränderte Verhalten seiner Braut der Qual der Erinnerungen zu: Dass sie zusehends blasser wird, regelrecht vor seinen Augen verwelkt, und, wie er zufällig mitbekommt, sich nachts aus ihrem Ehebett stiehlt, und erst morgens zurück zu ihm unter die Decke schlüpft. Eines Nachts folgt der Graf seiner Liebsten, und wird auf dem Friedhof Zeuge, wie sie sich an einem frischen Leichnam labt. Nun gibt es keinen Zweifel mehr: Hyppolit hat mit einer Vampirin die Ringe getauscht…!

Wie man allein anhand meiner Inhaltsangabe des Hoffmann-Textes sieht, ist VAMPIRISMUS nun wirklich kein Werk, das sich besonders hinauslehnt über die Konventionen des Horror-Genres, und dadurch die Komplexität anderer Erzählungen des Autors schmerzlich vermissen lässt – eine nette Geschichte für einen Kaminfeuerabend, zum Gruseln für Zwischendurch, nicht mehr, nicht weniger. Was aber holt Giulio Questi für IL FASCINO DELL’INSOLITO aus diesem zweitrangigen Text heraus? Die Frage müsste man anders stellen, denn extrahiert wird aus VAMPIRISMUS nichts, was nicht schon in seinen Worten stecken würde, vielmehr einiges hinzugegeben, um die dünne Story auf Spielfilmlaufzeit zu strecken. Das sind zunächst Charaktere: Ein Freund Hyppolits, der sinnigerweise Cypriano heißt, und mit dem er lang und breit über wissenschaftliche oder esoterische Kenntnisse bezüglich des Weiterlebens nach dem Tod debattiert, ein Onkel Hyppolits, der zur Beerdigung der Baronesse anreist, der Doktor, der mit der Behandlung Aurelias betraut ist, und in Hoffmanns Vorlage lediglich mit ein, zwei Sätzen bedacht wird. Durch die Zufuhr neuer Figuren wird aber auch der Anteil an Dialogen deutlich höher. In Questis VAMPIRISMUS wird pausenlos diskutiert, geplaudert, monologisiert, beim Schach, abends im Bett, oder im herrschaftlichen Salon, ohne allerdings, dass dadurch der Kern der Geschichte irgendwelche Innovationsschübe erhält. Was Hoffmann kurz und knapp auf wenigen Seiten erzählt, das wird bei Questi unnötig aufgebauscht, und ohne dass sich Ebenen eröffneten, die die Vorlage nicht kennt und die ihr deshalb neue Aspekte einschreiben würden. Mehr noch als Questis erster Ausflug in die deutsche Romantik, L’UOMO DELLA SABBIA, ist VAMPIRISMUS, was sein Drehbuch betrifft, ein Negativbeispiel dafür, wie man jeden literarischen Text – und sei er noch so brillant – dadurch entwertet, indem man ihn einfach behandelt wie ein Theaterstück, und vollkommen die technischen/ästhetischen Wunder ausblendet, die die Kinematographie, wenn man sie nur richtig handhabt, bereitzuhalten imstande ist. Am ehesten lebt die Narration des Films für mich noch von dem (nicht nur optischen) Gegensatz zwischen Hyppolit und Aurelia. Während das äußere Erscheinungsbild des Grafen in Hoffmanns Text überhaupt nicht beschrieben wird, macht Questi ihn zum wohlbeleibten Herrn schätzungsweise Anfang Vierzig, der allein physisch einen deutlichen Kontrast zur jungen, schlanken Aurelia bietet, die in den Film als halbes Kind noch, reine Unschuld, ein bisschen blöde vielleicht, eingeführt wird. Aussagen bezüglich der Geschlechter- und Gesellschaftsverhältnissen im frühen achtzehnten Jahrhundert – es ist ja schon erstaunlich, wie offenkundig die Baronesse dem Grafen ihre Tochter als Braut „verkauft“ - , die ich einem in seinen Kinofilmen sonst so kritischen Geist wie Questi durchaus zugetraut hätte, sucht man in VAMPIRISMUS indes vergebens. Statt eine gesellschaftliche Realität durch die Hintertür hereinzulocken, konzentriert sich das Drehbuch ausnahmslos auf die phantastischen Komponenten des Ganzen, und das, wie gesagt, meist nur durch schnöde Worte.

Geschieht das endlose Gerede aber wenigstens in einer ästhetisch ansprechenden Form? Im Vergleich zu L’UOMO DELLA SABBIA fällt auf: Während Questis Beitrag zu I GIOCHI DEL DIAVOLO noch analog auf echtem Film gedreht worden ist, hat bei IL FASCINO DELL’INSOLITO inzwischen die Digitalisierung Einzug gehalten. Auch sonst dürfte das Mieder der Produktionskosten enger geschnürt gewesen sein: VAMPIRISMUS spielt ausnahmslos im Studio, und dort dann wiederum auf einem leicht überschaubaren Gelände, das im Prinzip nur aus dem Untergeschoss des gräflichen Schlosses, und einem Gärtchen besteht, das zugleich romantischer Lustpark und Ahnenfriedhof ist. Natürlich führt die Limitierung der Sets nicht dazu, der sowieso bereits trägen Erzählung zu irgendwelchen abenteuerlichen Kapriolen zu verhelfen, und so hübsch die aristokratischen Kammern und der Gottesacker mit seinem künstlichen Himmel auch ausgeleuchtet und ausgestattet sein mögen – der Salon beispielweise ist eine Mischung aus Gewächshaus und Kunstgalerie, vollgepfropft mit Pflanzen und zaghaft aus den Ecken hervorlugenden Caspar-David-Friedrich-Gemälden -, so ermüdend werden auch sie auf Dauer, wenn die restlichen Komponenten des Films es nicht fertigbringen, sie sinnvoll in die Handlung zu integrieren, sondern lediglich als nettes Bonbon für die Augen nutzen. Andererseits muss man Questi aber zugestehen, dass er in der einen oder anderen Szene wenigstens versucht, aus dem Studioset gerade wegen seiner absolut artifiziellen Erscheinung irreale Effekte herauszuschlagen. Einmal, bei der Totenwache für die Baronesse, erkundet die Kamera fast wie bei Argento das teilweise in Primärfarben angestrahlte Grafenschloss, fährt Flure entlang, betastet verschiedene Einrichtungsgegenstände, landet letztlich beim offenen Sarg der Toten. Auch der Friedhof, dessen Hintergrund offensichtlich aus Pappe ausgeschnitten und dessen Himmel eine monochrome Graufläche ist, sorgt in Verbindung mit der einen oder anderen geschmackvollen Kamerafahrt dafür, dass VAMPIRISMUS teilweise so wirkt, als sei die Agenda des Films bewusst die, seine Künstlichkeit unverhohlen zur Schau zu stellen. Allerdings verbleiben solche Ansätze auf visueller Ebene, während die Geschichte weiter ihren spannungsfernen Lauf nimmt, und in einer Klimax gipfelt, die den Namen kaum verdient: Hyppolit beobachtet bei Questi nicht nur Aurelia, sondern eine ganze Gruppe weißgewandeter Frauen, wie sie einen Leichnam verzehren – bzw. sich über einen toten Körper beugen, von dem wir nur die Füße zu sehen bekommen.

Solide Schauspieler, ansehnliche Sets, ein paar Momente, in denen die Kamera ihre Stasis vergisst – mehr hat VAMPIRISMUS für mich leider nicht zu bieten, und würde ich nicht wissen, dass ein bilderstürmischer Avantgardist wie Giulio Questi sowohl für Regie wie auch für Drehbuch dieses zu Recht vergessenen Fernsehfilms verantwortlich gewesen ist, hätte ich das niemals auch nur geahnt. Erneut, wie auch bei L’UOME DELLA SABBIA, gilt die Formel in dubio pro reo, und ich kann mir gut vorstellen, dass die Produktionsbedingungen, unter denen VAMPIRISMUS entstanden ist, ihr beträchtliches Teil dazu beigetragen haben, dass das Endergebnis derart mau ausgefallen ist. Zuletzt aber, für einen kurzen Moment, bricht etwas in diesen Film hinein, das mir fast das Herz hat stillstehen lassen: Die Kamera fährt erneut durch die Räumlichkeiten, beäugt durch das Salonfenster die Hochzeitsgesellschaft draußen im Garten. Dazu ertönen aufgeregte Violinen. Moment, denke ich mir, das klingt wundervoll, und: Diese Melodie kenne ich doch! Ich bekomme eine Gänsehaut, als ich feststelle, dass Questi genau das gleiche Folklore-Stück verwendet hat, das in einer der schönsten Szenen seines ARCANA – und vielleicht des italienischen Kinos überhaupt – erklingt. Es ist wie ein Augenzwinkern, das er mir zuwirft, über die Jahrzehnte hinweg. Ich nicke, verstehe.
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Originaltitel: La nave delle donne maledette

Produktionsland: Italien 1953

Regie: Raffaello Matarazzo

Darsteller: May Britt, Ettore Manni, Kerima, Tania Weber, Gualtiero Tumiati, Olga Solbelli, Romolo Costa
Isabella steht kurz vor einer Hochzeit, die, weil ihr Zukünftiger ein hoher Würdeträger und Vertrauter des Königs ist, zumindest das finanzielle Glück ihrer ökonomisch in eine Schieflage geratenen Familie besiegeln soll. Allerdings lassen die Gewitterwolken nicht auf sich warten: Während eines festlichen Balls zum Jungfrauenabschied erscheint ein Fremder unter den Gästen, reizt Isabella allein damit, dass er ihr gegenüber behauptet, das Wasser in dem Glas, mit dem er mit ihr anstoßen möchte, stamme aus der nahen Klosterquelle, zu einem Ohnmachtsanfall, und gibt sich ihren Eltern schließlich als Polizeiinspektor zu erkennen, der auf einen Fall von Kindesmord angesetzt wurde: Auf dem Gelände eben jenes Klosters nämlich sei kürzlich der Leichnam eines Säuglings gefunden worden, und Augenzeugen berichten, die Gestalt einer jungen Frau gesehen zu haben, die sich eines Nachts grabend an besagter Stelle zu schaffen gemacht haben soll. Dass die Personenbeschreibung exakt auf Isabella zutrifft, und dass diese wiederum allein bei der Erwähnung des Klosters sämtliche Sinne verliert, ist dem Inspektor Beweis genug für ihre Täterschaft. Tatsächlich muss ihr Vater von Tochter und Gattin das schreckliche Geheimnis erfahren: Isabella sei von irgendeinem dahergelaufenen Burschen geschwängert worden, habe das Kind tot zur Welt gebracht, und es dann, gemeinsam mit der Mama, außerhaus geschafft. Nun steht der Papa selbst kurz vor einem Kollaps: Wie soll er Isabella denn jetzt noch unter die lukrative Haube bringen, und damit den drohenden Ruin von seinem Haus abwenden?

Ein Lamm, das man schuldlos zur Opferbank führen kann, ist indes bald gefunden. Unterm Dach von Isabellas Eltern lebt nämlich auch deren verwaiste Cousine, Consuelo, die ihr zumindest dann einigermaßen ähnlichsieht, wenn man sie nur im Zwielicht zu Gesicht bekommt. Die Trias aus Mutter, Vater und Tochter bearbeitet Consuelo lange und ausgiebig, und nach Stunden des Flehens, des Drohens, des Beschimpfens und Tätschelns ist sie endlich bereit, sich dem Inspektor als wahre Täterin zu enthüllen: Sie habe den Säugling auf heiligem Grund verbuddelt, und Isabella sei nur deshalb bei der Erwähnung des Konvents bewusstlos geworden, weil sie sie als Vertraute in ihren Sündenfall miteinbezogen habe. Beim anstehenden Prozess verpflichtet Isabellas Vater, damit die Wahrscheinlichkeit eines Freispruchs für Consuelo noch weiter gegen Null tendiert, einen eher verlotterten Rechtsanwalt als Verteidiger, Da Silva, der direkt vom Spieltisch ins Gericht getaumelt bekommt, dann aber, kaum hat er die verschüchterte Consuelo auf der Anklagebank erblickt, plötzlich eine reinigende Läuterung erfährt: Auf einen Schlag ist er nicht nur von der Unschuld der vermeintlichen Kindsmörderin überzeugt – weshalb er (vergeblich) alles daransetzt, ihr eine Verurteilung zu ersparen -, sondern zudem unsterblich in sie verliebt. Nachdem Consuelo auf ein Schiff verladen worden ist, das sie zur Buße in eine Strafkolonie irgendwo mitten im Atlantik bringen soll, heftet sich Da Silva an ihre Fersen, versteckt sich als blinder Passagier an Bord, und findet dort einen Verbündeten in seinem ehemaligen Lehrer, einem gefallenen Priester, der sich nunmehr als Schiffskoch verdingt. Noch mehr Zufälle häufen sich: Auch Isabella ist mit ihrem Angetrauten, der zum Gouverneur irgendeiner tropischen Kolonie berufen wurde, an Deck, und ihr Herz schlägt nicht schlecht, als sie in dem Großraumkäfig, in dem Consuelo und mit ihr etliche andere Schwerverbrecherinnen untergebracht sind, ihre Cousine entdeckt, deren Erinnerung sie am liebsten aus ihrem Gedächtnis gebrannt hätte…

Bis hierhin – etwa die Hälfte der Laufzeit sind inzwischen vergangen – könnte man LA NAVE DELLE DONNE MALEDETTE, den der seinerzeit vor allem mit seinen Melodramen der 50er und 60er zu den erfolgreichsten Regisseuren des italienischen Kinos zählende, später dann aber genauso schnell in Vergessenheit geratene Raffaello Matarazzo in der Blütezeit seiner Karriere als opulenten Farbfilm gedreht hat, für ein Kostümdrama halten, das sich höchstens dadurch auszeichnet, dass es den Fokus nicht, wie manch anderes zeitgenössische Piraten- oder Hochseeabenteuer, so sehr auf den Abenteuer-Aspekt legt, sondern sich stattdessen an den Emotionen seiner strikt in ein Schwarzweißschema gepressten Protagonisten abarbeitet. Dass sämtliche Figuren problemlos aus einem Roman des achtzehnten Jahrhunderts gepurzelt sein könnten, hat nicht nur damit zu tun, dass die Handlung des Films in eben diesem angesiedelt ist. Isabella und ihre Eltern, das sind Prototypen perfider Aristokraten, die, damit ihr Geldsäckel gefüllt bleibt, über Leichen gehen, und wenn es die der eigenen Verwandtschaft sind, und Consuelo, das ist der Prototyp der verfolgten, noch in den schlimmsten Situation ihre Integrität wahrenden Unschuld, wie man sie bei Richardson oder später, ins Groteske übersteigert, bei Sade findet. Matarazzo inszeniert sie folgerichtig dann auch als halbe Heilige, die es sogar als mutmaßliche Kindsmörderin und Ehebrecherin schafft, einen Tunichtgut wie Da Silva zu bekehren, der dann, abrupt vom Schwarz ins Weiß übergewechselt, ebenso folgerichtig alles daran setzt, seine große Liebe auf den ersten Blick zu retten und in eine glückselige Ehe zu integrieren.

Daneben gibt es eine Reihe von Nebenfiguren, die im Prinzip nur dazu da sind, die Glorienscheine oder Teufelsschwänze der Hauptfiguren zu stützen: Der Kapitän des Schiffs, das zugleich Passagiere wie auch Gefangene transportiert, ist ein moralferner Hund, der Isabellas Offerten, ihr gegen Sex die unliebsame Cousine vom Hals zu schaffen, alles andere als ablehnend gegenübersteht, und Da Silvas ehemaliger Lehrer, das ist ein aus vermutlich amourösen Gründen ins gesellschaftliche Aus geratene Priester, der dadurch, dass er dem Anwalt helfen kann, an Consuelos Befreiung mitzuwirken, etwas abbekommt von dem Funkeln der reinen Liebe, die die beiden jungen Menschen miteinander verbindet. Ausstattungstechnisch ist LA NAVE DELLE DONNE MALDETTE nichts, was großartig die Norm sprengen würde: Das Schiff befindet sich offenbar in einem Studio, der Himmel und das Meer sind bloße Hintergrundfolien, die Kostüme sind solide Theaterware, und Kamera, Montage und Orchestersoundtrack bewegen sich in Bahnen, die mir so vertraut sind wie die narrativen Versatzstücke, die Matarazzo offenbar primär deshalb zusammenbastelt, um in mir heftige Gefühle hochkommen zu lassen – so wie sein Kino generell nie eins war, dem es besonders um eine politische oder gesellschaftskritische Haltung zur Welt ging, sondern hauptsächlich darum, die Tränendrüsen seines Publikums zu leeren und die Herzen bis zur Kehle schlagen zu lassen.

Allerdings habe ich den vorletzten Absatz im Konjunktion begonnen. Man könnte LA NAVE DELLE DONNE MALEDETTE für einen Kostümfilm von der Stange halten, heißt es dort, melodramatisch, unterhaltsam, voller hübscher Bilder und ausgeleierter Klischees. Was wohl niemand, der den Film, wie ich, ohne Vorabinformationen zum ersten Mal sieht, im Verlauf seiner ersten Hälfte auch nur ahnen kann, das sind die subversiven Sprengsätze, die Matarazzo offenbar ganz kalkuliert zwischen den weiten Roben und verschwitzten Steuermännerhemden, den leidenschaftlich schmachtenden Dialogen und den hart herausgeschleuderten Machthaberworten, dem falschen Südseehimmel und dem falschen Meeresgang platziert hat, und die, je näher der Film seinem Ende kommt, umso heftiger detonieren. Eine erste Explosion findet in einer Szene statt, die ich eher in einem Frauenknastfilm der 70er von, sagen wir, Rino Di Silvestro erwartet hätte, jedoch sicherlich nicht in einem kostümierten Melodram der frühen 50er: Die verdammten Frauen – offenbar, außer Consuelo natürlich, allesamt von der Gesellschaft exkludierte Geschöpfe, die mehr die Umstände denn ihre charakterliche Disposition zu Prostituierten, Mörderinnen oder Dieben gemacht haben – halten es in dem Käfig unter Deck, wo sie, fernab des Sonnenlichts und ohne ausreichende Nahrung, auf engstem Raum zusammengepfercht sind, nicht mehr aus, Konflikte brechen sich Bahn, schon fangen die ersten an, sich gegenseitig an den Haaren zu ziehen. Bald ist eine regelrechte Rauferei unter den verurteilten Damen ausgebrochen, ein cat figt par excellence wie man sie aus jedem einzelnen Exponenten des WIP-Genres kennt. Auch die Reaktion der Wärter bzw. des sie befehligenden Schiffskapitäns entspricht der, die man in einem Women-In-Prison-Exploiter etwa zwei Jahrzehnte später erwarten kann: Ohne Rücksicht auf Verluste werden die Frauen eimerweise mit eiskaltem Wasser übergossen. Obwohl einige der Schiffsleute sich weigern, mit der Tortur fortzufahren, denn der Käfigboden steht bereits unter Wasser und die Frauen klammern sich schlotternd und schreiend aneinander vor Kälte, peitscht sie der wahre Sadist mit der Kapitänsmütze weiter an. Nicht nur er allerdings scheint in dem Spektakel voller an grazilen weiblichen Körpern klebender, durchnässter Stofffetzen einen ästhetischen Genuss zu finden: Es ist schon erstaunlich, wie Matarazzo ständig zwischen dem kreischend umhertaumelnden, verzweifelten Gefangenen und den aus Froschperspektive beinahe direkt in die Kameralinse ergießenden Wasserströmen hin und her schneidet, und damit nicht nur wenig subtile sexuelle Konnotationen offenlegt, sondern vor allem eine unverhohlene Schaulust und Zeigefreude, die – erneut muss ich das betonen, so verblüfft bin ich davon! – kein dezidierter Exploitation-Film besser hingekriegt hätte.

Während man dieser Szene durchaus misogyne Züge unterstellen könnte, verkehrt sich das Blatt in der Folge noch mindestens zweimal: Es kommt nämlich – ebenfalls ein klassischer Topos – auf unserem Schiffchen zur Meuterei. Den Frauen reißt die Hutschnur, sie bemächtigen sich eines Wärters und seiner Schlüssel, stürzen sich auf Deck, und brüllen den sie mit ihren Gewehrläufen anvisierenden Schiffsleuten zu, sie sollten auf ihre Seite wechseln, dort erwarteten sie Lendenfreuden und Freiheit – und Matarazzo fokussiert in Großaufnahme, um die Verlockungen der Revolution zu verdeutlichen, zunächst die Gesichter der Matrosen, die unschlüssig sind, ob sie dem Befehlsgebrüll des Kapitäns und der aristokratischen Passagiere wirklich Folge leisten sollen, und die ausladenden Dekolletees einiger der Flintenweiber. Es dürfte klar sein, welche Argumente überwiegen: Während sich Kapitän, Isabella, deren Gatte und die übrigen Vertreter einer repressiven Oberschicht in ihren Kajüten verschanzen und einen aussichtlosen Verteidigungskampf führen, der sie letztlich den Hals kostet, zelebrieren die ihrer Repressionen entledigten Frauen und Männer eine beispiellose Sex-Orgie. Matrosengesichter werden stürmisch mit Küssen beschossen, Röcke heben sich im Sekundentakt, Körper poltern über die Bodenplanken, und selbst wenn dazwischen jemand von einem Schuss niedergestreckt wird, bringt das die Meute und den Film nicht aus seinem wahrlich hemmungslosen Rausch. Consuelo und Da Silva sind in dem Hexenkessel der Leidenschaft die einzigen Figuren, die ihre Triebe genug im Griff haben, um trotz des Chaos um sie herum weiterhin nach einem Ausweg zu suchen. Den eröffnet ihnen schließlich der ehemalige Priester, nachdem die von der schrankenlos ausagierten Lust gesteuerten Männer und Frauen bereits damit begonnen haben, die Nahrungsvorräte zu plündern oder über Bord zu schmeißen, und Feuer auf dem Schiff zu legen. Interessant ist, dass der Ex-Geistliche zwar den Liebenden ins einzige verbliebene Rettungsboot verhilft, dann aber selbst zurückkehrt ins Inferno, und dort inmitten der tobenden Körper ein Gebet anzustimmen beginnt, in das schließlich alle andern miteinstimmen. Als das Schiff in die Luft fliegt, hat jeder an Bord Herz und Geist gen Gott gerichtet.

Wenn die vorherigen Minuten durchaus als Allegorie auf gesellschaftliche Revolutionen gelesen werden können, die zunächst mit der Emanzipation des Individuums anfangen, dann aber, eher man sich versieht, in Mord und Totschlag gipfeln, versucht LA NAVE DELLE DONNE MALEDETTE in seinen Schlussbildern dann doch wieder die Restaurierung eines konservativen Weltbilds voll Schuld und Sühne. Als großangelegtes Purgatorium macht das explodierende Schiff mit all den Sündern genauso kurzen Prozess wie mit dem ausführlich illustrierten Treiben jenseits gesellschaftlich reglementierter Moralgrenzen zuvor. Dass LA NAVE DELLE DONNE MALDETTE trotzdem kein Film ist, der einen Kirchentag bereichert, ist auch den zeitgenössischen Zensoren klargewesen. Mit denen hat Matarazzo nämlich erhebliche Probleme bekommen, die Schere wurde eingesetzt, der Film selbst zu einem Verdammten. Für mich indes ist klar: So schön, so gewaltsam, so virtuos hat, glaube ich, kaum ein anderer kommerzieller Film der 50er eine sexuelle Revolte genutzt, um einen an sich biederen, verträglichen Film quasi in der Mitte entzweizureißen – und um dabei zugleich zu zeigen, wie viel Freude es bereitet, Schranken niederzureißen und dann nur notdürftig wieder zusammenzuflicken. LA NAVE DELLE DONNE MALEDETTE ist ein Wolf im Schafspelz, eine Wange, die glüht, und man weiß nicht, ob vor Scham oder vor Geilheit, ein ständiges Oszillieren zwischen brüskiertem Puritanismus und verschwitztem Sadomasochismus, bei dem schnell klar ist, was von beidem die Fassade darstellt, und was die noch feuchte Farbe.

Dass ich diesen Film liebe wie nichts Gutes, dürfte klar sein. Genauso wie der obligatorische Spruch am Ende: Schaut euch dieses willenlose Meisterwerk des subversiven Kinos so bald an wie möglich – und selbst wenn es nur die (leicht gekürzte) deutsche DVD-Fassung sein sollte!
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

Beitrag von Salvatore Baccaro »

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Originaltitel: Aventurera

Produktionsland: Mexiko 1950

Regie: Alberto Gout

Darsteller: Ninón Sevilla, Tito Junco, Andrea Palma, Rubén Rojo, Miguel Inclán

Es ist nicht nur ein einziger Film, den Alberto Gout 1950 mit AVENTURERA gedreht hat, sondern mehrere, auf engstem Raum zusammengepfercht, und kurz vorm Explodieren stehend.

Gleich in den ersten zehn Minuten brennt AVENTURERA mehr ab als andere Melodramen des Goldenen Kino-Zeitalter Mexikos in ihrer gesamten Laufzeit: Elena Tejero ist ein behütetes Mädchen aus der Oberschicht von Chihuahua. Wir lernen sie an einem ganz normalen, sorglosen Tag kennen. Sie flirtet, auch wenn Mama Consuelo das nicht gerne sieht, mit einem Freund ihres Vaters, dem zwanzig Jahre älteren Ramón, lässt sich von ihm zur Tanzschule fahren, lässt auf dem Nachhauseweg, wie so oft, den zwielichtigen Julio abblitzen – und findet im oberen Stock ihres Elternhauses die eigene Mutter mit dem Hausfreund knutschend. Innerhalb weniger Stunden zerbricht das heile Familienidyll. Consuelo entscheidet sich, nun enttarnt, mit Ramón durchzubrennen, und hinterlässt ihrem Gatten lediglich einen herzlosen Abschiedsbrief. Der wiederum kann seinen Schmerz nicht verwinden, und greift zum befreienden Schuss in die Schläfe. Am Ende des Tages steht Elena ohne Eltern, ohne Zukunft, ohne Hoffnung da, und ich bekomme den Mund kaum zu angesichts der Rasanz und konsequenten Schonungslosigkeit, mit der dieser Film im Handumdrehen eine ganze Welt abfackelt.

Unter dem Titel ENTFESSELTE MORAL scheint AVENTURERA es damals sogar in die bundesdeutschen Kinos geschafft zu haben. Normalerweise vergreifen sich die hiesigen Titelschmiede ja gerne, wenn sie Filmen Namen geben, die sie kein bisschen verdient haben, und damit einen völlig falschen Eindruck von ihrem Inhalt erwecken. Im Falle von AVENTURERA passt das mit der Moral ohne Fesseln aber doch ganz gut. Elena nämlich knickt endlich doch gegenüber Julios Avancen ein, lässt sich von ihm zum Essen einladen, und sich versprechen, er habe da einen Job für sie an der Hand. Natürlich führt das Schlitzohr Schlimmes im Schilde: Erstmal im Etablissement von Rosaura de Cervera – einer Art Mixtur aus Tanzlokal und Bordell – angelangt, setzen die Puffmutter und der Kleinganove die unbedarfte Frau – fern kommen Erinnerungen an Christina Lindberg in THRILLER – EN GRYM FILM hoch - unter Drogen, sperren sie ein, und drohen ihr – mit Unterstützung eines Faktotums namens Rengo – damit, ihr das Gesicht zu zerschneiden, sollte sie einen Fluchtversuch wagen. Elena fügt sich – was soll sie sonst auch schon tun? -, mausert sich zur beliebtesten Tänzerin und Sängerin des Clubs, macht dabei aber immer wieder Schwierigkeiten: Wenn ihr ein Gast zu dicht auf die Pelle rückt, bekommt er kurzerhand eine Schnapsflasche über den Schädel. Schließlich hat Rosaura die Faxen dicke, und feuert Elena – falls man das Feuern nennen kann, wenn man eine Zwangsprostituierte in die Freiheit entlässt. Erneut ist Julio zur Stelle, und nimmt Elena spontan als Fluchtfahrzeugfahrerin bei einem Banküberfall, den er mit einem Kollegen plant, in Anspruch. Alles läuft schief, Julio wird geschnappt und in die Strafkolonie der Teufelsinsel gesteckt, Elena entkommt nur knapp, verdingt sich weiter im Unterhaltungsmilieu und Dienstleistungsgewerbe, lernt das Unschuldslamm Mario kennen, der wiederum sich bis über beide Ohren in sie verliebt, ihr offeriert, sie zu heiraten, er habe Geld, sei angehender Anwalt. Elena sieht eine gesicherte Zukunft in greifbarer Nähe, und nimmt den Antrag kühl berechnend an – nur um dann festzustellen, dass ihre Schwiegermutter niemand anderes als Rosaura ist, die eine Doppelexistenz führt: In Chihuahua ist sie die knallharte Geschäftsfrau fürs horizontale Gewerbe, zu Hause spielt sie die brave Hausfrau und Mutter – und da die Moral, wie man liest, mittlerweile derart entfesselt ist, dass sie in hohen Sprüngen von Szene zu Szene tollt, beschließt Elena, bittere Rache an Rosaura zu nehmen…

Ich habe nun schon einige mexikanische Melodramen der 40er und 50er gesehen. Alle waren sie recht konventionell, recht unterhaltsam. Keins hat mich jedoch derart über den Haufen geworfen wie AVENTURERA. Man stelle sich vor, jemand dreht mit der Unbekümmertheit eines Santo-Abenteuers einen ernsten Film über gefallene Mädchen, Liebesirrungen und Rachegelüste, schiebt dem Ganzen überdeutliche film-noir-Stilelemente wie Banküberfälle, suggestive Beleuchtung und schummriges Halbweltmilieu unter, und man kann vielleicht ansatzweise erahnen, was für eine Wundertüte von sich ständig übertrumpfenden Plot-Verästelungen, theatralisch agierenden Darstellern, unwahrscheinlichsten Zufällen und surrealer Tanz- und Gesangs-Szenen einen hier erwartet. Dass viel getanzt und gesungen wird, hat damit zu tun, dass AVENTURERA zum Genre der sogenannten Rumba-Filme zählt, neben dem der Luchador-Filme das zweite populäre, dezidiert mexikanische Film-Genre, das sich dadurch auszeichnet, dass in ihm, wie nach einem Uhrwerk, von dicklichen Altherren intonierte sentimentale Liebesschlager, freizügige lateinamerikanische Hüftschwünge knackiger Damen oder jazzige Blechbläser-Infernos die Handlung eher begleiten denn sinnvoll ergänzen. Der Höhepunkt in AVENTURERA: Ninón Sevilla, eine der Diven des zeitgenössischen Mexikos, legt in atemberaubender altägyptischer, an den Rändern des Surrealismus kratzender Kulisse eine Choreographie hin, die vieles in den Schatten stellt, was ich sonst an rhythmischen Körperverrenkungen im Kino schon so gesehen habe.

Neben dem vielen Rumba, Mambo und cha-cha-chá, der lasziven Bühnenerotik, den schmachtenden Standards macht AVENTURERA für mich seine Feindschaft gegenüber jeglicher inhaltlicher Stagnation zum Meisterwerk. Dieser Film steht nie still, steigert sich ständig, atemlos, und wäre vielleicht, wären Kameraarbeit und Montage nicht doch recht konventionell, vielleicht gar nicht zu ertragen bei all den Schicksalsschlägen, denen sich seine Heldin minutenweise gegenübersieht. Großartig sind die Figuren – wandelnde Groschenromane vom Schmalspurgangster bis zur Puffmutter im Schafspelz -, großartig sind die Emotionen, die unter Gouts Regie nicht subtil angedeutet werden, sondern mir wie eine Sturmwelle ins Gesicht peitschen, großartig ist der Score, der vor nichts Halt macht und noch die zarteste Szenen unter tonnenweise Orchestergebrüll begräbt, großartig sind nicht zuletzt die vielen Reminiszenzen ans Amerikanische Kino in die Purzelbäume machende Geschichte eingeflochten: Es wirkt fast, als seien wir in einem delirierenden Hitchcock, wenn sich die Lage im Hause de Cervera zwischen Schwiegertochter und Schwiegermutter bis zum Eklat zuspitzt, und in jedem Blick, jeder Geste, jedem gutbürgerlichen Gebrauchsgegenstände eine seitenlange Freud-Analyse versteckt zu sein scheint.

Für Filme wie AVENTURERA liebe ich das Kino. So grotesk, verstörend, wunderschön ist die Welt – und weil wir das normalerweise nicht sehen, zeigen diese Filme es uns, grotesk, verstörend und wunderschön – und mit so viel Rumba, dass einem schon Farbflecken vor den Augen tanzen. Leute, ohne Scheiß, schaut! euch! diesen! zärtlichen! bestialischen! hemmungslosen! Film! an!
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