Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Originaltitel: Il tunnel sotto il mondo

Produktionsland: Italien 1969

Regie: Luigi Cozzi

Darsteller: Alberto Moro, Bruno Salviero, Anna Mantovani, Lello Maraniello, Ivana Monti, Luigi Cozzi
Der Name Luigi Cozzi dürfte für einen Großteil der cineastischen Menschheit wohl nichts anderes als ein Synonym für hochkonzentrierten Film-Trash sein, der derart erfolgreich ohne Verstand und Vernunft auskommt, dass er seine Zuschauer regelrecht dazu verführt, ihren eigenen Verstand und ihre Vernunft ebenfalls für ein, zwei Stunden völlig außer Kraft treten zu lassen. Von Werken wie STARCRASH (1978), HERCULES (1983) oder SINBAD OF THE SEVEN SEAS (1989) dürfte jeder Genrefilmfreund zumindest schon einmal gehört haben - wenn er sie nicht sogar mit weitaufgerissenen Augen und weitoffenstehenden Kiefern lange Zeit ungläubig angestarrt hat. In nahezu allem, was der Anfang der 70er unter den Fittichen von Dario Argento großgewordene Cozzi in seine vergleichsweise überschaubare Filmographie geschrieben hat, tritt ein augenzwinkernder, verspielter, manchmal geradezu schalkhaft-selbstironischer Geist zutage, dem weder daran gelegen ist, eine ästhetische noch eine inhaltliche Botschaft zu überbringen, sondern der einfach nur mittels knallbunter, außerordentlich unterhaltsamer, zu keinem Zeitpunkt ernstzunehmender B-Movies einen Dialog auf Augenhöhe mit seinem Publikum führen möchte. CONTAMINATION (1980) oder PAGANINI HORROR (1989), das sind von einem Genrefilmfan für Genrefilmfans gedrehte Filme, denen jeglicher Verriss und jegliche Missachtung durch die sogenannte seriöse Filmkritik am Allerwertesten vorbeigeht.

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Ende der 60er sieht die Filmwelt des Luigi Cozzi jedoch noch ein bisschen anders aus. Mit gerade mal Anfang Zwanzig stellt der filmbesessene Knabe ein eigenhändig finanziertes Projekt auf die Beine, bei dem an eine kommerzielle Auswertung - selbst wenn Cozzi und sein Team das gewollt hätten - nicht im Traum zu denken gewesen wäre. IL TUNNEL SOTTO IL MONO ist reinstes Kino von der Sorte, die man früher gerne mit den Präfixen Experimental-, Underground- oder Avantgarde- versehen hat. Obwohl der Film auf einer mir unbekannten Kurzgeschichte des US-amerikanischen Science-Fiction-Autors Frederik Pohl (1919-2013) basieren soll, scheint Cozzi, der nicht nur für Regie und Schnitt verantwortlich ist, sondern zudem am Drehbuch mitgearbeitet hat, diese literarische Vorlage wohl vor allem als relativ freie Grundlage genutzt zu haben, um auf sie seine eigenen, vor ungefilterter Kreativität ganz schön überschäumenden Ideen pflanzen zu können.

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Es ist der zweiunddreißigste Juli. Ein Mann läuft über einen Marktplatz. Seine Augen sind auf einen Kirchturm gerichtet. Lautes Glockengeläut erstickt die Tonspur. Der Mann besteigt den Kirchenturm. Oben angekommen zieht er ein Gewehr unter seinem Mantel hervor. Er kniet sich hin, legt an. Sein Ziel ist ein zweiter Mann, der nichtsahnend über den großen, freien Platz flaniert. Dass ihn eine Kugel in den Rücken getroffen hat, merkt er wohl selbst nicht mehr, so schnell erwischt und tötet ihn der Schuss. Dann aber ertönt eine atonale Geräuschkulisse, in der man mit einiger Müh vielleicht noch das Klingeln eines Weckers erahnen kann. Der eigentlich Niedergeschossene öffnet erschrocken die Augen. Er liegt aber nicht in seinem eigenen Blut auf offener Straße, sondern im heimischen Bett. Von nebenan ruft ihm seine Frau zu, der Kaffee sei fertig, er solle aufstehen. Ist alles nur ein Traum gewesen? Insgesamt viermal wird sich in IL TUNNEL SOTTO IL MONDO diese Szene wiederholen: insgesamt viermal wird der rotbärtige Schütze auf unseren Hauptprotagonisten, einen Büroangestellten namens Bruno, sein Gewehr richten, insgesamt viermal wird Bruno sterben und wiedererwachen, insgesamt viermal verkündet eine Texttafel, dass es nach wie vor der zweiunddreißigste Juli sei.

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Wer nun aber glaubt, es bei Cozzis Debut mit einer zwar verwirrend inszenierten, aber mit etwas Grips und Aufmerksamkeit schließlich doch leicht zu decodierenden Zeitschleifengeschichte zu tun zu haben, der liegt damit nicht mal zur Hälfte richtig. Was zwar nicht wirklich kohärent, aber storytechnisch zumindest ansatzweise nachvollziehbar beginnt, entpuppt sich schon bald zu einer sprachlos machenden Stilübung des jungen Luigi darin, wie man am effektivsten sämtlichen filmischen Konventionen den rebellierenden Rücken zuwendet und wirklich alles – und damit meine ich tatsächlich wirklich alles – anders macht als ihm das auf einer Filmhochschule der späten 60er beigebracht worden wäre. Vor allem der Schnitt hat es Cozzi als Spielwiese angetan, auf der er sich nach Lust und Laune austobt. Nicht selten laufen die Bilder in IL TUNNEL SOTTO IL MONDO Amok. Brutal, wild werden Szenen, die ursprünglich vielleicht sogar mal einen erkennbaren Inhalt transportierten, auseinandergerissen und eher assoziativ als sinnstiftend mit welchen verbunden, die auf den ersten Blick rein gar nichts mit ihnen zu tun haben. Genauso ergeht es der Geschichte – sofern man im Falle von IL TUNNEL SOTTO IL MONDO denn wirklich nur von einer einzigen Geschichte sprechen möchte. Eher erscheint mir dieser Film nämlich wie eine üppige, collagenhafte Sammlung von Fragmenten, die einem größeren Ganzen entrissen wurden, und sich nun wie zufällig mit anderen Bruchstücken aus anderen Kontexten verknüpfen. Zwar steht meist Bruno im Mittelpunkt, der im Laufe der Zeit durch immer apokalyptischer werdende Szenarien streift und dabei auf die seltsamsten Figuren und Einfälle trifft. Um diesen herum sind jedoch Ideen in zahlloser Menge angeordnet, sodass es oft allein schwerfällt, den Bezug zu erkennen, den Cozzi nun zwischen ihnen und dem scheinbar wirklich in einer Zeitschleife gefangenen Bruno herstellen möchte.

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Ein paar Beispiele dafür, was einen in der knappen, aber äußerst sperrigen Stunde von IL TUNNEL SOTTO IL MONDO mit offenen Armen erwartet, wären folgende: Eine junge Frau, Angestellte von Bruno, wird von diesem im Dienste der Firma dazu genötigt, diverse Kunden, um sie für weitere geschäftliche Zusammenarbeiten zu interessieren, mit ihren weiblichen Reizen zu beglücken. Zwei Weihnachtsmänner, von denen ich nicht mal ahne, was sie in diesen Film verschlagen hat, trachten Bruno nach Leib und Leben. Eine Zeitreisende aus der Zukunft verkündet üble Zeiten für Männer: in ihrem Paralleluniversum seien diese, bis auf wenige Exemplare, die sich mit Frankenstein- und Affenmasken bekleidet in den Wäldern versteckt halten, von den Frauen ausgerottet worden, die diese letzten Überlebenden wiederum zur Beute amazonischer Hetzjagden machen. Ein Computer liefert einen sehr langen Monolog, in dem er den einzigen Sinn seines Lebens preisgibt: er sucht den Aufenthalt Gottes, um ihn studieren und imitieren zu können, und damit selbst zum Gott zu werden. Ein falscher Prophet namens David zieht mit einem in Kunstblut getränkten Stock rote Linien in frischen Schnee. Luigi Cozzi, überraschend mager und überraschend jung, stolpert als weiterer, offenbar mit der Stimme einer Frau sprechender Zeitreiser durchs Bild. Aus dem Off verlieren sich Frauen- und Männerstimmen in kryptischen Monologen, von denen ich nicht weiß, ob Cozzi und seine Mitautoren sie selbst ersonnen haben, oder ob sie irgendwelchen bedeutenden philosophischen Werken entstammen. Großaufnahmen von Werbeplakaten oder Comics stehen wie unzusammenhängende Streben zwischen den sowieso schon wenig homogenen Bildern. Am Ende des Films ist die Welt wie wir sie gewohnt sind untergangen, und einzig erbarmenswerte Mutationen schleppen sich durch eine trostlose Landschaft aus Eis und Frost.

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Natürlich darf man an IL TUNNEL SOTTO IL MONDO nicht mit einer falschen Erwartungshaltung herantreten. Jeder einzelnen Szene sieht man das geringe Budget an, das Cozzi zur Verfügung gestanden hat. Erstaunlich finde ich es jedoch gerade deshalb, was das blutjunge Team aus den minimalen Mitteln alles herauszuholen imstande gewesen ist. Da Cozzi keine teuren Spezialeffekte verwirklichen konnte, beschränkte er sich eben darauf, die sogenannte Realität auf eine solche Weise zu verfremden, dass ihr die bedrohlichsten, verrücktesten, verstörendsten Züge abgewonnen werden. Versiert tut er das unter Zuhilfenahme aller Aspekte, aus denen ein Film sich gemeinhin zusammensetzt: angefangen von der komplex gestalteten Tonspur, die ihren Bildern abwechselnd Töne zuordnet, die ihnen zu entsprechen scheinen, nur um dann wieder mit welchen aufzuwarten, die dem Bildinhalt ausdrücklich zuwiderlaufen, über den einfach nur abenteuerlichen, waghalsigen und wagemutigen Schnitt, der so tut, als wolle er das Kino komplett neu erfinden, und sich von allem lossagen, was vorher an Montagekonventionen theoretisch und praktisch festgesetzt worden ist, bis hin zur bewundernswerten, über dem gesamten Projekt in großen Lettern angeschlagenen Gabe, aus einer Handvoll Nichts ein ganzes Königreich zu schaffen. Selbst den Umstand, dass nahezu sämtliche Dia- und Monologe aus dem Off heraus gesprochen werden, empfinde ich nicht als den limitierten Produktionsbedingungen geschuldetes Manko, sondern als weiteren Grund für den eigenwilligen Reiz dieses eigenwilligen Films.

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Einige meiner liebsten Szene in IL TUNNEL SOTTO IL MONDO sind dann eben auch die minimalistischsten. Bruno steht in einer Telefonzelle, während die Handkamera ihre Runden um die Zelle dreht, mal den Verkehr filmend, mal die zufällig vorbeikommenden Passanten, dann wieder Bruno, von dem es in dem Moment völlig egal ist, mit wem er eigentlich telefoniert und weshalb. Später erzählt der Computer seine tragische Gottsuchergeschichte, wobei man minutenlang einzig und allein Großaufnahmen seiner Apparaturen wie bspw. Bildschirm und diverse Schaltknöpfe sieht, so, als habe Cozzi ihn per Montage in seine Bestandteile zerlegen wollen. Noch später verschwimmt der Film in undeutlichen Aufnahmen von verschneiten Wäldern und Parks. Es reicht die Andeutung, dass Menschheit, Welt, Zeit und Raum ihr Ende erreicht zu haben, um diese Bilder zu denen einer kosmischen Einöde zu machen, in deren Sinnlosigkeit man nicht mal mehr ersaufen kann. Meine liebste Szene jedoch ist die, in der die Figur des Bruno eingeführt wird. Die Handkamera begleitet ihn auf dem Weg zur Arbeit. Er spricht direkt in sie hinein, scheint Fragen eines für uns unhörbaren Interviewers zu beantworten, sagt, seine Frau wolle Kinder, er nicht, das sei ihm zu viel Verantwortung, und dass er seinen Job im Büro interessant finde, und dass er mit Politik nichts am Hut habe. Dabei wird sein Schritt schneller als der der Kamera, die schließlich in seinen Rücken gerät und auf diesen ihren Schatten wirft, etwa exakt auf die Stelle, wo ihn die Kugel des Scharfschützen bereits getroffen hat und noch dreimal treffen wird. In IL TUNNEL SOTTO IL MONDO ist die Kamera eine Art von Waffe und die Montage eine Art von Krieg und das Kino ein gewaltsamer Barrikadensturm, voller zärtlicher Hoffnung, voller inbrünstiger Wut.
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Originaltitel: Il giardino delle delizie

Produktionsland: Italien 1967

Regie: Silvano Agosti

Darsteller: Maurice Ronet, Ida Galli, Lea Massari, Franco Bertoni, Franco Dora, Vanna De Rosas
Wie Giulio Questi, Romano Scavolini oder Alberto Cavallone zählt Silvano Agosti zu jener Gruppe italienischer Regisseure, die es zwar mit dem einen oder anderen Werk geschafft haben, die Aufmerksamkeit zumindest des Genre-Publikums auf sich zu ziehen, deren Gesamtoeuvre allerdings selbst den meisten sich mit Vorliebe in den hintersten Winkeln und zugemauertsten Gewölben der europäischen Filmgeschichte aufhaltenden Cineasten unbekannt sein dürfte. Agostis bekanntester Film – wobei bekannt in dem Zusammenhang lediglich bedeutet, dass ihn scheinbar mehr als fünf Leute gesehen haben – dürfte noch NEL PIÚ ALTO DEI CIELI aus dem Jahre 1977 sein, der wirkt wie ein radikales Remake von Bunuels EL ÁNGEL EXTERMINADOR: Während in letzterem eine Gruppe gutbürgerlicher Partygäste sich aus unerfindlichem Grund gefangen sieht in ihrem gutbürgerlichen Gastgeberhaus und sich daraus eine absurde Situation nach der andern entwickelt, ist es bei Agosti eine Gruppe Vatikan-Besucher auf dem Weg zur Audienz mit dem Papst höchstpersönlich, die so lange in einem Fahrstuhl steckenbleiben bis unter den frommen Fassaden die Bestien zum Vorschein kommen, und sich alles in einer Orgie aus Sex, Blut und Scheiße auflöst. Allerdings stellt NEL PIÚ ALTO DEI CIELI eine eher singuläre Erscheinung im Werk des nicht nur als Regisseur, sondern auch als Drehbuchautor, Cutter, Kameramann und Produzent arbeitenden Lombarden dar. Kratzt man nur ein bisschen an der Oberfläche seiner leider weitgehend unsichtbaren Filmographie, findet man nicht etwa noch mehr antiklerikale Scheußlichkeiten, sondern zum Beispiel mit N.P. IL SEGRETO (1973) einen verrückten Science-Fiction-Film mit Irene Papas, mit LA RAGION PURA (2001) ein Arthouse-Kammerspiel mit Franco Nero, oder mit NESSUNO O TUTTI (1975) eine dreistündige, preisgekrönte Fernsehdokumentation über Psychiatriepatienten, die er gemeinsam mit seinem engen Freund und Kollaborateur Marco Bellocchio realisiert hat. Seine ersten Kurzfilme reichen bis in die frühen 60er zurück, als er gerade mal Anfang 20 war, sein erster Langfilm heißt IL GIARDINO DELLE DELIZIE, datiert von 1967, und wurde, genauso wie Bellocchios Debut I PUGNI IN TASCA (1965) von genau dem Enzo Doria produziert, der uns mit ADAMO ED EVA, LA PRIMA STORIA D’AMORE (1983) den einzigen mir bekannten Film beschert hat, in dem Adam und Eva gegen Dinosaurier kämpfen.

Auch IL GIARDINO DELLE DELIZIE beginnt mit dem ersten Menschenpaar im himmlischen Paradies, vermittelt über das gleichnamige Triptychon des niederländischen Meisters Hieronymus Bosch, dessen groteske Gestalten und phantasievollen Martern mehr als einem Metal-Album als Cover gedient haben. Adam und Eva werden von Gott im Garten Eden platziert. Adam und Eva kopulieren im Stehen miteinander und werden dabei von einem riesengroßen Vogel beobachtet. Adam und Eva versuchen ihre Blöße unter Blättern zu verdecken und werden von einem schwertschwingenden Engel aus dem Paradies gejagt. Dazu ertönt ein beeindruckend beklemmender Morricone-Score aus düsteren Streichern und scheinbar wortlos schreienden Männerstimmen. Schon diese ersten zwei, drei Filmminuten machen deutlich, dass IL GIARDINO DELLE DELIZIE kein Werk sein wird, bei dem die Ästhetik sich dem Inhalt unterordnet. Tatsächlich sollte man nicht den Fehler begehen, Agostis Film nach seiner reinen Geschichte zu beurteilen. Die klingt nämlich abgedroschen wie folgt: Ein Mann, Carlo, hat geheiratet, und zwar Carla, mit der er zu den Flitterwochen aufgebrochen ist. Statt die Hochzeitsnacht zu vollziehen, wird Carlo von Unruhe im Hotelzimmer hin und her getrieben. Nachdem Carla eingeschlafen ist, prasseln Rückblenden und halluzinatorische Traumsequenzen auf ihn ein, die uns seine Vergangenheit und gegenwärtigen Ängste enthüllen. Die groben Stationen sind: gutbürgerliches, aber liebloses Elternhaus, katholische Erziehung, inklusive molestierender Priester und verinnerlichter Schuldkomplexe, offenbar unbefriedigender sexueller Kontakt mit einer früheren Liebschaft. An reiner Handlung passiert nicht mehr im Verlauf der etwa achtzig Minuten als dass Agosti uns seinen eher unsympathischen Protagonisten als einen von Neurosen und Komplexen zerfressenen Charakter vorstellt, in dem alles zusammenkommt, unter dem ein weißer, heterosexueller Mann Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, eingebildet oder uneingebildet, leiden kann. Wäre das alles, könnte man vielleicht verstehen, dass IL GIARDINO DELLE DELIZIE innerhalb der Filmgeschichte nicht mal eine Fußnote bildet, und dass alles, was der eine oder andere von dem Film heute noch kennt, ein Teil des wirklich wunderbaren Morricone-Soundtracka ist, den man, ganz bestimmt autorisiert, in einem Hongkonger Frauenlager aus Bambus, NU JI ZHONG YING (1973), recycelt hat.

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Doch, wie man wohl schon ahnt, natürlich hat Agostis Film mehr zu bieten als die selbstmitleidige Seelenschau eines Man-nes, der die gesamte Welt auf die in ihm steckenden Problemen reduziert, denn, aus formaler, technischer, ästhetischer Sicht ist IL GIARDINO DELLE DELIZIE wohl nichts weniger als eine Anthologie all der Stilmittel, mit denen der Experimentalfilm Mitte der 60er operiert hat, eine Art Lexikon kinematographischer Avantgarde-Techniken, eine Gesamtschau dessen, was man selbst mit einem eher unbeeindruckendem Drehbuch so alles anstellen kann, wenn man es in Bilder übersetzt, die es permanent über es selbst hinausheben. Gleich die ersten Szenen nach dem entrückten Bosch-Auftakt sind symptomatisch für die Art und Weise wie der gesamte Film inszeniert ist. In schneller Schnittfolge treffen aufeinander: Ida Galli alias Evelyn Stewart im Hochzeitsschleier wie sie ihr Gesicht der Kamera zuwendet, lächelt und in eine Frucht beißt. Eine extreme Nahaufnahme der Hochzeitstorte, in der eine Männerhand herumschneidet. Eine weitere extreme Nahaufnahme, diesmal von einem Tablett mit Schnittchen, das weiteren Händen, diesmal von Frauen, gereicht wird. Noch mehr Stückchen, die aus Torten gelöst werden, und, scheint es, noch näher an die Kameralinse herangeholt. Dann: Maurice Ronet, das Gesicht halb von etwas verdeckt, das sich derart weit im Vordergrund befindet, dass die Kamera es nur absolut unscharf hat fassen können, wie er seinen Kopf einem Mann entgegenneigt, der ihm etwas ins Ohr flüstert. Die Kamera fährt heran bis wir die ernste Miene unseres Helden dicht vor uns haben. Erneut gilt: das, was die Bilder transportieren, ist wenig spektakulär. Eine Hochzeitsfeier wie jede andere, man isst, trinkt, tratscht und klatscht, und, wie so oft, liegt irgendwas Unangenehmes in der Luft. Die Art und Weise aber wie die Bilder transportieren, was sie transportieren sollen, ist zum Niederknien. Im Prinzip jede der vier oben von mir skizzierten Aufnahmen wird dominiert von einer visuellen Idee, die sie vollständig bestimmt und denen sich ihr Inhalt zwangsläufig unterordnen muss. Virtuos, so, als sei er überhaupt nicht vertraut mit den lange vor seiner Geburt etablierten Konventionen des Erzählkinos, gestaltet Agosti seinen Lustgarten als eine Sammlung von Beispielen wie man die banale Realität allein dadurch vollkommen ins Surreale verformen kann, wenn man sie aus irren Kamerawinkeln und in verrückten Bildkompositionen einfängt.

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Obwohl IL GIARDINO DELLE DELIZIE natürlich mit anderen Namen des wagemutigen europäischen Kinos der 60er und 70er in Verbindung gebracht werden kann – an Federico Fellinis OTTO E MEZO (1963) erinnert, dass die in der Reali-tät spielenden Szenen und die, die einzig in Carlos Kopf stattfinden, miteinander derart verschlungen sind, dass es ab einem bestimmten Punkt schwerfällt, überhaupt eine klare Trennlinie zwischen beidem zu ziehen, an Fernando Arrabal und Luis Bunuel erinnern die antiklerikalen Tendenzen, die Agosti in pointierten, fast schon allegorischen, mitunter witzigen Bildern oder Situationen festhält, an Alain Resnais oder Alain Robbe-Grillet erinnert die labyrinthische Struktur des Films, der Alltäglichkeiten und Banalitäten wie eine Nacht in einem Hotel oder einen Kaffee in einem Strandcafé in etwas absolut Desorientiertes zu verwandeln weiß, an Bertoluccis PRIMA DELLA RIVOLUZIONE (1964) erinnert, nicht zuletzt aufgrund der Kameraarbeit Aldo Scavardas, ganz generell die exquisite, irgendwo zwischen elegant und verwaschen anzusiedelnde Schwarzweißphotographie -, ist der Film doch derart eigenständig, dass die oben genannten Regisseure und Filme lediglich ungefähre Koordinationspunkten sind. Mehr Sinn macht es vielleicht sowieso, IL GIARDINO DELLE DELIZIE als ziemlich delirierendes und fiebriges Amalgam aus allem Möglichem zu begreifen, was im abseitigen Kino der 60er so an Ideen herumgeflogen ist. Hitchock!, ruft mir ein Glas Orangensaft zu, das Agosti inszeniert, als sei es mindestens ein menschenfressendes Monstrum. Wir sehen Carlo verkleidet als Zirkusclown wie er ein Hündchen, das er wohl selbst sein soll, dressiert. Mehrmals darf Ida Galli on-screen Flüssigkeiten erbrechen. Als Kind hat Carlo eine Schwarze Messe zelebriert. Die Hotelzimmertoilette gibt seltsame Gurgellaute von sich, so, als wolle sie mit den Frischverheirateten kommunizieren. Eine lange Sexszene zwischen Carlo und Carla wirkt, als würde mindestens die Welt dabei untergehen. Meine liebste Szene ist aber eine, die ganz schön zeigt, dass Agosti sowohl ein durchaus ansehnliches Budget zur Verfügung gestanden haben muss, das nicht nur für die Verpflichtung eines Stars wie Ronet draufgegangen ist, sowie dass er nicht nur keine Kosten, sondern auch scheinbar keine Mühen gescheut hat, seine Visionen auf die Leinwand zu bannen: Plötzlich ist es kurzzeitig vorbei mit Morricones Sakralklängen und eine waschechte Beat-Band steht am Strand und spielt ein Instrumentalstück, das in keiner zeitgenössischen Jukebox deplatziert gewesen wäre. Dann kommt aber schon der Bruch, denn im Hintergrund der Szene sehen wir eine Gruppe Kinder, angetan wie Klosterschüler, die in einer Prozession den Hügel entlangwandern. Das Ganze ist geschnitten wie ein Musikvideo, mit vielen Großaufnahmen tanzender Beine, in Gitarrensaiten greifenden Händen, wackelnder Hippie-Köpfe, und mit vielen Kamerafahrten über die andächtig dahinschreitenden Kuttenträgerkinder hinweg. Auch die Tonspur oszilliert zwischen dem fetzigen Sound der Rockgruppe und einem Morricone-Chor von Engelsstimmchen. Irgendwann verzehrt die offener und offener werdende Kamerablende die statistenvolle und recht aufwändig gestaltete Szenerie. Nach einem Schnitt sind wir zurück an der Uferpromenade, wo Carlo und Carla herumflanieren. Ein Kind ruft off-screen: Mama, Mama, schau, das Blasorchester! – und genau diese übernimmt nun die Tongestaltung.

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Es ist schlicht meisterhaft wie Agosti seine Zuschauer durch diesen zwar überaus unorthodoxen, aber, meine ich, überhaupt nicht sperrigen Film führt, und die oben genannte Szene, in der Bild und Ton sich gegenseitig darin ergänzen, den Betrachter wechselweise zu irritieren und zu beruhigen, ist nur eine von vielen, die zum Ausdruck bringen, dass IL GIARDINO DELLE DELIZIE das Werk von jemanden sein muss, der nicht bloß mit Bildern und Sounds hantiert, um mit ihnen eine konkrete Botschaft zu vermitteln, sondern mit ihnen regelrecht denkt und fühlt. Zugleich ist es mir schlicht schleierhaft, weshalb ein solches kleines Meisterwerk, das ich mir durchaus in einem Programm mit Luigi Cozzis IL TUNNEL SOTTO IL M ONDO (1969) oder Romano Scavolinis LA PROVA GENERALE (1969) vorstellen kann, noch immer auf seine (Wieder?-)Entdeckung warten muss.
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Originaltitel: Finisterrae

Produktionsland: Spanien 2010

Regie: Sergio Caballero

Darsteller: Paul Nubiola, Santi Serra, Pavel Lukiyanov
Sergio Caballero ist einer der derzeitigen Veranstalter des alljährlich in Barcelona stattfindenden Musikfestivals Sónar, das sich hauptsächlich elektronischen Klängen verschrieben hat. Daneben findet man ihn aber vor allem umtriebig in vielen kreativen Feldern, sei es nun Konzept-, Installations- oder Klangkunst. Bei FINISTERRAE von 2010 handelt es sich um seinen ersten Langfilm.

Obwohl FINISTERRAE sich laufzeittechnisch bei einer durchaus spielfilmischen Länge von knapp achtzig Minuten einpendelt, fällt das Werk völlig aus dem Raster, in dem sich kommerziell produzierte und vermarktete Filme üblicherweise heimisch fühlen. Vielmehr ist FINISTERRAE ein Experimentalfilm in Spielfilmlänge, der auf eine Geschichte, eine Botschaft, einen in menschlicher Logik und menschlichen Worten fassbaren Sinn verzichtet, und stattdessen episodenhafte Szenen aneinanderreiht, deren roter Faden zumindest einer ist, von dem ich meine, dass ihn innerhalb der bisherigen Filmgeschichte noch niemand gezogen hat. Im Mittelpunkt des Films stehen nämlich als Hauptprotagonisten zwei Gespenster. Gespenster, das bedeutet in Caballeros Universum exakt das, was sich die meisten unter dem Begriff vorstellen dürften: zwei Gestalten unter weißen Bettlaken, denen schwarze Augenlöcher aufgemalt sind. Diese beiden Wesen haben es satt, ihre Zeit fortwährend in einem Höllenlimbus totschlagen zu müssen, weshalb sie zu einer Pilgerreise aufbrechen, die in Santiago de Compostela ihr Ende finden soll. Auf ihrer abwechselnd zu Fuß oder zu Ross oder auch mal im Rollstuhl zurückgelegten Reise geraten sie von einer befremdlichen Situation in die nächste, finden sich beispielweise in einem Wäldchen wieder, dessen Bäumen Ohren und Münder gewachsen sind, die ununterbrochen plaudern und lauschen, oder sie sehen sich mit Irritationen wie zum Beispiel der konfrontiert, dass ihr Pferd sich von einem aus Fleisch und Blut plötzlich in eines aus Holz verwandelt.

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Meiner vorsichtigen, zurückhaltenden Inhaltsangabe merkt man es vielleicht schon an: FINISTERRAE besitzt, rein auf seinen Plot reduziert, nichts, was man großartig in Worten vermitteln könnte. Die einzelnen Stationen der Reise sind untereinander austauschbar, bauen zu keinem Zeitpunkt aufeinander auf, folgen keinerlei narrativen Kohärenz, genauso wenig wie FINISTERRAE an sich seinem Publikum irgendwelche Hinweise dazu liefern würde, wie sein Inhalt denn auf einer intellektuellen Ebene veranstalten werden sollte. Caballeros Verweigerungshaltung geht soweit, dass er seinen Zuschauer vollkommen allein mit den Bildern lässt, in die er die Abenteuer seiner übrigens auf Russisch miteinander kommunizierenden Gespenstchen gekleidet hat. So gesehen hat FINISTERRAE verstandesmäßig nichts zu überbringen. Es ist ein Film, der allein visuell funktionieren möchte. Sollte Caballero jedenfalls, was ich mir allerdings kaum vorstellen kann, vorgehabt haben, mit seinem Film irgendeine spezifische Aussage zu transportieren, ist er darin kongenial gescheitert. Für mich lässt FINISTERRAE in seinem ganzen plotfeindlichen Auftreten jede konkrete Sinnzuweisung wie einen mit halber Kraft geschleuderten Kieselstein an sich abprallen.

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Da in FINISTERRAE zu keinem Zeitpunkt Spannung aufkommt, da nicht mal eine nacherzählbare dramaturgische Struktur existiert, da die Gespenster keine Entwicklung durchlaufen bzw. nicht mal über eine Persönlichkeit verfügen, fällt es nicht schwer, sich bei dem Film völlig auf seine genuin filmischen Aspekte zu konzentrieren. Die sind, gelinde gesagt, atemberaubend. Technisch und optisch ist FINISTERRAE ein wahres Filetstück – und das sagt ein Veganer. In äußerst langsamem, nahezu elegischem Tempo entfalten Caballeros bei wechselnden Witterungsverhältnissen eingefangenen Landschaftsaufnahmen eine stille Ästhetik wie man sie vielleicht mit der Andrej Tarkovskijs vergleichen könnte: die Kamera nimmt sich alle Zeit, die sie finden kann, um in das jeweilige Panorama einzutauchen, es entlang zu streichen, seine Oberfläche zu betasten, als würde sie es liebkosen. Von Anfang bis Ende prägt FINISTERRAE ein relativ einheitlicher Stil der Entschleunigung, der für manchen zeitgenössischen Betrachter, dessen Sehgewohnheiten an MTV-Musikvideos geschult worden sind, eine regelrechte Geduldsprobe darstellen könnte.

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Dabei entbehrt FINISTERRAE jedoch nicht eines gewissen Witzes, einer subtilen Ironie, die beispielweise in der oben schon erwähnten Ohrenwald-Szene zum Ausdruck kommt. Rein formal würde die, meine ich, in keinem Monty-Python-Werk negativ auffallen, nur dass sie unter dem Regiestil Caballeros eine ganz andere Qualität erhält. Inszeniert wird in FINISTERRAE nicht auf einen vermeintlichen Gag hin, und ob eine Szene nun ergreifen oder erheitern soll, lässt der Film dadurch bewusst offen, dass prinzipiell alles in ihm von dem gleichen schwermütig-schwerfälligen Tempo bestimmt wird. In gewisser Weise bedeutet das natürlich die Emanzipation des Zuschauers. Während uns von jedem beliebigen Blockbuster bis ins Detail vordiktiert wird, welche Emotion uns in welcher Szene befallen soll, lässt FINISTERRAE uns einmal mehr allein mit unseren Gefühlen. Eine direktere Korrespondenz zwischen den Bildern und mir entsteht, eine unvermittelte Korrespondenz sozusagen, in der meine eigene Stimme gleichberechtigt mit der des Filmes ist.

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Andererseits verweist Caballero, der, das merkt man FINISTERRAE an, in seinem Leben schon mehr als einen Film gesehen haben muss, überdeutlich auf ein vergangenes Kino, das ihm als Inspirationsquelle gedient hat. Namentlich handelt es sich um das europäische Autorenkino der 60er und 70er, auf das permanent angespielt wird. Gleich zu Beginn suchen die Gespenster vor Antritt ihrer Reise ein sogenanntes Oracle du Garrel auf. Eins von ihnen sitzt dabei zunächst regungslos auf einem Pferd, das von einem flammenden Kreis umgeben ist, das andere schreitet eben diesen Kreis entlang. Dazu erklingt ein Song von Nico. Das Zitat – oder besser: die beiden Zitate – stammen aus einem meiner liebsten Filme überhaupt. Er heißt LA CICATRICE INTÉRIEURE (1972), und sein Regisseur Philippe Garrel. Ein weiteres Beispiel: FINISTERRAE endet mit Aufnahmen von ausgestopften Tieren, über die eine Off-Stimme den Abspann, statt dass er als Text gezeigt werden würde, laut vorliest. Ich denke dabei sofort an den Anfang von Godards LE MÈPRIS (1963), dessen Vorspann sich auf genau die gleiche Art verbal, und eben nicht visuell, manifestiert. Letztlich ist sogar das dünne Häutchen Handlung des Films ein direkter Querverweis. In Bunuels LA VOIE LACTÉE (1969) sind zwei Pilger bei ihrer Jakobswegwanderung ähnlich unzusammenhängenden, unlogischen Ereignissen ausgesetzt wie unsere beiden Gespenster.

Wie soll man nun aber einen Film wie FINISTERRAE beurteilen? Für mich erreicht er zu keinem Zeitpunkt die sakrale Majestätik eines LA CICATRICE INTÉRIREURE. Für mich erreicht er zu keinem Zeitpunkt die kluge Selbstreferentialität eines LE MÉPRIS. Für mich erreicht er zu keinem Zeitpunkt den absurden Humor eines LA VOIE LACTÉE. Mir ist nicht mal klar, ob er all das überhaupt will, und ob Caballero nicht Garrel, Godard und Bunuel ins Feld führt, um sie von Grund auf zu demontieren und zu dekonstruieren. Was ich weiß, ist nur, dass Filme wie FINISTERRAE nottun, die mir ihre führenden Hände verweigern und mich in eine Ungewissheit stürzen, die meinem Leben ähnelt. Es ist ein radikal anderer Weg des Aufbegehrens als der, den Quentin Dupieux in RUBBER (ebenfalls 2010) einschlägt, im Kern ähnlich sich beide Filme, meine ich, jedoch sehr. Beide wollen sie mit etwas brechen, das nun schon viel zu lange zwischen den Bildern und uns gewachsen ist. Jedoch funktioniert Dupieuxs Anti-Entmündigung des Zuschauers auf eine durchaus unterhaltsame, amüsante Art und Weise, während Caballero den gleichen Ansatz mit einem Rücken verfolgt, der einem regulären Publikum breiter und kaltschnäuziger nicht zugekehrt sein könnte. Dass FINISTERRAE im Gegensatz zu RUBBER, den die Allgemeinheit, glaube ich, durchaus kennt und schätzt, allein knapp vier Jahre gebraucht hat, um überhaupt bis zu mir vozudringen, beweist nur, was man sowieso schon weiß: einen Rücken starrt kaum jemand gerne achtzig Minuten lang. Aber vielleicht findet sich der eine oder andere experimentierfreudige Leser, dem ich mit obigem Text die Möglichkeit aufgezeigt habe, dass selbst ein Rücken entzücken kann - sofern man denn gewillt ist, sich auf seine Schultern zu erheben.
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Originaltitel: Manakamana

Produktionsland: Nepal/USA 2013

Regie: Stephanie Spray, Pacho Velez

Darsteller: Chabbi Lal Gandharba, Anish Gandharba, Bindu Gayek
Im tiefsten Nepal liegt der Tempel von Manakamana, ein der Hindu-Göttin Bhagwati geweihtes Heiligtum, dessen Namen sich aus den Worten mana, was Herz bedeutet, und karma, was Wunsch bedeutet, zusammensetzt. Bis in die 90er Jahre hinein mussten die zahlreich zu der Sakralstätte strömenden Pilger in mühsamen Märschen den über eintausend Meter hohen Berg zu Fuß ersteigen, um, auf dem Gipfel angelangt, von der Göttin jenen Wunsch erfüllt zu bekommen, den sie an der exponiertesten Stelle ihres Herzens trugen. In den letzten zwanzig Jahren haben einschneidende Veränderungen den Komfort der Pilgerreise enorm gesteigert. Eine Seilbahn ist es nun, die einen innerhalb von zehn Minuten hoch auf die Bergesspitze bringt und einem zudem einen sensationellen Ausblick auf das unterhalb des Tempels liegende Tal mit seinen beiden Flüssen Trisuli und Marsyangdi gewährt. Im Jahre 2013 drehen Stephanie Spray und Pacho Velez, beides Mitarbeiter des interdisziplinären Sensory Ethnography Lab der Harvard-Universität, in Wägen eben dieser Seilbahn ihr Gemeinschaftsprojekt MANAKAMANA, das ich zu dem Besten zählen muss, was mir an Filmen der letzten Jahre zu Gesicht gekommen ist.

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Schon bei einer klaren Einordnung, ob MANAKAMANA denn nun ein dokumentarisches Werk sein soll, ein Filmessay, oder vielleicht sogar ein mit einem etwas ungewöhnlichen Ansatz versehener Spielfilm, scheiden sich meine Geister. Das Konzept von Spray und Velez lautet wie folgt: Insgesamt elf Mal wird in MANAKAMANA die Seilbahn einen ihrer Wägen hinauf zum Tempelberg oder von diesem zurück ins Tal befördern. Insgesamt elf Mal befindet sich die Kamera dabei in dem jeweiligen Bahnwagen und dokumentiert statisch, ohne Schnitt, für die zehn Minuten, die die Fahrt dauert, was in diesem geschieht. Dadurch wechseln insgesamt elf Mal unsere Protagonisten: jedes Mal, wenn der Wagen oben oder unten angekommen ist, steigt man aus, um seinem Platz jemand anders zu übergeben. Facettenreich sind die Menschen, die dadurch ins Visier von Velezs und Sprays Kameraauge geraten. Von frommen Pilgern, beladen mit Blumen oder Schlachtvieh als Opfergaben für die gnädig zu stimmende Gottheit, über säkulare Metal-Fans, die die Reise zum Tempel wenig ernst zu nehmen scheinen, bis hin zu einer amerikanischen Touristin, die nach anfänglichem Schweigen dann doch mit ihrer Banknachbarin, einer Nepalesin, ins Gespräch kommt, ist in den elf Sektoren von MANAKAMANA eine ganze Bandbreite unterschiedlicher Menschen, unterschiedlicher Lebensentwürfe, unterschiedlicher Kulturen und vor allem unterschiedlicher Antriebsfedern für die Besichtigung des Heiligtums vertreten. Genauso unterschiedlich ist aber auch das Verhalten der jeweiligen Reisenden. Ein alter Mann und ein kleiner Junge, möglicherweise sein Enkel, sagen die gesamten zehn Minuten kein Wort, scheinen vollkommen versunken in ihren Gedanken und dem atemberaubenden Panorama, das wir, die wir den Fokus auf sie gerichtet haben, freilich nur angedeutet in den Augenwinkeln bzw. als Rahmung um die Gondel herum sehen können. Das erste Wort fällt sowieso erst nach fünfundzwanzig Minuten, als ein Ehepaar sich darüber unterhält, wie großartig doch die Aussicht sei, und dass man eine bestimmte Tasche zu Hause vergessen haben, und dass einem aufgrund des rapiden Höhenwechsels die Ohren zufallen. Dass MANAKAMANA kein Film ist, der über Dialoge funktioniert, beweist zudem eine Gondelfahrt, bei der die Insassen keine Menschen, sondern eine Herde Ziege ist, mutmaßlich Opfertiere, die ununterbrochen meckern und von denen eine der Kamera demonstrativ ihren Allerwertesten zukehrt. Jedes dieser Segmente kann man als eigenständige Einheit betrachten, die narrativ nicht mit den übrigen verknüpft ist. Nur einmal wiederholen Spray und Velez sich, als nämlich das Ehepaar aus Fahrt Nummer drei in der elften und letzten Fahrt wiederkehrt: der Tempel wurde von ihnen mit einem Besuch beehrt, sie sind fertig, treten die Heimreise an.

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Trotzdem fallen einem Dinge auf, die irritieren und den Eindruck vereiteln, Spray und Velez könnten tatsächlich einfach, ganz im Sinne des cinema verité, authentische Pilgerreisenden bei ihrer authentischen Fahrt auf den Manakamana-Gipfel gefilmt haben. Zum einen: keiner der Menschen schaut jemals direkt in die Kamera. Wäre diese für sie unsichtbar gewesen, hätte das doch irgendwann einmal passieren müssen, oder nicht? Andererseits: kann man in einem derart überschaubaren Seilbahnwagen überhaupt eine Kamera so effektiv verstecken, dass sie sowohl für die Insassen nicht sichtbar ist und trotzdem derart deutliche Bilder einfängt – zumal es sich bei MANAKAMANA um einen Film auf 16mm handelt und nicht um einen, der etwa mit einem handelsüblichen Smartphone geschossen wurde. Man kann sich das nur so erklären, dass jeder der Reisenden in das Filmprojekt eingeweiht gewesen sein muss. Der Verdacht erhärtet sich schon bei oberflächlicher Recherche: In Wirklichkeit haben die Filmemacher im Vorfeld der Dreharbeiten ein regelrechtes Casting betrieben. Sämtliche Darsteller sollen in einer knapp achtzig Kilometer entfernten Stadt engagiert worden und dann gemeinsam mit Velez und Spray per Bus nach Manakamana gereist sein. Nicht mal in den Gondeln sind die falschen Pilger allein, stattdessen haben ihnen die Filmemacher bei jeder Fahrt mit Kamera und Tonaufnahmegerät gegenübergesessen. Dass MANAKAMANA aussieht wie ein ethnographisches Artefakt, das eine vermeintliche Realität ohne inszenatorische oder manipulative Eingriffe mimetisch widergibt, ist damit nicht zuletzt einer exzessiven Illusionserzeugung geschuldet. Gerade das macht aber, meine ich, das Spannende aus an diesem Film, der sich letztlich gar nicht entscheiden will, ob er nun Dokumentation, Essay oder Illusionstheater ist. Es mag sein, dass die Menschen, die wir knapp zwei Stunden lang vor Augen geführt bekommen, ohne die Initiative von Spray und Velez nicht zum Heiligen Berg gereist wären, nichtsdestotrotz sind sie doch völlig sie selbst, artikulieren keine eingeübten Phrasen, präsentieren sich uns so, als wüssten sie nicht, dass wir sie beobachten. Genauso kann man fragen: sind die Menschen aus Warhols SCREEN TESTS weniger sie selbst, nur weil der Künstler sie an einem bestimmten Ort vor eine Kamera mit der Anweisung gesetzt hat, sie dürfen tun und lassen, was sie wollen, bis der Film voll ist?

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An wichtigsten ist mir an MANAKAMANA die ungemein subtile Art und Weise wie hier Emotionen evoziert werden, so leicht, als würde jemand mit der äußersten Spitze der Fingerkuppe eine Feder berühren und sie damit zum Fallen bringen. In manchen Fahrten herrscht eine sakrale Stille, eine Würde und Demut, als befänden wir uns kniend vor dem Heiligtum. In manchen Fahrten kann man sich einfach zurücklehnen, den Reisenden zuhören oder zusehen wie sie ihrerseits die Landschaft unter sich bewundern. In manchen Fahrten kann man sich eines Lachens nicht erwehren, bei den beiden Frauen gegen Ende zum Beispiel, die sich ein Eis vom Tempel mitgenommen haben: eine hat eine Plastiktüte, in die tropfen kann, was schmilzt, die andere, ältere, kämpft unter Gelächter mit dem ihren und saut nach und nach ihren ganzen Rock ein. MANAKAMANA ist einer dieser Filme, die Kino und Leben derart einander angleichen, dass die Grenzen wie von selbst verschwimmen. Er schärft den Blick, definitiv, und er versöhnt einen mit der Welt, und hat, ob von Spray und Velez nun intendiert oder nicht, eine transzendentale Erfahrung für mich im Gepäck, die sich anfühlt, als habe ich selbst die Reise auf den Tempelberg angetreten – um das Heiligtum dann gar nicht zu betreten, da mir mein innigster Wunsch schon während der Gondelfahrt erfüllt worden ist.
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Originaltitel: Ecce Homo

Produktionsland: Italien 1968

Regie: Bruno Gaburro

Darsteller: Irene Papas, Philippe Leroy, Gabriele Tinti, Frank Wolff, Marco Stefanelli
Bruno Gaburro dürfte Freunden italienischer Erotikfilme mit Ausschlägen mal in die melodramatische und mal in die softpornographische Richtung für eine ganze Reihe von Werken bekannt sein, die er in den 80ern und frühen 90ern abgedreht hat, und die solche klingenden Titel tragen wie MALOMBRA (1984), MALADONNA (1984) oder PENOMBRA (1987). Ein ziemlich gutgehütetes Geheimnis ist indes, dass der gute Mann als Endzwanziger seinen Einstieg in die Kinobranche mit einem Endzeitdrama namens ECCE HOMO beging, das kammerspielartig und mit teilweise bedrückendem Naturalismus das Schicksal von fünf Überlebenden eines Nuklearkrieges schildert, und nicht nur inhaltlich auf einem ganz anderen Blatt steht als das, womit Gaburro sich in seiner weiteren Laufbahn primär auseinandergesetzt hat.

Jean, seine Frau Anna und sein halbwüchsiger Sohn Patrick leben an einem einsamen Strand. Sie ernähren sich von Fischen, lassen die Tage in dem angestrengten Warten auf irgendetwas Unbestimmtes verstreichen. Ab und zu überkommt Jean die Lust und er hat kurzen, leidenschaftslosen Sex mit Anna. Die Familie ist in einem scharfkantigen Schweigen erstarrt, das von der Stille des Strandes nur noch multipliziert wird. Dessen Menschenleere rührt, wie wir nach und nach erfahren, daher, dass die Menschheit sich mal wieder selbst ausgerottet hat. Ein nicht näher definierter Krieg soll stattgefunden haben, der einen Großteil der Erdoberfläche mittels radioaktiver Strahlung kontaminierte. Vielleicht sind Jean, Anna und Patrick die einzigen Überlebenden dieser Katastrophe. Doch um den verschlossenen, verbitterten Jean scheint es ebenfalls schon schlecht bestellt: seine beiden Hände wurden, nachdem sie mit der Strahlung in Kontakt gekommen sind, so gut wie unbrauchbar, und möglich wird es seinem restlichen Körper bald nicht besser ergehen. Die monotonen Tagesabläufe des Trios finden eine jähe Zäsur, als plötzlich zwei Männer zu ihnen an den Strand finden. Seit über einem Jahr haben Quentin, früher, wie er sagt, so etwas wie ein Bücherwurm, und Len, ein aktiv an besagtem Krieg beteiligter Soldat, nach weiteren Überlebenden gesucht. Als sie vor Anna stehen, die sie zunächst mit einem Gewehr in Schach hält, fällt Quentin vor ihr auf die Knie und betet sie, die erste Frau, die er seit Ewigkeiten sieht, an wie eine Heilige, während Len sich ganz praktischen Erwägungen hingibt: da Anna existiere, sei der Fortbestand der menschlichen Rasse gesichert. Natürlich sieht Jean die Anwesenheit der beiden Männer alles andere als gerne. Ganz offen spricht er seine Meinung aus, dass es ein Verbrechen sei, dafür zu sorgen, dass die Menschheit nicht mit ihnen fünf aussterbe. Wozu solle das führen?, fragt er. Dass eine neue Zivilisation entsteht, die sich dann genauso sinnlos zugrunde richtet wie die letzte, und immer so weiter? Was aber, erwidert Len, werde mit seinem Sohn, Patrick? Wolle er den dazu verurteilen, als letzter Mensch einen einsamen Tod auf einer einsamen Erde zu sterben? Mit dem versteht sich der ehemalige Soldat übrigens prächtig. Patrick akzeptiert Len als eine Art Ersatzvater, bekommt von ihm den Gebrauch von Schusswaffen beigebracht und lässt sich von ihm Anekdoten aus dem letzten Krieg erzählen. Alle Versuche Jeans, Patrick aus dem Einflussbereich Lens herauszuziehen, scheitern genauso wie dass er nicht verhindern kann, dass die sexuell und emotional ausgehungerte Anna beginnt, sich ebenfalls zu Len hingezogen zu fühlen. Es kommt wie es kommen muss, nämlich zu Sex zwischen den beiden in den Dünen, und Jean, körperlich der Unterlegene, bleibt nichts übrig als Quentin zu manipulieren zu versuchen, dem er den Floh ins Ohr setzt: wenn Len und Anna sich verbinden, werden sie beide, Quentin und Jean, die sein, die den Kürzeren ziehen. Doch auch Quentin bleibt, obwohl Jean ihm eine bislang versteckt gehaltene Waffe ausgehändigt hat, untätig, und erneut kommt es wie es kommen muss: Anna sagt sich von Jean los, der will sich das nicht gefallen lassen, attackiert Len und wird von diesem mitleidlos halbtot geprügelt und dann erschossen. Als nächstes ist, wie Jean es vorausgesagt hat, Quentin an der Reihe der Verlierer: Len jagt ihn in die Dünen hinaus, droht ihm, mit ihm genauso wie mit Jean zu verfahren, wenn er es zurückzukehren wage. Die nunmehr neu gruppierte Familie – Len, Anna, Patrick – planen, den Strand zu verlassen. Irgendwo müsse es doch noch weitere Menschen geben, und wie hoch sei die Wahrscheinlichkeit, dass die sich ausgerechnet zu ihnen ans Meer verirrten? Doch sie haben die Rechnung ohne Quentin gemacht, der inzwischen den Verstand verloren hat und sich für einen Propheten hält…

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In vielerlei Hinsicht könnte man Gaburros ECCO HOMO mit dem etwa zeitgleich entstandenen IL SEME DELL’UOMO von Marco Ferreri vergleichen. In beiden Filmen sehen sich die Protagonisten als mutmaßlich Letzten ihrer Art der Frage gegenüber, wie und ob überhaupt sie die menschliche Population in einer post-apokalyptischen Welt wieder nach vorne bringen sollen, in beiden Filmen haben besagte Überlebende ihre Zelte an einem Strand aufgeschlagen, und verwalten dort das Archiv ihrer Erinnerungen und Gebrauchsgegenstände, in beiden Filmen läuft der Konflikt letztlich auf einen sexuellen hinaus: So wie in LE SEME DELL’UOMO zwei Frauen um einen Mann und damit darüber streiten, wer denn nun die neue Eva werden soll, so ist das Drama von ECCE HOMO im Grunde das einer völlig zerbrochenen Ehe, aus der der weibliche Part ausbricht, um in den Armen eines andern Manns ein neues Menschengeschlecht zu begründen zu können. Gleichzeitig zeigt einem IL SEME DELL’UOMO aber auch recht schön, wo genau die spezifischen Qualitäten von Gaburros Film liegen. Während nämlich Ferreri in teilweise ordentlich absurden, nahezu surrealen Bildern und Situationen schwelgt, und sein gesamter Film von einer grotesken Komik und deutlichen Ironie durchzogen ist, wählt Gaburro den Weg eines nüchternen Naturalismus, sprich: staubige bis dreckige Bilder, beinahe wie aus einem schnörkellosen Italowestern, eine einfache, linear erzählte Geschichte, Protagonisten, die das, was sie antreibt, klar vor sich hertragen, und einem nicht das geringste psychologische Rätsel aufgeben, schließlich eine formale Gestaltung, die nie mehr in den Film hineinlegt als das, was seine reinen Bilder uns liefern: Wo Ferreris Endzeitdrama voll ist mit Symbolen und Allegorien, da bleibt ECCE HOMO so realistisch und eindeutig wie möglich. Selbst das einzige wirkliche Geheimnis, das der Film vor mir hat, nämlich die Antwort auf die Frage, wie genau der Untergang der Menschheit nun eigentlich abgelaufen ist – und ein bisschen erinnert er in dieser Verweigerungshaltung, sämtliche Karten offen auf den Tisch zu legen, an ein Werk wie Michael Hanekes LE TEMPS DE LOUP -, ist kein wirkliches Geheimnis: Es ist schlicht für die Handlung ohne wirklichen Belang, wer gegen wen in besagtem Nuklearkrieg gekämpft hat, und was der Auslöser für ihn gewesen sein soll, weshalb Gaburro es auch nicht für nötig befindet, mit Bildern der Zerstörung zu provozieren so wie Ferreri, der uns nicht mal vorenthält, wie der Vatikan mit zugehörigem Papst dem Erdboden gleichgemacht wird.

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Spannend ist an ECCE HOMO für mich eben genau das: Wo es auf der Handlungsebene für die Figuren um alles oder nichts geht – Jean, der zusehen muss wie er Frau und Sohn an einen Fremden verliert, Len, der Anna so bald wie möglich schwängern will, um die Menschheit vor dem Verlöschen zu bewahren, Anna selbst, die es in ihrer lieblosen Ehe nicht mehr aushält, und in Len eine wirkliche Alternative zu Jeans Abgestumpftheit findet -, da bleiben die Bilder, die Kamera selbst in den wenigen aufregenderen Szenen bedächtig ruhig, fast schon emotionslos, und verwenden zugleich viel Zeit darauf, alltäglichste Momente in den Leben unserer Gestrandeten in aller Ausführlichkeit zu zeigen: Anna und Len gehen, um ihre Vereinigung zu feiern, nackt baden. Am Himmel erscheinen Möwen, Vorboten einer neu erwachenden Natur. Quentin führt in seiner unfreiwilligen Isolation Selbstgespräche und errichtet ein kleines Haus aus Steinen, die, wie er sagt, Keimzeile einer neuen Zivilisation: ein neues Athen, ein neues Alexandria, ein neues Rom. Vielsagend ist oft gerade das, was nicht direkt ausgesprochen wird, vor allem die Blicke des fast immer stummen, die Erwachsenen aber permanent beobachtenden Patricks. Höchstens der Score von Ennio Morricone, pendelnd zwischen Science-Fiction-Geräuschen, elektro-akustischen Klängen und klassischem Orchestersoundtrack, prägt sich mancher Szene so sehr auf, dass sie mehr als das transportiert, was in ihrem Bildkader liegt.

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ECCE HOMO ist wundervoller, kleiner, geringbudgetierter existenzialistischer Endzeitfilm, nahezu ausschließlich besitzt mit dem italienischen Genre-Fan vertrauten Gesichtern – ich sage nur: Gabriele Tinti, Philippe Leroy und Frank Wolff -, einer ergreifenden Geschichte, und vielleicht der prädestinierteste Kandidat für ein Doppelprogramm gemeinsam mit Ferreris nicht weniger wundervollem IL SEME DELL’UOMO.
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

Beitrag von Salvatore Baccaro »

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Originaltitel: Bathman dal pianeta Eros

Produktionsland: Italien 1982

Regie: Antonio D'Agostino

Darsteller: Mark Shannon, Sabrina Mastrolorenzi, Riccardo Zamagni, Guia Lauri Filzi
BATHMAN DAL PIANETA EROS – oder, wie man ihn für den Heimvideomarkt umtaufte, KLITO BELL - ist einer dieser Filme für Abende, an denen man sich, ohne Rücksicht auf Leib und Leben, wirklich alles geben möchte. Im Folgenden will ich versuchen, seinen ungefähren Inhalt grob nachzuzeichnen – ungefähr und grob deshalb, weil ich nicht behaupten kann, wirklich verstanden zu haben, was mir da an schier unglaublichem Bilderreigen knapp achtzig Minuten lang vor den Augen geflimmert hat.

BATHMAN DAL PIANETA EROS ist, zunächst, ein pornographischer Film. Dafür bürgt allein schon sein Regisseur und Drehbuchautor Antonio D’Agostino. Zwischen 1979 und 1995 hat der Gute, zumeist versteckt hinter dem Pseudonym Richard Bennett, über fünfundzwanzig zeigefreudige Filme mit Titeln wie ANAL PARTY MOLTO PARTICOLARE (1993), WILD OPEN LIPS (1987) oder UN DESIDERIO BESTIALE (1987) gedreht. Nur einer davon ist mir bislang unter die Augen getreten, und zwar OSCENO, ebenfalls aus dem Jahre 1987 - und weil dessen Herzstück eine Szene ist, in der Karin Schubert einem erregten Schäferhund Erleichterung verschafft, habe ich ihn leider nicht wieder aus meinem Gedächtnis verbannen können.

BATHMAN DAL PIANETA EROS, sein insgesamt fünfter Film, ein Frühwerk sozusagen, beginnt mit einer Eröffnungsszene, die ebenfalls das Potential hat, so schnell nicht vergessen zu werden. Bathman, bei dem es sich um den gestandenen Horizontalhünen Mark Shannon in einem lausigen Batman-Kostüm handelt, radelt auf seinem klapprigen Drahtesel über eine Kuhweide. Unterlegt ist das Ganze mit einer albernen Zirkusmusik, die D’Agostino im weiteren Verlauf des Films zu benutzen nicht müde werden wird. Gefilmt ist das Ganze auf denkbar uninspirierte Weise, so, als habe man die Kamera einfach irgendwo aufbaut, Mark Shannon auf sein Fahrrad gesetzt und geschaut, was passiert. Passieren tut jedoch erstmal nicht viel, da BATHMAN DAL PIANETA EROS seine ganze Vorgeschichte mit Hilfe eines Off-Sprechers schildert, der die Ereignisse in der Folge immer wieder mit meist unnötigen und/oder unsinnigen Kommentaren versehen wird. Seines Zeichens ist er irgendeine außerirdische Wesenheit, vielleicht Mitglied einer Priesterkaste, heimisch auf dem Planeten Eros, dessen Bewohner statt zu trinken, zu essen und einer geregelten Arbeit nachzugehen, scheinbar den lieben langen Tag ihrem Geschlechtstrieb huldigen. Dieser Erzähler, dessen Namen, meines Wissens nach, nie genannt wird, erteilt zu Beginn des Films einem etwas schwachsinnigen Roboter namens Elios – im Prinzip einfach ein halbnackter Jüngling, den man mit metallisch-grauer Farbe angepinselt hat – folgenden Auftrag: er soll zur Erde reisen, dort die beiden Superhelden Bathman und dessen weibliches Pendant Bath-Baby aufspüren und mit diesen zum Planeten Eros zurückkehren. Bathman und Bath-Baby leben zurzeit in New York leben und haben es sich zur Aufgabe gemacht, die Machenschaften des sogenannten Pokers, Chef eines gefürchteten Verbrechersyndikats, der stets im mittelalterlichen Harlekinkostüm auftritt, zu vereiteln. Ursprünglich stammen sie ebenfalls vom Planeten Eros und haben sich dort unter den Namen Erotikon bzw. Klito Bell eine gewisse sexuelle Reputation erschlafen: so soll Bathman alias Erotikon in einer einzigen Nacht vierundsechzig Frauen mit seiner Manneskraft bis zur Ohnmacht gebracht haben. D’Agostino muss solche Höchstleistungen natürlich sofort bebildern – wohl aus Budgetgründen hat es Bathman letztlich aber einzig und allein mit drei willigen Darstellerinnen zu tun, und von denen wird keine einzige auch nur ansatzweise ohnmächtig.

Während Elios nun also zur Erde geschickt wird und dort, heißt es, Alkohol und Müßiggang verfällt, plant die Poker—Bande einen Anschlag auf den New Yorker Polizeipräsidenten und dessen Frau. Letztere wird von einer Truppe junger Männer, die aussehen wie eine Billigkopie von Alex und seinen Droogs aus CLOCKWORK ORANGE, in ihrem Wohnhaus überrascht, als sie gerade dabei ist, sich mit einer Salatgurke zu befriedigen. Der Plan, sie zu vergewaltigen, scheitert an der sowieso schon vorhandenen sexuellen Erregtheit der Dame, die sich gierig auf die saftstrotzenden Eindringlinge stürzt und dafür von Bath-Baby, die, um zu ihrer Rettung zu eilen, den Geschlechtsakt mit einem Auto unterbrochen hat, nachdem die bösen Buben verdroschen worden sind, erstmal selbst den Hintern versohlt bekommt. Inzwischen haben weibliche Bandenmitglieder, die wiederum aussehen wie aus einem Stummfilm-Serial à la Louis Feuillade herausgefallen, die Wächter des Polizeipräsidenten ausgeknockt, sein Büro gestürmt und ihm eine Spitze in den Hintern gejagt, mittels derer eine Droge seine Blutbahn entert, die ihm schlagartig jede heterosexuelle Neigung unterdrückt und seine homoerotischen Gelüste nach außen treten lässt: er verwandelt sich in einen Klischeeschwulen, ist dem Verkehr mit den Damen seltsamerweise jedoch trotzdem nicht abgeneigt. Zum Glück stellt Bathman sich den lüsternen Frauen in den Weg bevor sie dem Polizeipräsidenten noch Schlimmeres antun können, und besiegt schließlich sogar Poker in einem wenig beeindruckenden Handgemenge. Doch gegen die erotisch-extraterrestrischen Mächte des Eros-Planeten sind selbst die schlechtesten Superhelden machtlos: Elios versetzt Bathman und Bath-Baby zur Finalorgie in eine 80er-Disco, deren versiffte Toilette zum Schauplatz der geschlechtlichen Vereinigung sämtlicher bis dahin im Film aufgetretener Charaktere wird.

BATHMAN DAL PIANETA EROS ist ein Genuss für jeden, der seine Pornos gerne inszeniert haben möchte wie weltabgewandtestes Avantgarde-Kino. Was Montage, Kameraführung, Effekte betrifft, wäre dieser Film wohl in keiner Experimentalfilmklasse irgendeiner Kunsthochschule der frühen 80er unwillkommen gewesen. Wirr zusammengeschnitten, selbst die simpelsten Regeln der konventionelle Filmsprache missachtend, ohne Kohärenz, ohne Sinn für Dramaturgie oder Rhythmus, ordnet D’Agostino die einzelnen Szenen zu einem benebelnden Kaleidoskop, bei dessen Betrachtung man zwangsläufig das Gefühl bekommt, dem Kino in seinen Kindertagen bei ersten unsicheren Schritten zuzuschauen. Nicht nur, dass D’Agostinio seine Geschichte umständlich bis zur Unverständlichkeit erzählt, sich in zahlreichen Nebenschauplätzen und Ungereimtheiten verliert, einer seiner Haupttrümpfe ist die reichlich missglückte Post-Synchronisation, die oftmals gar nicht erst versucht, den Eindruck zu erwecken, die Lippenbewegungen der Darsteller müssten mit dem übereinstimmen, was wir von der Tonspur hören. Dabei ist D’Agostino phantasievoll wie ein Kind, wenn es darum geht, aus einem Krümel-Budget einen erstaunlich schmackhaften Brotlaib zu backen. Das Büro des Präsidenten beispielweise ist letztlich einfach nur ein Raum mit einem Tisch, einem Stuhl und einer wandfüllenden US-Flagge im Hintergrund. Der Planet Eros wird auf ähnlich minimalistische Weise dargestellt: vor halbtransparenten Aufstellwänden fallen Erotikon und Klito Bell über ihre Schicksalsgefährten der Geilheit her, während überall bunte Disco-Lichter blinken. Hinzukommen verwackelte Aufnahmen von New York bei Nacht – die Reise dorthin wird für das Team wohl der kostspieligste Teil der Dreharbeiten gewesen sein -, Sexszenen, die wirken, als seien sie ursprünglich gar nicht für diesen Film produziert worden, sondern würden aus einem ganz anderen, wenn auch ähnlichen Kontext stammen, sowie ein unfassbarer Soundtrack, der alles abdeckt von gefälligem Jazz-Funk über nervtötendes Synthie-Gezirpe bis hin zu der schrecklichen Zirkusmusik, die immer dann aufspielt, wenn Mark Shannon in seiner Bathman-Rolle der Lächerlichkeit preisgegeben werden soll - und die allerdings nicht verhehlen kann, wie wenig von einem Komödianten in ihm steckt.

Kommen wir zum Abschluss und zum integralsten Bestandteil des Films, den Hardcore-Szenen. Gezählt habe ich insgesamt zehn, von denen manche mehrere Minuten lang dauern und, sozusagen klassisch, einen Akt von einem Anfangspunkt A bis zu einem Endpunkt B schildern, manche, wie gesagt, assoziativ zerstückelt und zerschnitten und bloß in kleinen Häppchen zwischen Szenen montiert sind, mit denen sie rein gar nichts zu tun haben. Geboten werden die üblichen Spielereien wie vaginaler/analer Geschlechtsverkehr, orales Verwöhnen, Masturbieren. Eine Lesbenszene zwischen Bath-Baby und einer von ihr Geretteten sticht ebenso heraus wie die zweckentfremdete Salatgurke, die indes schon die Obergrenze der Perversion bedeutet: schmieriger und schweinischer als vaginal eingeführtes Gemüse wird es in diesem Film nicht, und ich bin heilfroh, dass D’Agostino mir diesmal die ekligen Exzesse erspart hat, die er in OSCENO feiert wie nichts Gutes. Alles in allem hat BATHMAN DAL PIANETA EROS mich somit positiv überrascht. Nicht dass der Film irgendwie erotisch, witzig oder bestückt mit sonst irgendeinem Mehrwert wäre, seine Fülle an Verrücktheiten hat aber doch sofort auf mich übergegriffen und leichtes Spiel dabei gehabt, mein Gehirn zumindest ein bisschen aufzuweichen und über seine eingefahrenen Bahnen treten zu lassen. Klar sollte trotzdem sein: BATHMAN DAL PIANETA EROS ist einer dieser Filme für Abende, an denen man sich, ohne Rücksicht auf Leib und Leben, wirklich alles geben möchte.
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Originaltitel: Teseo contro il minotauro

Produktionsland: Italien 1960

Regie: Silvio Amadio

Darsteller: Bob Mathias, Rosanna Schiaffino, Alberto Lupo, Rik Battaglia, Carlo Tamberlani
Für die Königin von Kreta, Pasiphae, ist die Zeit des Sterbens gekommen. Doch die Regentin möchte nicht ins Totenreich eingehen ohne ihrem Gemahl Minos und ihrer Tochter Fedra ein Geheimnis zu enthüllen, das seit vielen Jahren auf ihrem Herzen lastet: Fedra hat eine Zwillingsschwester, Ariadne, die Pasiphae aber kurz nach der Geburt – wie auch immer sie das bewerkstelligt haben mag – außer Landes schaffen ließ, und die nun, nichts ahnend von ihrer adligen Herkunft, bei Zieheltern in einem Dörfchen irgendwo am Meer lebe. Wozu genau nun dieser Säuglingsimport gedient haben soll – ein möglicher Grund wäre, dass Pasiphae fürchtete, ihre Tochter Ariadne könne dem grässlichen Minotaurus geopfert werden, der in den unterirdischen Labyrinthen Kretas sein Unwesen treibt und regelmäßig schöne Jungfern zum Fraß verlangt, doch, andererseits, schien ihr der mögliche Verlust ihrer zweiten Tochter Fedra offenbar weniger schlaflose Nächte zu bereiten -, wird, zumindest in der mir vorliegenden Fassung, nicht abschließend geklärt. Deutlicher sind dafür die Motive, die Fedra dazu treiben, ihren Handlanger Syril mit folgendem Auftrag gen Festland zu schicken: Er soll Ariadne ausfindig machen, und über die Klinge seines Schwertes springen lassen, denn, so Fedras Logik, eine Thronerbin ist besser als deren zwei. Syril tut wie ihm geheißen – und das obwohl Pasiphae den genauen Namen von Ariadnes Aufenthalt gar nicht genannt hat -, und stellt sich dabei nicht feinfühliger an als der Antagonist irgendeines beliebigen Barbarenfilms: Statt Ariadne irgendwo aufzulauern und ihr heimlich, leise das Lebenslicht auszublasen, schart Syril eine Horde tumber Söldner um sich, fällt mit denen in Ariadnes Dorf ein und macht dieses dem Erdboden gleich – inklusive brennender Hütten, Leichenberge voller Unschuldiger, und unserem nominellen Helden, Theseus, der gemeinsam mit seinem Buddy Demetrius zufällig in der Gegend weilt, von den Rauchschwaden und Todesschreien angelockt wird, und sich Syils Bande tapfer und bärenstark in den Weg stellt. Natürlich bleibt Ariadne durch diese Intervention verschont, und natürlich verlieben Theseus und sie sich sofort ineinander, und natürlich schlägt sie, nun, wo ihre vermeintlichen Eltern mausetot sind, das Angebot nicht aus, ihn nach Athen zu begleiten, dessen König sein Papa ist und das er aufgrund langer Reisen und bestandener Abenteuer seit fünf Jahren nicht mehr gesehen hat. Demetrius, bei dem es sich übrigens wiederum um den Sohn eines Kretischen Ministers handelt, fällt früh schon die frappierende Ähnlichkeit zwischen Ariadne und Prinzessin Fedra auf, weiter denkt er sich indes nicht mal dann etwas dabei, als ihm in Athen Syril über den Weg läuft, und ihm, im wahrsten Wortsinn zwischen Tür und Angel, erklärt, sein Vater und seine Schwester würden in Minos‘ Folterkellern schmachten, und der einzige Weg für ihn, sie zu retten, sei es, Ariadne ein Dolch ins Herz zu jagen. In letzter Sekunde schrickt Demetrius vor dem Attentat zurück und öffnet sich Theseus, der nicht zögert, mit Ariadne und ihm nach Kreta aufzubrechen – immerhin gilt es nun die Ariadne nach dem Leben trachtende Fedra zu stürzen, Demetrius‘ Verwandtschaft vor dem Henkersbeil zu bewahren, und außerdem stellt der Minotaurus ja auch noch einen Schandfleck dar, den man im gleichen Handumdrehen von der Erdoberfläche wischen könnte…

Das Negativste gleich zu Beginn: Dem Titel TESEO CONTRO IL MINOTAURO zum Trotz, ist die Präsenz des Minos-Stiers selbst in vorliegendem Film derart marginal, dass es höchstens für den Status eines Nebendarstellers reicht. Zwar beginnt der Film mit einer Szene wie aus einem Horrorschocker – eine adrette Blondine stapft durch ein aus Pappmaché und bunten Leuchten zusammengesetztes Labyrinth und wird auf einmal von einer links ins Bild greifenden Pranke in den Würgegriff genommen -, anschließend muss der Zuschauer, der seine Sandalen tragende Muskelprotze am liebsten mit plüschigen Monstren prügeln sieht, jedoch eine Durststrecke von fast eineinhalb Stunden auf sich nehmen, denn erst im Grande Finale darf Theseus dann endlich auf die Bestie treffen - und sie innerhalb von drei Minuten abfrühstücken. Diese drei Minuten sind dann aber ein Traum für jeden, den ein grunzendes Monstrum aus der Werkstatt von Rambaldi und Konsorten in kindlicheres Entzücken versetzt als es jede Geisterbahn könnte: Wie eine Mischung aus Borowczyks Bête, dem König Kong und einem Geschöpf, das jeder Sesamstraßen-Folge zur Ehre gereichen würde, versprüht der überraschend wenig stierhafte Minotaurus den Charme eines Kuschelbären, verfügt dabei über eine recht ausdrucksvolle, individuelle Mimik, und stirbt einen pathetischen Tod, der ganz offenbar nach dem Schicksal des Zyklopen Polyphem modelliert worden ist. Die Geräusche, die der Minotaurus dabei von sich gibt, sind ebenso wie seine tapsigen, irgendwie unbeholfenen Bewegungen im Zusammenspiel mit den erwähnten pappigen Kulissen und dem vollen Körpereinsatz von Theseus-Darsteller Bob Mathias etwas, das den Film für mich in den peplum-Olymp erheben würde, selbst wenn sein gesamter Rest eine bloße Reihe routiniert abgespulter Genre-Szenen von intriganten Prinzessinen-Bitches, schmachtender Schönheiten, geölter Heldenmuskeln und bis zum Platzen angewandter Pathos-Formeln wäre. Nun, irgendwie ist TESEO CONTRO IL MINOTAURO das auch, doch zugleich schafft er es, seine Versatzstücke derart unterhaltsam und flott aneinanderzuheften, dass zumindest niemals Langeweile entsteht oder das Gefühl, unter falschen Voraussetzungen, nämlich einem letztlich kaum auftauchenden Minotaurus, in einen Film gelockt worden zu sein, der alibihaft allein um seine allerletzten Minuten herum konstruiert worden ist.

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Statt dass nun der Minos-Stier im Zentrum der Handlung steht – tatsächlich ist die gesamte Episode im Labyrinth eine nette Beigabe, die, ohne größere Verluste, auch komplett aus dem Drehbuch hätte gestrichen werden können -, sind es die üblichen Gutmenschenallüren unseres Sonnenscheins Theseus, verkörpert, wie bereits erwähnt, von dem US-amerikanischen Bob Mathias – (und wer wissen will, was der sonst noch alles draufhat, sollte sich unbedingt die Verfilmung seines aufregenden Lebens, THE BOB MATHIAS STORY von 1954, reinziehen). Wie so oft hat dessen Theseus mit dem mythologischen Vorbild kaum noch etwas gemein, so wie auch die gesamte Geschichte um Minos und seinen Stier einigermaßen gegen den Strich gebürstet worden ist. Nicht nur, dass der eigentlich skandalöseste Aspekt des Mythos komplett unter den Tisch fällt, nämlich, dass Pasiphae selbst den Minotaurus zur Welt gebracht hat, weil sie unbedingt mit einem Stier hatte vögeln wollen, wozu ihr der legendäre Erfinder und Vogelmensch Daedalus gar ein spezielles Gestell gebastelt hat – (und wer wissen will, wie das alles ausgesehen haben könnte, der sollte sich unbedingt Walerian Borowczyks Ovid-Adaption ARS AMANDI von 1984 reinziehen) -, auch ist der Plot um die getrennten Geschwister Ariadne und Fedra, von denen die eine lieb, die andere bitterböse ist, eine pure Erfindung der Drehbuchautoren, und selbst authentische Ideen wie beispielweise die um Ariadnes berühmt gewordenen Faden sind ziemlich zusammenhanglos in die sich oftmals überstürzende und sich gerne in Nebenschauplätzen verzettelnde Handlung eingeflochten. Wohl um zu beweisen, dass man über ein vergleichsweise staunenswertes Budget gebieten konnte, wird plötzlich ein Krieg zwischen Athen und Kreta vom Zaun gebrochen, der immerhin zu dem einen oder anderen statistenreichen Schlachtengemälde führt. Noch merkwürdiger empfand ich Theseus‘ Ausflug ins Reich der Meerjungfrauen, wo er aufwacht, nachdem er von Syril und seinen Rabauken über eine Klippe ins offene Mittelmeer gehetzt worden ist. Eine Meergöttin verguckt sich dort, ähnlich schnell wie zuvor Ariadne, in unseren Hünen und möchte, dass er für immer bei ihr im Garten der Oktopusse bleibe. Sogar seine Erinnerung könne sie ihm löschen, sodass er nie wieder an Ariadne denken und dadurrch Liebeskummer empfinden müsse. Doch Theseus bleibt standhaft, und bekommt dafür in einem Zauberspiegel gezeigt, was sich in seiner Abwesenheit an tragischen Dingen oberhalb der Gischtkronen abgespielt hat. Als er kurz darauf, wie von Zauberhand an die Küste gespült, dem Sonnenuntergang entgegentorkelt, ist diese Episode schon fast wieder vergessen. Aber was klingt wie Kritik, will ich eigentlich als echten kretischen Honig verstanden wissen, den ich TESEO CONTRO IL MINOTAURO ums Mäulchen schmiere: Gerade weil in diesem Film andauernd etwas Sinnloses oder Sinnvolles passiert, hält ihn das fern davon, in theatralisch-steifen Dialogszenen, übertriebenem Liebesgesäusel oder allzu schlecht choreographierten Schwert- und Faustkampfszenen zu erstarren, und nie Gefahr zu laufen, sich selbst zu ernst zu nehmen.

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Dabei hilft ihm nicht zuletzt eine Handvoll Szenen, die visuell und formal verrückt genug gestalten sind, um mich, jenseits jedweder Story, begeistern zu können. Die Eröffnung des Films allein ist wohl eine der packendsten, die mir in einem italienischen Sandalenfilm jemals untergekommen ist. Nachdem wir gesehen haben wie die bereits erwähnte Blondine im Stierlabyrinth von eben dessen Pranke das Hälschen zugeschnürt bekommen hat, lässt der Film seinen Vorspann über einer stilisierten, pseudo-antiken Darstellung des Endkampfes zwischen Theseus und dem Ungetüm ablaufen, die aussieht, als habe es auch eine zeitgenössische Vase – oder eine in einem Griechischen Restaurant unserer Tage – hätte schmücken können. Abrupt endet der Vorspann mit einem Schnitt hinein in ein neues Geschehen: Vor einem weiteren Minotaurus, nur diesmal kein echter, sondern einer aus Pappe bzw. Metall, hüpft ein als Stiermensch verkleideter Bursche in die Höhe, stiert bedeutungsschwanger an der Kamera vorbei und streckt ihr die Arme entgegen. Erst nach einem weiteren Schnitt stellen wir fest, dass wir einer Tanzdarbietung beiwohnen, die scheinbar rituell vor jeder Jungfrauenopferung im Palast Minos‘ von ausgewählten Tänzerinnen geboten wird, und die, mindestens, an Experimentalballette von Strawinsky erinnert. Obwohl uns freilich nie gezeigt wird, wie der Höllenstier seine Opfer en detail zerlegt, so wartet TESEO CONTRO IL MINOTAURO doch mit der einen oder anderen Härte auf. In den von Fedra dirigierten Folterkellern darf schon mal ein an einem Gitter befestigter Mann mit entblößtem Oberkörper langsam auf glühende Kohlen heruntergelassen werden, und der – ohne zu viel verraten zu wollen – Tod Fedras kommt plötzlich wie ein seine Grausamkeit rechtfertigendes Gottesurteil: Ein Stück eben dieser Kohle wird ihr von Theseus ins Gesicht geschleudert, was dieses versengt, und worauf sie, erblindet, kopfüber in die Hyänengrube stürzt, in der sie sonst ihre Opfer verfüttert hat. Für die lyrischen Töne, sprich: etwas Rheinromantik mitten im Mittelmeer, sind die Nymphen zuständig, die Theseus vor dem Ertrinken retten: junge Frauen in wallenden Gewändern, die grazil wie Fischlein durch den stechend blauen Ozean tauchen. Auch die Doppelgängergeschichte um Fedra und Ariadne weiß der Film besser abzuhandeln als es die meisten zeitgleich entstandenen BRD-Verwechslungskomödien hätten tun können. Eine besonders sinnträchtige Szene zeigt Fedra allein in ihrem Gemach wie sie sich in einem Handspiegel bewundert, und deutet damit schon auf diejenige voraus, in der sie später ihrer Zwillingsschwester gegenüberstehen, und sich damit Schauspielerin Rosanna Schiaffino selbst in die Augen blicken wird.

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Es gibt zwei Arten von italienischen Sandalenfilmen. Für die erste wird Mario Bavas ERCOLE AL CENTRO DELLA TERRA mein liebster Exponent bleiben: ein kunterbuntes Abenteuer, das das Wort Realismus nicht mal mit knallenden Leuchtfarbenstiften schreiben könnte. Für die zweite wird Sergio Griecos unsägliche Flaubert-Adaption SALAMBÓ mein liebstes Hassobjekt bleiben: ein sterbenslangweiliger Staubfänger, der zwischen seinen farblosen Helden und kalten Kulissen in lähmende Lethargie verfallen ist. Wo ich in diesem, zugegebenermaßen etwas groben, Schema TESEO CONTRO IL MINOTAURO einordnen würde, liegt auf der Hand. Zwar wagt Silvio Amadios Film sich niemals derart weit in Gefilde des ungefilterten Surrealismus vor wie Bavas Aufeinandertreffen von Herakles-Muskelpaketen und Christopher-Lee-Fangzähnen, dennoch trennen ihn Welten von einem Kostümkleiderständer wie SALAMBÓ, eben weil er nie mehr sein will als ein unterhaltsamer Spaß für große Jungs, die in ihrem Herzen klein geblieben sind.
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karlAbundzu
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

Beitrag von karlAbundzu »

Hach, das erinnert mich an die Zeit, als ich mal circa ein Jahr lang hinter jedem Sandalenfilm her war. Das Fernsehprogramm war da sehr hilfreich, da das aufkommende Kabelfernsehen auch viel von sowas wegsendete, aber auch die öffentlich rechtlichen den historischen Wert dieser Werke schätzte.
Meine Lieblinge waren auch Maciste und Herkules, aber an den hier, von dem ich allerdings nur eine TV-Aufnahme eines Vaters eines Freundes bekam (voll uncool) kann ich mich auch gut erinnern. Erst enttäuscht, weil es kaum Minotaurus gab (aber der deutsche Titel verspricht einen wenigstens nicht das Monster, das die Zivilisation rockt), hat er mich nach und nach doch gepackt!

PS: Sowohl ECCE HOMO als auch THESEUS hab ich nicht als kaufbares Produkt entdeckt, hast du da auch alte TV-VHSen?
jogiwan hat geschrieben: solange derartige Filme gedreht werden, ist die Welt noch nicht verloren.
purgatorio
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

Beitrag von purgatorio »

Alter Schwede, Salvatore! Unfassbar, was du hier ablieferst (im positivsten aller Sinne)! Mir fehlen die Worte :o
Im Prinzip funktioniere ich wie ein Gremlin:
- nicht nach Mitternacht füttern
- kein Wasser
- kein Sonnenlicht
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

Beitrag von Salvatore Baccaro »

purgatorio hat geschrieben:Mir fehlen die Worte :o
Hu, pugschi! Ich habe Dein erschrockenes Gesicht eben erst gesehen... ;-)
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