Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

Euer Filmtagebuch, Kommentare zu Filmen, Reviews

Moderator: jogiwan

Benutzeravatar
Salvatore Baccaro
Beiträge: 3069
Registriert: Fr 24. Sep 2010, 20:10

Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Bild

Originaltitel: Livide

Produktionsland: Frankreich 2011

Regie: Alexandre Bustillo / Julien Maury

Darsteller: Chloe Coulloud, Felix Moati, Jeremy Kapone, Chaterine Jacob, Beatrice Dalle
Schon ein kurzer Blick auf die Projekte, die die beiden stets im Duo arbeitenden Filmemacher Julien Maury und Alexandre Bustillo in den letzten Jahren haben fallenlassen – und vor allem ihre Begründung dafür -, macht mir die beiden Franzosen ziemlich sympathisch. So hat Julien Maury auf die Frage, weshalb man denn von solchen eigentlich doch recht lukrativ klingenden Regie-Angeboten wie dem Sequel zu Rob Zombies HALLOWEEN-Remake oder dem Remake zu Clive Barkers HELLRAISER schlussendlich abgesprungen sei, sinngemäß geantwortet, man wolle lieber eigenständige Projekte auf die Beine stellen und seine Zeit nicht mit Remakes von Filmen, die es sowieso schon gibt, vertun. Mangelnde Eigenständigkeit jedenfalls kann man dem Werk, das man stattdessen, wie schon das Regie-Debut À INTÉRIEUR (2007), im Heimatland realisiert hat, nun wirklich nicht vorwerfen.

Bild
Bild
Abb.1 + 2: Der böse Wolf aus dem Märchen, einmal als ausgestopfter Vertreter seiner Gattung, einmal als bewegliche Puppe, der man einen Wolfskopf aufgepfropft hat. Maury und Bustillo bedienen sich freimütig im Arsenal der nicht nur filmischen europäischen Horrortradition (Grimm, Perrault) und holen Archetypen hervor, die man schon fast vergessen hat.

Ich möchte mit den positiven Aspekten von LIVIDE anfangen, weil die für mich überwiegen. Dieser Film ist altmodisch im besten Wortsinn. Nahezu seine komplette erste Stunde ist einem Inszenierungsstil verschrieben, den man in den Zeiten moderner Hektik gerade im Horrorkino selten findet. Julie, unsere Heldin, erlebt ihren ersten Tag als häusliche Krankenpflegerin und begleitet ihre neue Chefin Frau Wilson von einem mehr oder minder traurigen Schicksal zum nächsten. Schließlich endet ihr Einarbeitungstag vor den Toren der Villa einer gewissen Frau Jessel. Zwar erteilt ihre Chefin Julie die Anweisung, im Auto sitzenzubleiben und auf sie zu warten, denn lange würde ihr Besuch bei der greisen Komapatientin, die allein in dem herrschaftlichen Anwesen ihre Lebenszeit verschläft, nicht dauern. Doch Julie hat offenbar – wie die Regisseure – manchen Argento-Film mehrmals gesehen, steigt aus und ergründet die nächsten Minuten auf eigene Faust das verwunschene, verzauberte Gelände. Was dabei an Argento-Hausinspektionen wie in PROFONDO ROSSO (1975) oder INFERNO (1980) erinnert, ist jedoch nicht nur die Tatsache, dass über eine vergleichsweise weite Strecke hinweg eine Person nichts weiter tut als einfach nur eine unheimliche Umgebung zu erkunden, sondern außerdem die ruhige, unprätentiöse und auf jeden Fall packende Weise, mit der das Villengrundstück um den Zuschauer herum zu einem mysteriösen Raum aufgebaut wird, der außerhalb unserer bekannten Welt angesiedelt scheint, ein Märchenreich, in dem nicht nur Liebliches auf einen wartet, sondern, das ahnt man gleich, mit Sicherheit so mancher Schrecken.

Bild
Abb.3: Traditionsträchtige Zeichen I: Der Studienort Madame Jessels, zu lesen auf einer Urkunde, die an ihrer Kellerwand hängt.

Ein kleiner Schock ist es schon, die uralte Frau Jessel, deren Fingernägel schon seit etlicher Zeit nicht mehr geschnitten worden sein dürften, und die mehr einem künstlich beatmeten Leichnam ähnelt als einem Menschen, der irgendwann wieder aus seinem Koma aufwachen wird, in ihrem Bett liegen zu sehen. Komplett märchenhaft wird es, wenn Wilson, die Julies Ungehorsam erwartet zu haben scheint - immerhin tadelt sie sie kein bisschen dafür, sich nicht an ihre Anweisungen gehalten zu haben - wie beiläufig von einem Schatz zu erzählen beginnt, der irgendwo in der Villa, die früher mal eine renommierte Ballettschule gewesen ist, versteckt sein soll. Dazu zeigt uns die Kamera in Großaufnahme einen Schlüssel, der der schnaubenden Greisin um den Hals hängt. SUSPIRIA schreit es mir schon spätestens hier von allen Ecken und Enden des Films zu. Nicht nur, dass der unheimliche Ort, in dem und um den herum Maury und Bustillo ihre Schauergeschichte ansiedeln, eine ehemalige Ballettschule ist, in der die ehemalige Leiterin komatös schnaubt und ächzt. Vielmehr noch erinnert an Argentos Meisterstück der subtil märchenhafte Touch dieser Exposition und natürlich die manierierte, ausgesprochen schöne und klassische Kameraarbeit, die wichtiger ist als jede Psychologie der Charaktere oder jede Plausibilität der Story. Allerdings gab es schon in diesem großartigen Auftakt einen kleinen, störenden Fleck für mich. Frau Wilson regt Julie quasi aus dem Nichts heraus dazu an, aus der reichhaltigen Bibliothek der Jessel rein intuitiv irgendeinen Band auszuwählen. Sie tut das zwar, – doch Wilson geht gar nicht näher darauf ein, wechselt plötzlich das Thema und das Buch wandert ins Regal zurück. Schade, ich hätte gerne gewusst, was unsere Heldin da in der Hand gehalten hat – zumal es den Filmemachern die Steilvorlage für eine sinnreiche literarische Anspielung geliefert hätte (an filmhistorischen Anspielungen fehlt es ja, wie meine screenshots zeigen, nicht im Geringsten.)

Bild
Abb.4: Traditionsträchtige Zeichen II: Der Gasthof zum geschlachteten Lamm, in dem Julie und ihre Freunde ihren Einbruch planen.

Im zweiten Teil lernen wir Julie ein bisschen näher kennen, das alles weitgehend ohne Dialoge und ausschließlich über Außensicht, d.h. ihre Gefühle und Gedanken werden selten ausartikuliert, zeigen sich vielmehr an ihrem Verhalten und in ihrem körperlichen Ausdruck. Sie trifft zwei Freunde, William und Ben, einer davon offenbar ihr fester, und gemeinsam beschließt man, da man, wie alle jungen Leute um die Zwanzig, knapp bei Kasse ist, nachts in die Jessel-Villa einzusteigen und den angeblichen Schatz zu heben. Kurzzeitig in Julie aufkommende Zweifel verzögern den Moment letztlich nur, in dem unsere Helden in das Gebäude eindringen. So wenig logisch die Handlung von nun an wird – wieso sollte ich in eine Villa einbrechen, wenn ich nicht mal weiß, was ich in ihr suchen soll, und ob das, was ich in ihr suche, überhaupt dort ist? -, so sehr gefallen mir die beibehaltenen langen Einstellungen, die unaufgeregte Erzählweise, die vielen scheinbar nutzlosen Szenen wie Julies Warten auf ihren Freund, einen Fischer, am Hafen ihres kleinen Heimatstädtchens oder ihr kurzes Gespräch mit ihren Eltern, die zudem das Gefühl vermitteln, der Film würde nahezu in Echtzeit ablaufen, und eben alles aufzeichnen, was Julie in den folgenden Stunden widerfährt, das Belanglose wie das Handlungsrelevante. Dabei erweisen Maury und Bustillo sich meisterhaft darin, die Spannungskurve stetig nach oben zu schieben. Selbst als man endlich in der Villa angelangt ist, bricht noch kein Inferno los: erstmal wird erneut das Interieur durchwandert, nur diesmal nicht im hellen Sonnenschein, sondern in tiefster Nacht, einzig mit dem stetig unsteten Schimmer einer Taschenlampe, die der Kamera über einen langen Zeitraum hinweg ihren Fokus diktiert.

Bild
Abb.5: Traditionsträchtige Zeichen III: Drei HALLOWEEN-Rabauken, die aus dem Nichts - vielleicht aus einem anderen Film?! - auftauchen und gleich wieder ins Nichts verschwinden.

Bis hierhin hat LIVIDE ein homogenes Gepräge, ab dem dritten Teil, wenn unsere Helden feststellen, dass sie offenbar in der Villa gefangen sind, denn plötzlich führt kein Weg mehr nach draußen und eindeutig übernatürliche Phänomene treten auf den Plan, wird der Film – und damit kommen wir zu den negativen Aspekten – stilistisch leider ziemlich zerfasert. Zum einen bringt er einige der beeindruckendsten, poetischsten Bilder, die ich seit langem sehen durfte, zum andern fällt er herab auf eine Ebene plumpen Splatters, der unnötig blutig und mit unnötig lauter Spannungsmusik garniert ist. Obwohl die Idee, ein paar junge Leute in ein Spukhaus zu führen und dort dann nicht mehr wegzulassen, wahrlich nicht neu ist – gerade im italienischen Horrorfilm der Spätzeit findet man das in jedem dritten Vertreter, zu nennen wären beispielweise Fabrizio Laurentis WITCHCRAFT (1988), Claudio Lattanzis KILLING BIRDS (1987) oder Umberto Lenzis GHOSTHOUSE (1988) -, verzeihe ich LIVIDE seine mangelnde Kreativität an dieser Stelle gut und gerne, da er sie an anderer Stelle zu Höchstleistungen treibt. Nicht so sehr an Argento, sondern eher an Jean Rollin erinnern mich die schlicht unbeschreiblichen Einfälle und Bilder, die Maury und Bustillo um die Vergangenheit der Ballettschule ranken. So ist Frau Jessels Töchterchen als Hybrid zwischen Mensch aus Fleisch und Blut und mechanischer Puppe in einem Zimmer eingeschlossen und beginnt, wenn man ihre Räder zum Kreisen bringt, mit schwerfälligen, aber doch irgendwie anmutigen Tanzgesten zu bezaubern. Maury und Bustillo waten hier knietief in Gefilden der deutschen Romantik, wo Automaten und künstliche Menschen zum Standardrepertoire gehören – vor allem an E.T.A. Hoffmanns Erzählung DER SANDMANN (1815) scheinen mir die fraglichen Szenen in LIVIDE ziemlich nahe dran zu sein, andererseits könnte solch eine irgendwo zwischen absurder Komik, idealisierender Poesie und echter Tragik pendelnde Idee auch von Achim von Arnim stammen. Eine Szene dann wie die, in der Jessels Töchterchen, das sich als ausgemachtes Vampirmädchen entpuppt, eine Ballettschülerin ihrer Mutter um Blut und Leben erleichtert, und dann, von oben bis unten rotbesprizt, im Ballettkleidchen durch den weitläufigen Garten huscht, wirkt ebenfalls wie das Motiv aus einer Zeit, in der Horror noch nicht gleichbedeutend damit war, einfach nur stumpf das Ausweiden und Zerfetzen von menschlichen Körpern zu zeigen. Dieses Mädchen, unschuldig und schuldig zugleich, niedlich und bedrohlich, abstoßend und anziehend, könnte, meine ich, ungehindert nicht nur durch einen Film Rollins spazieren, sondern sich in einem Gedicht Baudelaires, einem Gemälde Burne-Jones oder einer Erzählung Poes bestimmt ebenfalls recht heimisch fühlen. Eine der schönsten Szenen in LIVIDE ist diejenige, in der, meiner bescheidenen Interpretation nach, so etwas wie eine von außen forcierte Seelenwanderung dargestellt wird. Lucie, in die Fänge der Frauen Jessel und Wilson geraten, werden, wie dem Jessel-Töchterchen, die Augen zugenäht, sodann vollführt man einen im Prinzip unbeschreiblichen Ritus, bei dem die Seelen der Mädchen die Körper tauschen. Versinnbildlicht werden diese in Gestalt – wenn mich meine entomologischen Kenntnisse nicht im Stich lassen – zweier Motten, die ihnen aus den Mündchen schlüpfen, kurz im Raum herumflattern und dann zwischen den Lippen der jeweils anderen wieder verschwinden: eine Szene, die mich nicht wenig an einen anderen äußerst poetischen und äußerst verstörenden modernen französischsprachigen Horrorfilm hat denken lassen, NUIT NOIRE (2005) des Belgiers Olivier Smoulders, bei dem es vor Insekten ebenfalls in allen Ecken und Enden summt und schwirrt.

Bild
Abb.6: Entsetzen und Entzücken gleichermaßen zusammengefasst in einem nahezu ikonischen Bild: das Jessel-Töchterchen hat seinen Durst gestillt und beginnt, die Welt außerhalb der Schulmauern zu erkunden.

Leider wirkt es jedoch gerade im Schlussakt ihres Films so, als könnten Maury und Bustillo sich nicht dazu entscheiden, diese antiquierte, theoretisch bis in den Symbolismus, die Dekadenzliteratur und die Schauerromantik zurückführbare Ästhetik konsequent beizubehalten. Ständig werden die oben erwähnten sprachlos machenden Bilder von welchen durchkreuzt, die eher einem zeitgenössischen Geschmack geschuldet sind. Julies Freunde, vorhin noch halbwegs eigenständige Figuren, nun zu bloßem Kanonenfutter degradiert, werden in wild geschnittenen Kampf- und Fressszenen von der frisch aus dem Koma erwachten Balletthexe Jessel auf unappetitlich-graphische Weise aus dem Drehbuch gestrichen, das zu diesem Zeitpunkt jede inhaltliche Kohärenz komplett über Bord geworfen hat. Ebenso brutal und hektisch müssen dann noch Wilson und Jessel dran glauben bevor Jessels Töchterchen endlich befreit ist und von Julie in ein Finale entlassen werden kann, bei dem ich noch immer darüber rätsle, ob ich das nun besonders mutig oder einfach nur besonders kitschig finden soll. Die Versprechen, die mir LIVIDE jedenfalls in seinen ersten sechzig Minuten unablässig gemacht hat, konnte der Film in seinen letzten dreißig nicht wirklich einlösen. Statt des erwarteten Feuerwerks an Poesie, Magie und Schauder zischen nur einige wenige Flämmchen in die Höhe. Diese erhellen zwar, wenn sie denn mal hochschießen, den kompletten Horizont, aber auch wie unzureichend und wie austauschbar und wie deplatziert viele andere Filmszenen um sie herum letztendlich ausgefallen sind.

Bild
Abb.7: Béatrice Dalle in einem Cameo-Auftritt als Julies verstorbene Mutter. Schon in LIVIDE verwenden, was sich in AUX YEUY DES VIVANTS zum Prinzip steigern wird, Bustillo und Maury Schauspieler früherer Filme als Zeichen, die auf ihre eigene Filmographie zurückverweisen sollen.

Bild
Abb.8: Die zwei unterschiedlichen Augenfarben Julies repräsentieren in einem sinnträchtigen Bild die Hetereogenität, die LIVIDE dadurch erwächst, dass er sich nicht für EINEN Stil zu entscheiden vermag.

Postskriptum: Als ich obigen Text geschrieben habe, kannte ich das neuste Werk von Bustillo und Maury, AUX YEUX DES VIVANTS (2014), noch nicht. Nun, wo ich ihn mir schnell noch angesehen habe, glaube ich, LIVIDE vielleicht doch noch ein bisschen besser zu verstehen. So wie LIVIDE steht nämlich auch AUX YEUX DES VIVANTS zwischen zwei Stühlen. Der eine ist zusammengesetzt aus einer dezidiert europäischen Horrorfilmtradition, der andere bietet sein Polster vor allem Leuten an, die von Filmen wie À L’INTÉRIEUR dazu angestachelt worden sind, im modernen französischen Horrorfilm erbarmungslose Härte und kehlenzuschnürende Spannung zu erwarten. Was im letzten Drittel von LIVIDE schon eine ziemlich unglückliche Zwangsehe gewesen ist, wird bei AUX YEUX DES VIVANTS, zumindest für meine Begriffe, zur mittelschweren Katastrophe. AUX YEUX DES VIVANTS ist der mit Abstand schlechteste der drei Spielfilme, die Maury und Bustillo bislang vorgelegt haben: ein Film, in dem sich maskierte Killer umständlich unter Plüschtierhaufen in Kinderzimmern verstecken, um ihre Opfer per Handyklingeln zu sich zu locken, ein Film, in dem selbst die (weiblichen) Opfer nach zahllosen Faustschlägen, Messerstichen und Rippentritten nicht nur noch aufrecht stehen, sondern sich zudem auch noch gegen ihre Feinde zur Wehr setzen können, ein Film, dessen Finale derart unübersichtlich zusammenmontiert ist, dass ich trotz aller Aufmerksamkeit schlicht nicht begriffen habe, was dort eigentlich geschehen sein soll, ein Film, dem man quasi in jeder Szene ansieht, dass er nicht wirklich weiß, wo er hinwill: zurück zum schwärmerischen Gefühl der Kindheit und der Märchen, hin zu Slashern US-amerikanischer Prägung mit Serienmördern, die überall gleichzeitig sein und selbst in geschlossene Räume eindringen können, oder vorwärts zu einer modifizierten Fassung der home-invader-Geschichte, mit der Bustillo und Maury ihren ersten Achtungserfolg erzielten? AUX YEUX DES VIVANTS erreicht niemals die Intensität von À L’INTÉRIEUR, niemals die Poesie von LIVIDE, ist ziellos brutal und lässt so viele Ideen und Nebenplots unberührt liegen, nachdem er sie einmal flüchtig angefasst hat - (gerade der Schauplatz eines verlassenen, ehemaligen Filmsets hätte doch Grundlage für wirklich krasse metafilmische Exzesse sein können!) -, dass der gesamte Film wie ein einziger Kompromiss wirkt. Meinem persönlichen Gefühl nach ist AUX YEUX DES VIVANTS einer der schlechtesten Filme, die ich dieses Jahr gesehen habe. Sollten die beiden Franzosen nicht doch noch die Kurve kriegen, dürfte LIVIDE für mich möglicherweise nicht der noch etwas holprige Anfang eines großen Lebenswerks werden, sondern der zauberhafte Schlussakkord nach einem bereits vielversprechenden Anfang.
Benutzeravatar
Salvatore Baccaro
Beiträge: 3069
Registriert: Fr 24. Sep 2010, 20:10

Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Bild

Originaltitel: La part de l'ombre

Produktionsland: Frankreich / Belgien 2014

Regie: Olivier Smolders

Darsteller: Marie Lecomte, Benoît Peeters, Bouli Lanners, Tatiana Nette, Pierre Lekeux, Moreau Marcel

Im Oktober 2010 veranstaltet die Brüsseler Galerie de l’Aigle eine Retrospektive des ungarischen Photographen Oskar Benedek. Es ist seine erste Werkschau seit 1944, jenem Jahr, in dem Benedek, am Vorabend seiner bis dato größten Ausstellung, spurlos aus seiner Budapester Wohnung verschwunden ist. Auch die 2010er Retrospektive ist umschattet von Mysterien. Kurz vor Ausstellungseröffnung sollen die Veranstalter einige Photographien, die bereits die Wände geziert hatten, wieder abgehängt und somit in letzter Minute vor den Augen der Öffentlichkeit verborgen haben. Sie würden das öffentliche Empfinden verletzen, lautet die Begründung. Aufgenommen wurden diese geheimnisumwitterten Bilder in einer Wiener Kinderklinik gegen Ende des Zweiten Weltkriegs. Zu sehen sind Kinderleichen, ausgehöhlte Schädel, noch lebende Kinder, denen bei vollem Bewusstsein die Gesichtshaut abgezogen oder die Augen aus den Höhlen geschnitten werden. Wie sind diese Aufnahmen zustande gekommen? Ist Benedek tatsächlich ihr Urheber? Stehen sie irgendeinem Zusammenhang zu seinem mysteriösen Verschwinden vor über einem halben Jahrhundert? In den einzigen beiden von einem Off-Sprecher begleiteten Passagen stellt die Dokumentation LA PART DE L’OMBRE von Olivier Smolders genau diese Frage und deutet an, in ihrer knappen halbe Stunde vielleicht keine klare Antworten, jedoch zumindest den einen oder anderen Lösungsansatz für sie finden zu können.

Bild

Oskar Benedek wurde, heißt es zumindest in einer französischen Monographie von 1952, 1911 in Budapest geboren. Im Alter von elf Jahren bekommen er und sein Zwillingsbruder Miklos von ihrem Vater, einem Verwaltungsangestellten, ihre erste Kamera geschenkt. Ihre liebsten Motive sind Tiere: Pferde, Tauben, Kätzchen. Als die beiden dreizehn sind, stirbt Miklos. Oskar wird seinen Tod nie verwinden, schreibt ihm lange Briefe in sein Tagebuch, beginnt, seine Photographie nicht mehr als Möglichkeit zu begreifen, die Zeit einbalsamieren und dem Tod damit entgegenwirken zu können, vielmehr sieht er ihre Bestimmung fortan darin, die Dinge auszulöschen, auf die er die Linse seiner Kamera richtet, sie zu töten, zu vernichten, effektiver als mit Kugeln, schreibt er. In den zwanziger Jahren verschlägt es ihn nach Paris, wo er die Bekanntschaft mit Künstlern wie Breton, Eluard und Picabia macht. Seine Photos werden surrealer, obszöner, avantgardistischer. Er experimentiert mit neuen Formen des Ausdrucks und der Technik. Parallel dazu verkompliziert sich sein Seelenleben. Nach einem missglückten Selbstmordversuch, verübt aus Liebeskummer, zieht es ihn in den späten Dreißigern nach Ungarn zurück, wo er seine Muse Krisztina Ligeti kennenlernt, die ihn zu erotischen Bildserien inspiriert, so lange zumindest bis man sie 1943 nach Bergen-Belsen deportiert. Etwa zeitgleich nimmt Benedek Kontakt zu dem deutschen Arzt Dr. Klein auf. In regelmäßigen Therapiesitzungen erzählt er ihm von Lukas Nadasky, seinem Freund aus Kindertagen und späteren künstlerischen Weggefährten, dem Verlust seines Bruders, seinen Depressionen und Selbstzweifeln. Künstlerisch beschäftigt er sich in diesen Tagen mit dem Verschwinden. Seine Photographien werden diffuser, abstrakter. Menschen, Dinge lösen sich in ihnen auf. Den Nerv der Zeit trifft er mit ihnen immerhin so weit, dass im Februar 1944 seine erste große Ausstellung ansteht. Die gesamte Budapester Prominenz und Stadtelite ist geladen. Wer jedoch nicht auftaucht, das ist Benedek selbst. Einen Monat später besetzen deutsche Truppen die ungarische Hauptstadt, die Ausstellung wird sofort geschlossen, der im kommunistischen Untergrund tätige Benedek als entarteter Künstler und Bolschewistenspitzel diffamiert. Von ihm selbst fehlt bis heute (fast) jede Spur.

Bild
Bild

LA PART DE L’OMBRE ist vollständig aus Originaldokumenten komponiert. Presseauszüge und Polizeiberichte, die Ereignisse im Frühjahr 1944 betreffend. Interviewszenen mit Lukas Nadasky, der als alter Mann zurückgezogen in seiner Pariser Wohnung lebt, und Krisztina Ligeti, die das Schicksal Bergen-Belsen hat überleben lassen. Benedeks Tagebuchaufzeichnungen von 1935 bis 1944. Sitzungsprotokolle seines Arztes, Dr. Klein. 8mm-Filme aus dem Nachlass Benedeks. Vor allem natürlich seine Photographien, die den Löwenanteil an Bildern ausmachen, mit denen Smolders die verstrickte, dichte Geschichte – oder besser: Geschichten - des Photographen erzählt. Es sind Aufnahmen von Landschaften, die durch den ungewöhnlichen Blickpunkt der Kamera surreal wirken oder durch das extreme Schwarzweiß. Es sind Aufnahmen von Paris und Budapest, alltäglich, Vergangenes schildernd, Details aufdeckend, die einem beim bloßen Schauen leicht entgehen können. Es sind Aufnahmen von Menschen: toten, namenlosen Kindern auf OP-Bahren, von Benedeks Liebsten, seinem Bruder, seinen Frauen, von Leuten, die ihm zufällig auf der Straße aufgefallen sind. Dabei erzählen diese Bilder immer wieder ihre ganz eigenen Geschichten. Wir hören einen Polizeibericht vom Februar 1944. Benedeks Hauswirtin hat seine Wohnung leer vorgefunden, ohne Möbel, ohne ihn. Dazu zeigt Smolders uns eine ältere Frau, die freundlich in die Kamera lächelt. Der ältere Mann auf der nächsten Photographie, ist das ihr Gatte? Die Balustrade, auf der sie stehen, ist das die, auf die Benedek hinausgetreten ist, wenn er seine Wohnung verlassen hat? Aber wer ist die junge Frau, die kurz darauf auf zwei Photos auftaucht? Sie fährt auf der Donau. Genau dort soll Benedek ertrunken sein. Heißt es zumindest in einem späteren Polizeibericht, nunmehr auf Deutsch, nach der Okkupation.

Bild
Bild

LA PART DE L’OMBRE ist selbst wie eine Ausstellung. Wir bewegen uns in der Geschichte Benedeks vor und zurück. Die Geschichte Europas wird quasi nebenbei erzählt. Von der Künstlerszene im Paris der 20er. Von Nazi-Ärzten mit unaussprechlichen Experimenten, die nach Ende des Krieges unbescholten weiter in Wien agieren durften. Von Stasi-Archiven, aus denen nach 1990 Dinge auftauchen, mit denen niemand mehr gerechnet hätte. Mögen diese Eckpfeiler der Historie einigermaßen klar sein, die Pseudo-Fakten, die Benedeks Geschichte stützen, sind fast allesamt auf Hypothesen aufgebaut. Exemplarisch führt Smolders uns all diese Möglichkeiten vor. Hat Benedek wirklich, wie Dr. Klein andeutet und wie es im Polizeibericht der Besatzer heißt, Selbstmord begangen? Oder ist er, von wem auch immer, entführt worden, vielleicht weil er zu viel wusste über bestimmte Vorgänger in einer Wiener Kinderklinik? Oder hat er gar seinen Tod bloß vorgetäuscht, um, in Komplizenschaft mit seinem Galeristen, seine Popularität anzustacheln? Nadasky behauptet, er habe nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs unter falschem Namen in Paris gelebt. Sie hätten Dr. Klein noch einmal besucht, 1962 in Hallstadt. Seltsamerweise stirbt dieser kurz darauf, wird mit schrecklich entstelltem Gesicht ermordet aufgefunden. Auch soll Benedek irgendwann nichts weiter mehr photographiert haben als Selbstportraits von sich selbst. Nach und nach sei er dadurch verschwunden. Nadasky behauptet, gewusst zu haben, er liege in seinem Bett, doch er sei nicht sichtbar für ihn gewesen, seiner fleischlichen Existenz beraubt, verwandelt in ein Gespenst. Oder ist das alles nur das wirre Reden eines Tattergreises?

Bild
Bild

Wie steht es aber um LA PART DE L’OMBRE selbst? So wenig wie die unterschiedlichen Erklärungsmuster zusammenpassen, so wenig ergibt dieser Film selbst Sinn in sich selbst. Angeblich soll Benedek 1911 geboren worden sein. Später heißt es, er sei 1923 nach Paris übergesiedelt. Als Zwölfjähriger? Dr. Kleins Vorname ist in der einen Quelle Siegfried, in einer andern Helmut. Einmal stirbt Miklos mit dreizehn, dann doch mit zwölf Jahren. LA PART DE L’OMBRE ist einfach nur schlecht recherchiert, könnte man glauben. Aber was ist dann mit dem Eingangszitat von Edme de la Taille de Gaubertin aus dem Jahre 1775: „Manch einer verpaart Lüge mit Wahrheit so geschickt, dass es ebenso gefährlich ist, ihm zu glauben, wie es nicht zu tun.“?Nun, die Wahrheit ist, dass nichts an LA PART DE L’OMBRE der Wahrheit entspricht. Die Lüge ist, dass LA PART DE L’OMBRE komplett der Erfindungskraft von Olivier Smolders und seinem Co-Autor Thierry Horguelin entsprungen ist. Oskar Benedek hat nie gelebt. Kaum eins der schockierenden Photos ist authentisch. Es gab nie eine Skandalausstellung 2010 in Brüssel. Sämtliche Dokumente sind fingiert, sämtliche Bilder entstammen der Kamera des zeitgenössischen Photographen Jean-Francois Spricigo. Bi auf die historischen Fakten stimmt hier gar nichts. LA PART DE L’OMBRE ist eine Fiktion, ein Schwindel, Lug und Trug.

Bild

An der hohen Emotionalität, die LA PART DE L’OMBRE auf mich ausstrahlt, ändert dies gar nichts, im Gegenteil. Wenn Smolders auf etwas hinweist, dann, wie sehr konstruiert letztlich jeder Versuch ausfallen muss, mit dem wir die Vergangenheit für uns ordnen wollen. Er tut das ohne den Gestus von jemandem, der einem eine Binsenweisheit verkaufen möchte. Vielmehr bleibt er dem düsteren, morbiden, schwarzhumorigen, selbstreflexiven Stil treu, den er seit seinen ersten Kurzfilm in den 80ern kontinuierlich weiterverfolgt. Er erzählt nichts, sondern lässt seine Bilder erzählen, oder noch eher das, was die Bilder in seinem Publikum auslösen. LA PART DE L’OMBRE ist eine Sammlung von Bruchstücken, die, je nach der Art und Weise wie man sie zusammensetzt, ein anderes Bild ergeben. Jedes dieser sich ergebende Bilder ist dabei genauso bedrückend und berührend wie die, mit denen Smolders seine narrativen Fetzchen zu uns transportiert. Ich denke an die Schwäne vor Dr. Kleins Seehaus wie sie die Hälse miteinanderverschränken, sodass es für einen Moment aussieht, als würden sie ein Herz bilden. Ich denke an die Photos, die Benedek von sich selbst schießt, mit jedem sich etwas mehr von seiner Substanz subtrahierend. Ich denke an die Schreie der Kinder kurz vor dem Verstummen, wenn man ihnen die Gehirne freilegt oder die Gesichtshaut abzieht.
Benutzeravatar
Salvatore Baccaro
Beiträge: 3069
Registriert: Fr 24. Sep 2010, 20:10

Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Bild

Originaltitel: Bestialità

Produktionsland: Italien 1976

Regie: Peter Skerl

Darsteller: Philippe March, Juliette Mayniel, Leonora Fani, Enrico Maria Salerno, Ilona Staller, Franca Stoppi
BESTIALITÀ beginnt mit einer Szene, an der Dr. Sigmund seine helle Freude gehabt hätte. Dass auch der eine oder andere Cineast sie, von ihrem kontroversen Inhalt einmal abgesehen, als besonderen Leckerbissen erachten könnte, liegt an der großartigen Art und Weise wie uns vorliegender Film an seinen Handlungsort, seine Figuren, sein Sujet heranführt. Die allererste Einstellung zeigt irgendeine Mittelmeerinsel aus halber Distanz, umspült von Wasser, das blauer wirkt als in jeder Wirklichkeit. Einen Schnitt später ist die Insel bereits näher herangerückt. Wir erkennen ihre Details: schroffe Felsen, steile Küsten, ein wenig Gras, keinen einzigen Baum. Langsam zoomt die Kamera zu etwas oben auf der Klippe, das ich zuerst für eine weitere Felsformation gehalten habe. Stattdessen scheint es ein Gebäude zu sein, das sich deutlicher und deutlich vom wolkenlosen Himmel abhebt, der blauer wirkt als in jeder Wirklichkeit. Ein weiterer Schnitt hat uns die Perspektive verändern lassen. Nun hängen wir direkt über dem Meer, schauen frontal von oben auf einen von Gischt und Wellen gepeitschten Felsen herab. Lautes Rauschen, fast wie Geheul, begleitet die Kamera, während sie erneut zoomt, diesmal aber zurück, immer weiter von der aufgewühlten See weg. Noch mehr Felsen tauchen auf, grüne Flecken von Gras, schließlich, nach einem Schwenk, das Dach genau jenes Hauses, das wir eben noch von weiter Ferne gesehen haben. Es ist flach, mit dem einen oder andern bunten Stein gepflastert, und ein kleines Mädchen auf einem kleinen Fahrrad zieht dort unbekümmert seine Bahnen, immer im Kreis, monoton wie die sphärische Musik, die den Film von nun an unterlegt, ein bisschen wie ein aufgezogenes Spielzeug. Nun sind wir hinter ihm, ganz dicht, den Fokus auf den Nacken gerichtet, und die beiden Zöpfe, die ihn links und rechts umkränzen. Neben der Musik aus dem Off hören wir, und sie, aber noch etwas anderes: seltsame Lautäußerungen aus dem Innern des Elternhauses, ein Stöhnen, Schreien, Seufzen. Sie hält inne, steigt vom Rad, geht zu einem der Fenster, durch die sie hinein in die Stube schauen kann, und die Handkamera folgt ihr, mit Fokus diesmal auf ihre Sandalen und die darin steckenden nackten Füße. Gleich darauf sind wir schon hinter der Scheibe, die so milchig ist, dass wir ihr Gesicht erstmal bloß schemenhaft ausmachen können. Dafür sieht sie, und wir, nach einem Schnitt, klar und deutlich, was der Grund für den komischen Lärm ist, der ihre Unschuld aufgestört hat. Ihre Augen in Großaufnahme richten sich auf ihre Mutter und den Familiendobermann, die beide heftig am Kopulieren sind. Sie liegt unten, er über ihr, in Missionarsstellung. Sie hält seine Vorderpfoten fest, er stößt sie mit seinem Becken, frei in der Luft mit seinem Oberkörper. Sie windet sich vor Lust, drückt ihm die Schnauze zusammen, er strampelt auf ihr wie jemand, der nicht zum ersten Mal mit einer Menschenfrau verkehrt. Die Szene endet jäh, und die Augen der unbemerkten Zeugin werden noch weiter aufgerissen, als der Familienvater nach Hause zurückkommt, und die beiden Liebenden en flagranti erwischt. Sein Prozess ist kurz und schmerzvoll, zumindest für den Familienhund, der im Innern des Hauses angeleint bleibt, während der Gatte seine untreue Frau hinter sich her ins Freie zerrt, die Tochter schultert, und Feuer an den Grundfesten des Eigenheims legt. Während die Musik inzwischen reichlich schrill und reichlich chaotisch geworden ist, verschlingt eine Feuersbrunst das, was der Mann am liebsten wohl niemals zu Gesicht bekommen hätte. Da diese unfassbar dicht inszenierten und unfassbar subversiven Minuten gerade mal die ersten drei von BESTIALITÀ sind, kann man sich darauf gefasst machen, dass das Feuer einmal mehr hinter den reinigenden, läuternden Kräften zurückbleibt, die man ihm gemeinhin zuschreibt.

Wer ist eigentlich Peter Skerl? Sein Name immerhin wird sich jedem, der BESTIALIÀ gesehen hat, unvergesslich eingeprägt haben. Er erscheint exakt in dem Moment auf der Leinwand, als die Augen unserer jungen Heldin, Jeanine, und mit ihnen die Kamera auf der oben ausführlich beschriebenen Zoophilie-Szene landen, die es fast schafft, mit der ähnlich skandalösen Eröffnung von Walerian Borowczyks LA BÊTE mitzuhalten. Doch wer ist dieser Peter Skerl? Sein filmisches Oeuvre stellt sich übersichtlich genug dar, um es an einem Nachmittag problemlos aufarbeiten zu können. Sofern jedenfalls, wenn man seiner irgendwie habhaft wird. Schon BESTIALITÀ ist ein Werk aus den Giftschränken des transgressiven Kinos, einer jener Filme, von denen man manchmal hört, manchmal liest, und den man selten einmal sieht. Noch unsichtbarer verhält es sich mit Skerls zweitem und scheinbar letztem Film, der der Kontinuität zu Willen 1979 unter dem Titel MONSTRUOSITA und dem Pseudonym Vigilio Mattei erschienen ist, und über den ich exakt keine einzige Information besitze außer der, dass auch dort, wie schon in BESTIALITÀ, Jess-Franco-Veteran Paul Muller mitgespielt haben soll. Ansonsten ist Skerl anscheinend nur dreimal innerhalb des kommerziellen Filmsystems in Erscheinung getreten. Man listet ihn als Regieassistenz in zwei Ingmar-Bergman-Filmen, SKAMMEN (1968) und den zumindest teilweise inhaltliche Kongruenzen zu BESTIALITÀ aufweisenden VARGTIMMEN (1968). Außerdem soll er am Drehbuch eines etwa verschlafenen Alfonso-Brescia-Giallo herumgeschrieben haben, dessen Titel aber würdig ist, auf einen Brustkorb tätowiert zu werden: RAGAZZA TUTTA NUDA ASSASSINATA NEL PARCO (1972). Trotzdem: wer ist dieser Peter Skerl?

Bild

Jahre später: Paul ist Architekt und soll die sündige Insel in Form von zahllosen Photographien zurück aufs Festland bringen. Sein Ziel: sie zu einer Touristenhochburg umzufunktionieren, zu einer Goldgrube, zum genauen Gegenteil dessen, was sie jetzt ist, so verlassen, still und spärlich besiedelt mitten im Mittelmeer. Yvette ist seine Frau, und begleitet ihn selbstverständlich in den mit ein bisschen Arbeit und noch mehr Freizeit versehenen Urlaub. Neben der lokalen Bevölkerung sind nur eine Handvoll weiterer Gäste dort versammelt, allesamt schräge Vögel, allesamt Zerrbilder dessen, was der Spätkapitalismus aus einem macht, wenn man nicht aufpasst. Bei Paul und Yvette läuft es übrigens alles andere als gut, und das nicht nur im Bett, wo Yvette sich regelrecht unter Krämpfen unbefriedigter Lust windet, während Paul neben ihr schon schnarcht. Man hat sich nichts mehr zu sagen, und wenn man redet, redet man aneinander vorbei. BESTIALITÀ ist mal wieder einer dieser Filme, die eine Ehe im Zentrum haben, die nicht wirklich zerrüttet ist, sondern einfach völlig erlahmt, funkenlos, kalt. Dann läuft bei einem Ausflug das Boot an einem menschenverlassenen Teil des Strands auf Grund. Paul und Yvette müssen die Nacht in einer Höhle verbringen, bei ihnen nur ein wortkarger Fischer und ein Hund, von dem Yvette meint, er würde sie permanent beobachten. Zuvor ist Paul schon mehrmals ein junges Mädchen über den Weg gelaufen, dessen treuer Gefährte dieser Hund scheinbar ist. Ihn interessiert das Gespann und er stellt Nachforschungen an. Das Haus oben auf dem Hügel, sagt ein Einheimischer, das werde Hölle genannt, weil es damals so lichterloh in Flammen stand, und selbst heute, obwohl nur noch Ruinen davon geblieben sind, soll es in mancher Nacht erneut zu Brennen beginnen. Paul interessiert die Geschichte und er stellt weitere Nachforschungen an, die ihm dann aber die Tatsache abnimmt, dass das Mädchen, Jeanine, eines Tages bei ihm vor der Tür steht und von Yvette wie selbstverständlich hereingebeten wird. Etwas entspinnt sich nun zwischen dem Trio – oder Quartett, wenn man den Hund hinzurechnet, den wir natürlich längst wiedererkannt haben -, das man Freundschaft oder Ziehkindschaft oder wollüstige Affäre nennen könnte. Nachdem es plötzlich zwischen Paul und Yvette sexuell wieder einwandfrei funktioniert, kaum dass Jeanine mit ihnen unter ein Dach gezogen ist, knüpfen sich auch zärtliche Bande zwischen beiden Ehehälften und dem jungen Mädchen, von dem Hündchen einmal ganz zu schweigen…

Wer ist eigentlich Peter Skerl? Zumindest nicht der alleinige kreative Kopf hinter BESTIALITÀ. Das behaupten zumindest die Sekundärliteratur und die gängigen Internetquellen, die immer wieder George Eastman alias Luigi Montefiori als Skerls linke oder rechte Hand anführen. Sowohl am Drehbuch soll Eastman mitgewirkt als auch zuweilen die Regie übernommen haben. Ein Indiz, das einem der Film selbst liefert, lässt das gar nicht so abwegig für meine Ohren klingen. Eastman kennt man, wenn überhaupt, wohl hauptsächlich noch für seine frucht- und dornenreiche Kollaboration mit Joe D’Amato alias Aristide Massaccessi wie SESSO NERO (1980), PORNO HOLOCAUST (1981) oder, natürlich, ANTROPOPHAGUS (1980), wo er sich in der Rolle des Inselkannibalen Nikos Karamanlis in die Annalen der schlimmeren neueren Horrorfilmgeschichte eingeschrieben hat. Insel, das ist ein Stichwort, das ich aufgreifen möchte: All diese reißerischen, oftmals aber genauso schlafwandlerischen D’Amato-Sagen von Sex und Gewalt eint, meiner Meinung nach, eine Atmosphäre, die die meisten nicht mit klassischen Spielfilmen in Verbindung bringen, sondern eher mit Urlaubvideos assoziieren werden – oder mit den Urlauben, die diesen Videos zugrundliegen. Mit Vorliebe dreht D’Amato in dieser seiner Schaffensphasen auf Inseln - Mittelmeer oder Dominikanische Republik -, in gleißendem Sonnenlicht, das von den Sandstränden derart heftig reflektiert wird, dass man vom Zusehen allein schon einen Stich davon zu bekommen meint, mit den immer gleichen Darstellern, unter denen Eastman selbst umzingelt von Hardcore-Pornoszenen stets die Hose anbehalten darf, und innerhalb von Drehbüchern, deren eigentliche Geschichte nicht mehr als eine Seite umfasst haben dürfte, und die die Reste ihrer teilweise überlangen Laufzeit vor allem mit Füllszenen strecken: Sex am Strand, endloses Anschleichen von Zombies, für die Handlung irrelevante Dialoge, noch mehr Sex am Strand usw. Auf einen Punkt gebracht: D’Amato erweist sich Ende der 70er, Anfang der 80er als ein wahrer Meister darin, eine schwüle, verträumte, sterbenslangweilige, irgendwie aber auch hypnotische Stimmung zu kreieren und diese dann konsequent für weit über eineinhalb Stunden beizubehalten. Genau da liegen die Überschneidungen zu BESTIALITÀ. Der ist zwar wesentlich hand-lungsorientierter, psychologisch glaubhafter und narrativ nachvollziehbarer als beispielweise PAPAYA DEI CARAIBI (1978) oder ORGASMO NERO (1980), dennoch scheint es Skerl und Eastman über weite Strecken weniger darauf anzukommen, eine dramatische Szene an die nächste zu heften als vielmehr ein Stimmungsbild von dem eintönigen, schweißtreibenden Klima der Insel zu geben, auf dem jedwede zwischenmenschlichen Beziehungen erstarrt sind wie die Felsen, die sich um sie herum aus dem Meer erheben. Der Vorwurf, BESTIALITÀ sei totlangweilig, resultiert wohl gerade aus dieser Haltung der Verantwortlichen, nach dem spektakulären Auftakt erst mal mehrere Gänge zurückzufahren, und für knapp eine Stunde im Prinzip gar nichts mehr zu liefern, was irgendwem auf den Schlips treten könnte – es sei denn man rechne Galanterien wie Ilona Stalles entblößte Brüste hierzu. Paul und Yvette vertreiben sich die Zeit damit, ihre in Routine und fehlender Leidenschaft festgefahrene Ehe zu Grabe zu tragen. Sie treffen von Kapitalismus und Luxus übersättigte Inselgäste, fahren mit dem Boot raus, drücken die Leere, die sie umgibt und die sich in ihnen ausbreitet, nicht durch Worte aus, sondern durch ein Schweigen, das der Film übernimmt, was ihn zu einem ziemlich traurigen, tristen Urlaubsvideo macht, sodass er vielmehr einer existenzialistischen Studie von Menschen gleicht, die materiell alles haben und denen emotional riesige Löcher in den Taschen und Herzen klaffen.

Bild
Bild

Trotzdem liegt über dieser ersten Stunde ein dekadenter Schleier, der noch die unspektakulärste Szene in einem etwas beklemmenden Licht erscheinen lässt. Das hat vor allem mit dem verstörenden Beginn zu tun. Dadurch, dass BESTIALITÀ seine mit Abstand heftigste Szene gleich an den Anfang stellt, wirft diese ihre Schatten automatisch über alles, was danach folgt. Obwohl BESTIALITÁ generell nie besonders schmuddelig wirkt und sein exploitatives Potential in den kommenden neunzig Minuten niemals wieder derart ausspielt wie in den ersten dreien, hält der Zuschauer, einmal damit konfrontiert, zu welchen Tabubrüchen vorliegender Film auf der visuellen und narrativen Ebene fähig ist, im Folgenden so ziemlich alles Unmögliche für möglich, in diesem Werk verhandelt zu werden. Anders als ein beliebiger Horrorfilm, der harmlos beginnt und in seinem Verlauf die Schrauben immer kräftiger anzieht, erzielt BESTIALITÁ seine eigenwillige Atmosphäre auf die diametral entgegensetzte Weise: Sofort in der ersten Szene stößt er dem Großteil seiner Zuschauer derart vor den Kopf, dass dieser in der sonnendurchfluteten Stimmung danach permanent Perversionen durchschimmern zu erkennen glaubt, die der Film gar nicht explizit ausformulieren muss, um effektiv mit ihnen operieren zu können.

Es wäre jedoch verfehlt, BESTIALITÀ deshalb lediglich auf seine zoophile Thematik zu reduzieren. Der Film dieses ominösen Peter Skerl steckt voller kleiner Details, die es zu entdecken lohnt und die ihm eine solche Tiefe verleihen, dass ich ihn durchaus als eine dieser bizarren Mischungen aus Exploitation und Arthouse bezeichnen würde wie sie für das abseitigere Kino Europas in den 70ern irgendwie fast schon konstitutiv ist. Da wäre zum Beispiel der zunächst unscheinbare, später verführerische Soundtrack irgendwo zwischen jazzig-sentimentalen Klängen und welchen, die sich anhören wie Pink Floyd auf der Reise zu fernen Planeten. Wenn Paul seine Nachforschungen bezüglich Jeanine anstellt, die Inseleinheimischen nach ihr ausfragt, die Ruine ihres niedergebrannten Elternhauses aufsucht, dann entsteht genauso für kurze Momente ein klassisches Giallo-Feeling wie die Anwesenheit eines Detektives, der vorgibt, von Jeanines in der Schweiz lebenden Eltern auf die Fährte ihres ausgerissenen Sprößlings angesetzt worden zu sein, sich für mich anfühlt wie ein wandelndes Genre-Zitat auf zwei Beinen. Dass Skerl durchaus fähig, sich auf Meta-Ebenen hin und her zu bewegen, beweist nicht zuletzt ein Dialog zwischen Paul, Yvette und einer älteren Dame, die sich auf die Insel zurückgezogen hat, um sich ihren Lebensabend mit Sonnenschein zu versüßen, und in deren Gefolge die oft barbusige und stets stumm-schöne Ilona Staller wie eine Bettgespielin der Greisin wirkt. Über ihre Profession vertraut die Gute unseren Helden an, dass sie Direktorin einer Werbeabteilung sei, denn, so ihr Argument, das Verkaufen von Gebrauchsgegenständen wie beispielweise Seife sei in der wirklichen Welt wenigstens leichter als das von Sex und Gewalt in den Filmen – eine These, die BESTIALITÀ selbst kurz darauf, wohl bewusst, unterwandert, indem der Film zu übertrieben vergnügter Partymusik die halbnackte Ilona Staller beim Wasserskifahren ins rechte Licht rückt. Daneben wird aber ein durchaus ein psychologisch glaubwürdiges Bild gezeichnet von gerade Paul und Yvette und ihrer eingeschlafenen Beziehung zueinander, das von den eher feinen, sachten Linien lebt. Peter Skerl ist kein Antonioni – obwohl er mit diesem natürlich die Vorliebe für die Bebilderung einer gesellschaftlichen Oberschicht teilt, die gar nicht weiß, wohin mit sich, ihren befriedigten materiellen Gelüsten und ihren unbefriedigten emotionalen -, doch oft weiß er, seine Inszenierung mit einer Virtuosität zu führen, die in den kleinen, unaufgeregten, wenig plakativen Gesten zum gelungensten Ausdruck kommt. Wenn Paul zum Beispiel eines Tages nach Hause kommt, Gekicher aus dem Badezimmert hört, zur Ecke schleicht, von der aus er unbemerkt hineinspähen kann, und Yvette und Jeanine dabei erwischt wie die eine splitterfasernackt in der Wanne sitzt und die andere ihr fast schon zu vertraulich mit einem Handtuch über den feuchten Körper fährt, dann unterminiert BESTIALITÀ das voyeuristische Potential dadurch, dass sie nicht nur Pauls verstohlenen, halb erregten, halb überraschten Blick auf die Szenerie einnimmt, sondern außerdem zeigt wie er sich gleich darauf zurückzieht und dann, lauter, um die beiden Frauen vorzuwarnen und zu verhehlen, dass er bereits gesehen hat, womit sie beschäftigt sind, ein weiteres Mal nach vorne tritt. In einem solchen Moment bringt es BESTIALITÀ fertig, gleich zwei Hörner aus einem Stück Elfenbein zu schnitzen: Der exploitative, d.h. in diesem Fall der auf die kommerzielle Verwertbarkeit von Nacktheit schielende Aspekt bleibt einerseits gewahrt – wir sehen Yvette und Jeanine quasi durchs Schlüsselloch bei einem intimen Moment, der klarmacht, dass da bald noch mehr unterhalb der Gürtellinie passieren wird -, und andererseits nutzt Skerl ihn, um über diesen Umweg etwas über die Figur des Paul zu verraten – sein Zurückweichen sagt nämlich mehr über seinen Charakter als es jeder seitenlange Monolog vermocht hätte. In einem dritten Schritt werden sogar noch wir, das Publikum, miteinbezogen: Es sind nicht bloß Pauls Augen, die aus dem Verborgenen ins Badezimmer spähen, sondern auch unsere eigenen, worauf wir, im Gegenschnitt, der Pauls Gesicht in Großaufnahme zeigt, direkt mit der Nase gestoßen werden – ein Verfahren, das schon die Eröffnungsszene mit der Hund-Frau-Kopulation so intensiv gemacht hat.

Bild
Bild

Doch geizt BESTIALITÀ auch nicht mit einer Symbolik, die man wahlweise überbordend oder poetisch nennen kann. Auffällig ist zunächst vielleicht die unverhohlene Gesellschaftskritik, die Skerl anhand der schwerreichen, luxusverseuchten Inselgäste übt, wenn er zum Beispiel beim Verspeisen des Mittagsmahl ihre Gesichter derart nahe an die Kameralinse heranholt, dass sie etwas Comichaft-Verzerrtes bekommen. Ein junger Mann, der die meiste Zeit über chauvinistische Sprüche klopft und sich ansonsten feist auf seinem Erbe ausruht, schlingt die Speisen wie ein Schwein in sich hinein, seine wenig intelligente und ihm wie ein laufender Kleiderständer folgende Liebste wird beim Essen passend mit den Geräusche von Kühen unterlegt, und die alte Bigotte, die wirkt, als sei sie aus einem Roman der Viktorianischen Zeit gepurzelt, nimmt immer nur ganz schmale Bissen zu sich und ähnelt auf einmal einem ausgemergelten Truthahn. Während uns dieser moralisierende Anthropomorphismus eher mit dem Holzhammer um die Ohren gehauen wird, fallen die Abstecher in religiöse Sphären vor allem des christlichen Abendlandes, die BESTIALITÀ in schöner Regelmäßigkeit unternimmt, um sich mit einem heilsgeschichtlichen Überbau zu schmücken, schon vergleichsweise subtiler aus. Nicht nur, dass auf der Insel ein reicher Herr lebt, der scheinbar über seinem Vermögen den Verstand verloren hat, sich seitdem auf der Suche nach Gott befindet, Thesen vertritt wie die eines Franz von Assisi würdige, dass sämtliche Tiere in völliger Harmonie zueinander gelebt hätten bis zu dem Tag, als sie dem Menschen begegnet seien, und großartig wie üblich von Paul Muller verkörpert wird, auch schiebt das Drehbuch den einzelnen Stationen von Pauls, Yvettes und Jeanines Liebes- und Leidensweg eindeutig Bibel-Motive zu. Die Ruine von Jeanines Elternhaus, das wir zu Beginn, quasi beim Sündenfall ihrer Mutter, die zwar nicht vom Baum der Erkenntnis, sondern vom Penis eines Rüden nascht, in Flammen aufgehen sehen, wird von den Inselbewohnern liebevoll als Hölle bezeichnet. Das vorrangig auf Rausch und Saus angelegte Partytreiben der Inselgäste trägt nicht nur, wenn Frau Staller zum wiederholten Male blankzieht, Züge eines modernen Sodom und Gomorrha. Und wenn Yvette gegen Ende Paul dazu überredet, dem ihr nachspürenden Detektiv nicht zu verraten, dass sie Jeanine bei sich aufgenommen haben, dann lautet ihr Hauptargument, in ihrer ménange-à-trois das Paradies auf Erden, d.h. einen neuen Garten Eden gefunden zu haben. Die von mir an dieser Stelle tunlichst verheimlichte Schlusspointe des Films macht die ambivalente Haltung, die er gegenüber seines Stoffes einnimmt, noch deutlicher: Dem existenzialistischen Inhalt gemäß bleibt es letztlich mir selbst überlassen, wie ich die Handlungen der Figuren werten möchte bzw. ob ich das, was sie als Paradies bezeichnen, mit dem gleichen Wort belegen würde oder nicht doch eher mit seinem genauen Gegenteil.

Bild

Ich merke gerade selbst wie ich von meinem eigenen Lob weggerissen werde, und ich sollte vielleicht innehalten, um endlich die Frage zu beantworten, die mich nun seit mehreren Seiten beschäftigt: Wer ist eigentlich Peter Skerl? Es bedarf keiner großen Recherche, um auf die Theorie zu stoßen, dass es sich bei ihm, wie schon bei Virgilio Mattei, um ein bloßes Pseudonym handelt. Sollte in Wirklichkeit George Eastman diesen Film gedreht haben? Das liegt nahe, doch alles deutet auf jemand anderes hin. Im gesamten Stab von BESTIALITÀ ist – einmal abgesehen von den Schauspielerinnen wie der noch aus Georges Franjus LES YEUX SANS VISAGE bekannten Juliette Mayniel, dem sündigen Matratzenhäschen aus Venedig Leonora Fani und der wunderbaren, sich dem sexuellen Duell mit dem Dobermann hingebenden Franca Stoppi – nur eine einzige Frau vertreten. Sie heißt Giuliana Gamba und soll Skerls Regieassistenz gewesen sein. PROFUMO (1987), LA CINTURA (1989) oder PORNOVIDEO (1981) nennen sich Filme, die sie ab Anfang der 80er unter eigenem Namen realisiert hat. Manche Internetquellen jedoch behaupten: Peter Skerl ist lediglich eine Tarnkappe, die sie sich für BESTIALITÀ und MONSTRUOSITA überzog – möglicherweise, um im männerdominierten italienischen Transgression-Kinos nicht negativ aufzufallen. In jedem Fall dürfte Gamba damit die einzig mir bekannte Frau sein, die jemals auf einem Regiestuhl saß, von dem aus ein derart unangepasstes, mutiges, schamloses Stück Arthouse-Exploitation dirigiert worden ist wie das vorliegende – was BESTIALITÀ für mich schon fast zu so etwas macht wie dem filmhistorischen Gegenstück zu einem als Schlüsselwerk der feministischen Filmavantgarde geltenden Meisterwerk wie JEANNE DIELMAN von Chantal Akerman. Der ist nur ein Jahr früher, 1975, erschienen. Auch ist Akerman selbst lediglich drei Jahre älter als Gamba. Aber wer ist denn dann Peter Skerl? Von dem heißt es nämlich, er habe 1942, also über ein Jahrzehnt vor Gamba, das Licht der Welt erblickt. Sei’s drum – wer auch immer nun BESTIALITÀ gedreht hat, und Mysterien hin, Mysterien her: Ich empfehle diesen Film jedem, der leuchtende Augen bekommt, wenn er sich vorstellt, dass folgende Regisseure gemeinsam ein Projekt auf die Beine stellen – Joe D’Amato, Alberto Cavallone, Michelangelo Antonioni, Walerian Borowczyk.
Benutzeravatar
Salvatore Baccaro
Beiträge: 3069
Registriert: Fr 24. Sep 2010, 20:10

Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Bild

Originaltitel: Capricci

Produktionsland: Italien 1969

Regie: Carmelo Bene

Darsteller: Carmelo Bene, Anne Wiazemsky, Tonino Caputo, Ornella Ferrari, Giovanni Davoli
Mit sechzehn oder siebzehn bin ich in den Besitz von Amos Vogel FILM AS SUBVERSIVE ART gelangt. Erschienen ist das Buch erstmals 1974, in Deutschland erst 1979 unter dem Titel KINO WIDER DIE TABUS. Eine Zeitlang war dieses Werk, in dem der New Yorker Cineast, Filmclubbegründer und Kurator die für ihn wichtigsten subversiven Filme von Anbeginn der Kinematographie bis in die 70er hinein unter Oberbegriffen wie Tod, Pornographie oder Blasphemie gesammelt hat, wie eine Bibel für mich. Nicht nur, dass es mich mit der Nase auf Filme stieß, die ich bislang gar nicht auf dem Radar hatte, auch machte es mich, zumindest schriftlich, mit Werken vertraut, über die ich bis heute sonst nirgendwo irgendwelche anderen Informationen gefunden habe als die, die Vogel anbietet, fast so, als sei er der einzige Mensch auf Erden, der solche interessant klingenden Filme wie THE END OF ONE von Paul Kocela, der angeblich das langsame Sterben einer Seemöwe zeigt, oder THE MAN FROM ONAN von Alan Ruskin, in dem ein Mädchen sich sexuell mit Haushaltsgeräten befriedigen soll, überhaupt gesehen hat. Einer der Filme, die ich damals ganz oben auf meine Wunschliste setzte, trägt den schönen Namen CAPRICCI. Vogel schreibt über Regisseur Bene im Kapitel zu Ästhetischen Rebellen: „Begründer eines der berühmtesten experimentalen Theater Italiens, Poet, Schauspieler, Dramatiker und führender Avantgardist, ist Carmelo Bene ein unbekanntes Genie des zeitgenössischen Films. Dieses ist eines seiner Meisterwerke. Benes Filme sind visuelle, lyrische und auditive Sintfluten mit Ausbrüchen wie Lava, deren halluzinatorische Perversion ihresgleichen sucht. Ihre visuelle Dichte und ihr schöpferischer Überschwang spotten der Beschreibung.“ Rechts von dieser Lobhudelei ist in meiner Ausgabe ein Screenshot aus CAPRICCI abgedruckt. Eine Frau und ein Mann liegen nebeneinander im Bett. Sie ist jung, hübsch, hat die Arme überm Kopf verschränkt, die rechte Brust ist entblößt. Er ist uralt, ein Leichnam beinahe, hat zerzaustes Haar, einen komplett entblößten Brustkorb, und den Mund weit offen, wohl weil er schnarcht. Beide scheinen tief und fest zu schlafen. Irgendwas an dem Bild affizierte mich so sehr, dass ich an allen möglichen und unmöglichen Orten nach diesem Film suchte – und ihn nirgends finden konnte. Bis heute jedenfalls.

Der 1937 geborene Carmelo Bene gehört wohl zu den am lautesten polternden enfants terribles der italienischen Theaterszene in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Nachdem er Albert Camus überzeugt hatte, ihm kostenlos die Rechte an seinem Stück CALIGULA abzutreten, und nachdem er in diesem 1959 zum ersten Mal vor einer breiteren Öffentlichkeit als Schauspieler in Erscheinung getreten ist, der seine, zumeist klassischen, Rollen konsequent gegen den Strich bürstet, entwickelte er in den Folgejahren als Regisseur und Akteur eine eigenwillige, respektlose, bewusst kitschige, bewusst trashige, vor allem für ein bürgerliches Publikum extrem subversive Theaterform, deren Hauptziel es wohl gewesen sein dürfte, den Betrachter bis zu den Grenzen des Aushaltbaren zu führen – und darüber hinaus. Artaud ist, wenig verwunderlich, sein erklärtes Vorbild. Außerdem mag er klassische italienische Opern, den ganzen Pathos, der damit verbunden ist, religiösen Kitsch und Godards PIERROT LE FOU. Die Inspiration des letzteren ist es vielleicht, die ihn in den Jahren zwischen 1968 und 1974 der Bühne abspenstig macht und ihn sich als Experimentalfilmregisseur versuchen lässt. Fünf Filme entstehen in dieser Zeit. Es sind: NOSTRA SIGNORA DEI TURCHI (1968), CAPRICCI (1969), DON GIOVANNI (1971), SALOME (1972) und UN AMLETO DI MENO (1973). Einige der Titel lassen schon erahnen: Auch hier sind es Stoffe der Bühnentradition, die Bene zerfleddert, um über die Dekonstruktion sein Publikum mit irgendeiner abstrakten Form von Wahrheit zu konfrontieren. Außerdem tritt er weiterhin als Schauspieler auf: in den eigenen Produktionen, aber auch bei anderen. Man sieht ihn in Franco Brocanis NECROPOLIS (1970), in Pasolinis EDIPOE RE (1967), in Piero Zuffis COLPO ROVENTE (1970). Natürlich laufen seine Filme vorrangig auf Arthouse-Festivals, in Programmkinos, in Kunstgalerien. Nach 1974 wendet er sich wieder ausschließlich dem Theater zu, und macht weiter wie bisher: Hamlet, Don Giovanni, Macbeth müssen weiter Federn lassen, sein Publikum leiden. Er schreibt nebenbei Romane, zwei Autobiographien, arbeitet fürs Radio, fürs Fernsehen, stirbt 2002 in Rom.

Bild
Bild
Bild

Auf der Radierung ist eine gedrungene, ziemlich feiste Gestalt zu sehen. Sie trägt einen Schlapphut mit viel zu breiter Krempe, verziert mit zwei Federn, einen Wamst, Stiefel, und offenbar eine Maske, die das Gesicht eines alten Mannes vorstellen soll. Es handelt sich um einen Geigenspieler, das Instrument in der Rechten, mit der Linken den Bogen führend, jedoch nicht zu den Saiten schauend, sondern nach rechts, über den Rand der Radierung hinweg. Auf einer anderen Radierung sind die Schrecken des Krieges dargestellt, irgendeines Krieges, keines speziellen. Palisaden, Zelte, Soldaten säumen den Hintergrund. Den Vordergrund nimmt ein Baum ein, der kurzerhand zu einem Galgen umfunktioniert worden ist. Zahllose Männer baumeln bereits an ihm, mit schlaffen Armen, schlaffen Beinen. Einer wird gerade aufgeknüpft. Der Henker steht am oberen Ende einer Leiter, der Delinquent scheint sein Schicksal wehrlos hinzunehmen, ein Priester hält ihm das Kreuz hin. Auf der dritten Radierung sehen wir eine Theatersituation. Links und rechts sind die Reihen voller Besucher, die, je weiter von uns entfernt sie sich befinden, desto mehr zu einer zusammenhängenden Masse verschmelzen. Die Bühne, geformt wie eine Zunge vielleicht oder ein Rochen, bleibt vergleichsweise leer, mit großen Abständen zwischen den einzelnen Tänzern, die dort, scheint es, ausgelassen ihre Kreise ziehen. Weiter hinten ist eine Kulisse zu erkennen: ein künstlicher Wald, ein künstlicher Himmel, eine Welt, die es so gar nicht gibt. Jacques Callot (1592-1635), von dem all diese Radierungen stammen, hat für eine dem Herzog Cosimo II. de‘ Medici gewidmete Serie den Begriff Capricci geprägt. Der ist allerdings schon wesentlich älter. Man findet ihn bereits bei dem Künstlerbiograph und Kunsthistoriker Giorgio Vasari (1511-1574), der unter Capricci all das versteht, was dem Kunstverständnis seiner Zeit zuwiderläuft: das Groteske, das Profane, das Vulgäre, das ungeschönt Schreckliche. Literarisch begegnen wir dem Capriccio bei E.T.A. Hoffmann (1776-1822), der sich mit seinen FANTASIESTÜCKEN (1814/15) ausdrücklich auf Callot bezieht, oder bei Ernst Jünger (1895-1998), der den vielleicht einzigen surrealistischen Text der Deutschen Literatur, DAS ABENTEUERLICHE HERZ (1938), in einzelne Capricci unterteilt. Auch die Musik hat das Wort, dessen Etymologie nicht abschließend geklärt ist – die gängige Meinung ist, es solle aus dem Italienischen übersetzt so etwas heißen wie „launenhafter Mensch“ -, adaptiert. Wenn Bach, Beethoven oder Pagagnini Capricci schreiben, dann meinen sie damit scherzhaft-verspielte Stücke, die unabhängig sind von klar definierten musikalischen Formen wie beispielweise dem Regelwerk einer Symphonie oder einer Sonate.

Bild
Bild

Zwei Künstler sind in ihrem Alter unter anderem damit beschäftigt, Fische – sind das Makrelen? – mit Farbe zu betupfen, während ein alter, ausgemergelter Mann in Christuspose ihnen Modell steht. Scheinbar grundlos entbrennt ein Streit zwischen den beiden, der in einer extrem gewalttätigen Schlägerei gipfelt, in der sie sich – wie sinnig! – mit Hammer und Sichel bekämpfen. Einer von ihnen, Carmelo Bene höchstpersönlich, finden wir daraufhin in einem eigenartigen Subplot wieder, wo er – erneut scheinbar grundlos – Autos zu Schrott fährt. Manche von ihnen explodieren, andere sind voller blutiger Verkehrsunfallopfer. Anne Wiazemsky wohnt diesem Spektakel bei und ist scheinbar grundlos völlig angetan von dem Rüpel, der ihr mit einem Augenzwinkern zu verstehen gibt, dass er gerne ihr Clyde sein würde, wenn sie seine Bonnie wird. Ein extrem schnarchender Greis stiehlt sich mit einem anderen Alten aus einer Wohnung davon, in der er neben einer nackten Frau erwacht ist. Seine eigene Frau bringt ihnen ebenfalls splitterfasernackt das Abendessen. Dabei wiederholen die beiden gebetsmühlenartig und scheinbar grundlos die immer gleichen sinnleeren Sätze. Aus dem Off ertönen Ratschläge für angehende Spitzenköche und ein Beitrag zum Modemagazin Elle. Die Frau des einen Herrn wird scheinbar grundlos bei lebendigem Leibe angezündet, um ihr irgendwelche sinnleeren Geständnisse abzupressen. Dann sind wir plötzlich in einem Western-Saloon, wo es der andere der beiden Alten mit echten Cowboys zu tun bekommt, die ebenfalls scheinbar grundlos gebetsmühlenartig die immer gleichen sinnlosen Sätze wiederholen. Wiazemsky und Bene haben indes noch mehr Autos zu Schrott gefahren. Per Kranfahrt zeigt die Kamera uns die Verwüstungen: Autowracks, Blutlachen, explodierende Fahrzeuge, Stichflammen. Hysterisch lachend purzeln Wiazemsky und Bene scheinbar grundlos in einem dieser Wracks herum. Ein vorbeikommender Polizist stimmt einfach mit ein. Dann gibt es einen Endlos-Monolog eines der Greise, der seiner Frau vorwirft, eine Hure zu sein, ihn zu betrügen und auszunehmen. Ein Transvestit trägt einen Mann ohne Gliedmaßen durch eine belebte Straße. Eine Frau reißt sich die Kleider vom Leib, beginnt scheinbar grundlos zu tanzen, und gibt Bene Gelegenheit, mehrere Aufnahmen übereinander zu legen, sodass wir schließlich keins der Bilder mehr konkret erkennen können. Am Ende explodieren noch mehr Autos, und Bene und Wiazemsky robben zwischen weiteren Leichen und Blutlachen umher. Reiter ganz in Rot wie zu einer Fuchsjagd erscheinen scheinbar grundlos und verzieren den Abspann mit grellen Farben.

Auf dem Papier klingt es wirklich wunderbar: Bene nimmt sich einen Text vor, entweder klassisches Theatermaterial oder etwas Selbstverfasstes, und beginnt ihn systematisch zu dekonstruieren, sodass am Ende bloß kontextlose Fragmente übrigbleiben, die er dann von Schauspielern physisch ausagieren lässt, denen so ziemlich alles abverlangt wird von Nacktszenen über Schockszenen bis hin zu endlosem schrillen Gelächter oder vollkommen überzogenen Anfällen purer Hysterie. Das alles wird dann auf der Tonebene noch mit szenenfremden Sounds versehen oder mit überlauter Opernmusik. Das alles wird dann ästhetisch gekleidet in billig wirkende Handkameraaufnahmen oder knallbunte Sets, die selbst einem Douglas Sirk zu kitschig gewesen wären. Das alles wird dann noch zusätzlich verkompliziert durch im wahrsten Wortsinne sinnlose Dialoge, Verfremdungseffekte oder Gewaltexzesse. Im Falle von CAPRICCI dürfte das eine große Vorbild klar erkennbar sein. Autofriedhöfe, Crashs am laufenden Band bzw. deren Endergebnisse – wer würde da nicht sowohl an PIERROT LE FOU als auch natürlich an WEEK END denken? Hinzukommt, dass Bene Godard für CAPRICCI sogar seine damalige Lebensgefährtin Wiazemsky ausgespannt hat. Doch muss man sagen: im Vergleich zu einem unbarmherzigen Chaos wie CAPRICCI wirken selbst die Werke Godards aus den späten 60ern wie völlig lineare, nachvollziehbare, logische Spielfilme der alten Schule. Möglicherweise möchte Bene viel Kluges sagen über den Zustand der italienischen Gesellschaft, über Kapitalismus und Kommunismus, über die Rolle von Sex in den Medien, über die Möglichkeit, Theater und Leben miteinander zu verbinden, und möglicherweise muss man sehr viel gelesen haben oder ein Kind der 68er sein oder mit Bene schon mal mehr als einen langen intellektuellen Abend verbracht haben, um dieses Genie annähernd begreifen zu können, doch für mich sieht CAPRICCI, den euphorischen Worten eines Amos Vogel zum Trotz, schlicht aus wie ein Film, der kein Maß kennt, kein Ziel hat, keine Botschaft transportiert, und nur eins will: mir den wirklich allerletzten Nerv zu rauben.

Bild
Bild

Ich habe fast alles von Godard gesehen. Ich kann über die Frühwerke eines Christoph Schlingensief herzhaft lachen. Ich mag es abgöttisch, wenn Zulawski seine Schauspieler von einem hysterischen Exzess in den nächsten hetzt. Mich stört es kein bisschen, wenn ein Film keine nacherzählbare Handlung hat. Mich stört es nicht mal, wenn er mir mit einer Geste der Sperrigkeit oder der Coolness brüsk den Rücken zuwendet, um mich auf Distanz zu halten. All das tut CAPRICCI zwar, doch in einem Ausmaß, das selbst meine Toleranzgrenze mit Siebenmeilenstiefeln überschritten hat. Dieser Film ist ein wahres Monstrum, eine Komposition aus allem, was dazu dienen kann, einen in den Wahnsinn zu treiben. Um ehrlich zu sein, habe ich schon wirklich sehr lange keinen derart anstrengenden Film mehr wie vorliegenden gesehen – einen Film, der sich benimmt wie ein kleines Kind, auf das man den mit einem befreundeten Eltern aufzupassen versprochen hat, und das sich dann, sobald die Rücklichter von Mamas und Papas Auto vom Abend verschluckt worden sind, als Satansbraten entpuppt, der einem die Hölle auf Erden bereitet. Ich kann dieses Werk nur jedem empfehlen, der aufsteigen möchte in die Gilde der allerhartgesottensten Cineasten. Viel schlimmer als hier kann es wohl wirklich nicht mehr werden. Oh mein Gott...
Benutzeravatar
Salvatore Baccaro
Beiträge: 3069
Registriert: Fr 24. Sep 2010, 20:10

Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Bild

Originaltitel: Nostra signora dei turchi

Produktionsland: Italien 1968

Regie: Carmelo Bene

Darsteller: Carmelo Bene, Lydia Mancinelli, Ornella Ferrari, Anita Masini, Salvatore Siniscalchi
Mit sechzehn oder siebzehn bin ich in den Besitz von Amos Vogel FILM AS SUBVERSIVE ART gelangt. Erschienen ist das Buch erstmals 1974, in deutscher Übersetzung 1979 unter dem Titel KINO WIDER DIE TABUS. Eine Zeitlang war dieses Werk, in dem der New Yorker Cineast, Filmclubbegründer und Kurator die für ihn wichtigsten subversiven Filme von Anbeginn der Kinematographie bis in die 70er hinein, geordnet nach Oberthemen wie Tod, Blasphemie und Pornographie, sammelt, wie eine Bibel für mich. Nicht nur, dass es mich mit der Nase auf Filme stieß, die ich bislang gar nicht auf dem Radar hatte, auch machte es mich, zumindest schriftlich, mit Werken vertraut, über die ich bis heute sonst nirgendwo irgendwelche anderen Informationen gefunden habe, fast so, als sei Vogel der einzige Mensch auf Erden, der solche interessant klingenden Filme wie THE END OF ONE von Paul Kocela, der angeblich das langsame Sterben einer Seemöwe zeigt, oder THE MAN FROM ONAN von Alan Ruskin, in dem ein Mädchen sich sexuell mit Haushaltsgeräten befriedigen soll, gesehen. Einer der Filme, die ich damals ganz oben auf meine Wunschliste setzte, trägt den schönen Namen NOSTRA SIGNORA DEI TURCHI. Vogel schreibt über Regisseur Bene im Kapitel zu Ästhetischen Rebellen: „Dies ist zusammen mit CAPRICCI das hallzuinierendste und originellste bisher von Bene geschaffene Meisterwerk: eine neoexpressionistische Explosion (mit surrealistischen Obertönen) von einmaliger Art auf der zeitgenössischen Leinwand. Der inspirierte, verzweifelte Wahnsinn dieses besessenen Moralisten geleitet ihn über die Wut hinaus in den schwarzen Humor und die groteske Burleske, die sich gezielt gegen das tote Eigengewicht einer reaktionären kulturellen Grundsubstanz wendet. Diese erscheint hier als ein Erbe von prächtigen, zerfallenden Kirchen, wundertätigen Madonnen und melodramatischen Opern, als die barocken Exzesse in Kunst und Leben eines Italiens, von dem sich Bene freimachen möchte.“ Darüber ist in meiner Ausgabe ein Screenshot aus NOSTRA SIGNORA DEI TURCHI abgedruckt. Es handelt sich um eine Portraitaufnahme des Gesichts Carmelo Benes, das sich mit Mühe und Not aus dem schwärzesten Schwarz herausschält. Spärlich sind die Nase, die Wangen, die Lippen beleuchtet, und werfen Schlagschatten zur rechten Seite. Benes Augen scheinen keine Pupillen zu besitzen, sind weiße Kugeln in der Dunkelheit, und erinnern mich an die von Somnambulen in romantischen Texten von E.T.A. Hoffmann oder in Stummfilmen von Robert Wiene. Irgendwas an dem Bild affizierte mich so sehr, dass ich an allen möglichen und unmöglichen Orten nach diesem Film suchte – und ihn nirgends fand. Bis heute jedenfalls.

Bild

NOSTRA SIGNORA DEI TURCHI beginnt im Stil einer experimentellen Dokumentation über Benes Heimatstadt, das süditalienische Otranto, das im Jahre 1480 fast zwölf Monate lang von einem osmanischen Heer unter dem Feldherrn Gehdik Ahmed Pascha besetzt gehalten worden ist. Dieser von Sultan Mehmed II. initiierte Vorstoß aufs europäische Festland geriet für die Osmanen zwar nur zu einem zeitweiligen Erfolg – schon im Mai 1481 unterliegen sie einem Gegenangriff neapolitanischer Truppen, sind aber außerdem bereits aufgrund des inzwischen eingetretenen Todes des Sultans in interne Konflikte verwickelt -, immerhin verhalf ihre kurzzeitige Anwesenheit in Otranto der römisch-katholischen Kirche aber zu einer wundersamen Heiligengeschichte: Während der Belagerung der Stadt nämlich soll einem alten Schneider namens Antonio Pezzulla die militärische und moralische Befehlsgewalt über die Bevölkerung erteilt worden sein. Als die Osmanen Otranto dann erfolgreich bestürmt hatten, stellten sie die Italiener vor die Wahl, entweder zum Islam überzutreten und fortan von ihnen als Glaubensbrüder erachtet zu werden oder eben ihr Leben lassen zu müssen. Standhaft soll Pezzulla sich geweigert haben, Christus eine Absage zu erteilen, und mit ihm weitere achthundert Stadtbewohner. Natürlich ereignete sich bei seiner Hinrichtung ein Wunder. Nachdem man ihm den Kopf vom Rumpf getrennt hatte, blieb sein Körper angeblich stocksteif stehen, und ließ sich nicht mal mit roher Gewalt in die Knie zwingen – ein schönes, symbolträchtiges Bild, mit der die Amtskirche auf die göttliche Rückendeckung verweist, die der Allmächtige jedem bewilligt, der in seinem Namen den Tod in Kauf nimmt. Von der Nonne, Flavia, die kurz vor der muslimischen Eroberung der Stadt aus ihrem Kloster entwischt ist, heißt es, sie soll zur Geliebten eines der Feldherrn avanciert sein, grausame Rache an ihrem ehemaligen Orden, ihren Eltern, den Lokalfürsten geübt haben und nach Monaten der Blutgier bei lebendigem Leibe gehäutet worden sein. Anders als ihre Gebeine, von deren Verbleib man nichts weiß, sind die der achthundert Märtyrer heute im Hypogäum der Kathedrale von Otranto, Santa Annunziata, zu bestaunen. Zu den weiteren Sehenswürdigkeiten gehört die mittelalterliche Festungsanlage und die byzantinische Kirche von San Pietro. Wir sehen verfremdete Impressionen der historischen Bauten – von Filtern verzerrt wie auf Gemälden von Dalí -, wandern die Festungsmauer entlang, hören pompöser Musik zu – irgendwas von Donizetti oder Verdi oder Puccini -, hören Bene zu, der uns aus dem Nähkästchen der Stadtgeschichte erzählt, und landen schließlich bei einem Haufen heiliger Knochen, die sich vor der Kamera auftürmen wie ein Minarett.

Bild
Bild
Bild

Der 1937 geborene Carmelo Bene gehört wohl zu den am lautesten polternden enfants terribles der italienischen Theaterszene in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Nachdem er Albert Camus überzeugt hatte, ihm kostenlos die Rechte an seinem Stück CALIGULA abzutreten, und nachdem er in diesem 1959 zum ersten Mal vor einer breiteren Öffentlichkeit als Schauspieler in Erscheinung getreten ist, der seine, zumeist klassischen, Rollen konsequent gegen den Strich bürstet, entwickelte er in den Folgejahren als Regisseur und Akteur eine eigenwillige, respektlose, bewusst kitschige, bewusst trashige, vor allem für ein bürgerliches Publikum extrem subversive Theaterform, deren Hauptziel es wohl gewesen sein dürfte, den Betrachter bis zu den Grenzen des Aushaltbaren zu führen – und darüber hinaus. Artaud ist, wenig verwunderlich, sein erklärtes Vorbild. Außerdem mochte er klassische italienische Opern, den ganzen Pathos, der damit verbunden ist, religiösen Kitsch und Godards PIERROT LE FOU. Letzterer ist es vielleicht, der ihn in den Jahren zwischen 1968 und 1974 der Bühne abspenstig macht und sich als Experimentalfilmregisseur versuchen lässt. Fünf Filme entstehen in dieser Zeit. Es sind: NOSTRA SIGNORA DEI TURCHI (1968), CAPRICCI (1969), DON GIOVANNI (1971), SALOME (1972) und UN AMLETO DI MENO (1973). Einige der Titel lassen schon erahnen: Auch hier sind es Stoffe der Bühnentradition, die Bene zerfleddert, um über die Dekonstruktion sein Publikum mit irgendeiner abstrakten Form von Wahrheit zu konfrontieren. Außerdem tritt er weiterhin als Schauspieler auf: in den eigenen Produktionen, aber auch bei anderen. Man sieht ihn in Franco Brocanis NECROPOLIS (1970), in Pasolinis EDIPOE RE (1967), in Piero Zuffis COLPO ROVENTE (1970). Natürlich laufen seine Filme vorrangig auf Arthouse-Festivals, in Programmkinos, in Kunstgalerien. Nach 1974 wendet er sich wieder ausschließlich dem Theater zu, und macht weiter wie bisher: Hamlet, Don Giovanni, Maceth müssen weiter Federn lassen, sein Publikum leiden, und er schreibt nebenbei Romane, zwei Autobiographien, arbeitet fürs Radio, fürs Fernsehen, stirbt 2002 in Rom.

Bild
Bild

Obwohl Amos Vogel so tut, als seien Benes Debut NOSTRA SIGNORA DEI TURCHI und sein Zweitling CAPRICCI wie aus einem Guss, kann ich dem überhaupt nicht zustimmen. CAPRICCI fühlte sich für mich an wie ein Film von jemandem, der kopfüber in alles hineingetaucht ist, was er von Godard hat sehen können, und der dann den Plan fasst, etwas zu drehen, das noch radikaler, noch zuschauerabweisender, noch unkomsumierbarer ist als es Filme wie WEEK END oder ONE PLUS ONE jemals sein könnten. Inhaltlich steht NOSTRA SIGNORA DEI TURCHI dem nichts nach: Auch hier erweist Bene sich als Großmeister der Dekonstruktion – diesmal auf Basis eigener Texte, die möglicherweise ziemlich sinnreich sind, wenn man sie in Ruhe bei einer Tasse Tee auf einer Sommerveranda liest, denen zumindest ich aber meine Probleme zu folgen habe, wenn sie eingebettet sind in einen derartigen Bilder- und Farbenrausch wie vorliegendem. Inhaltich geht es in dem Film – von dem ich einmal bezweifle, dass ihm ein klassisches Drehbuch zugrunde gelegen hat – scheinbar um folgende zwei Haupterzählstränge (wobei das mit der Narration natürlich mal wieder so eine Sache ist, sprich: jeder, der eine Handlung erwartet, die er jemand anderem eins zu eins nacherzählen kann, wird sich mit Grausen abwenden): Zum einen haben wir da die Fake-Dokumentation über Ortranto, die ein bisschen Geschichtsunterricht nachholt und ein bisschen die örtliche Architektur vorführt, mit zunehmender Laufzeit aber immer unwichtiger wird, und sich sowieso irgendwann mehr um den namenlosen Protagonisten und seine bizarren Eskapaden rankt, die von unserem Off-Sprecher genauso nüchtern beschrieben werden wie zuvor historische Ereignisse und außergewöhnliche Baustile. In einem zweiten Strang erlebt und erleidet dieser Protagonist, natürlich verkörpert von Bene höchstpersönlich, allerhand Seltsamkeiten, deren Sinn sich mir nicht erschlossen hat. Auf jeden Fall scheint er einer Frau verfallen, einer Madonnengestalt, einer Heiligen, die ihm wahlweise als engelsgleiche Imagination erscheint, dann aber wieder rauchend und in Magazinen blätternd sich auf seinem Bett herumlümmelt. Während des gesamten Films kommen die beiden nie so recht zusammen, und sowieso wirkt es auch nicht, als sei es Bene wichtig, eine epochenübergreifende Liebesromanze zu illustrieren. Viel lieber lässt er NOSTRA SIGNORA DEI TURCHI zu einer einzigen One-Man-Show ausufern, die möglicherweise einen idealen Einblick in die Theaterpraxis dieses Verrückten gewährt: Minutenlang wälzt sich der gefesselte Bene in einem Raum voller Bücher und wirft die einzelnen Bände um sich, wenn er sie zwischen die Finger bekommt. Bene erschießt sich selbst von einem Balkon aus, während er zugleich in ein Feld flieht. Auf einem öffentlichen Platz jagt er sich eine (Heroin?-)Spitze in den Allerwertesten. In voller Kreuzrittermontur stürmt er eine Kapelle. Während CAPRICCI sich reichlich verzettelt in einem ganzen Reigen schräger Figuren, bleibt bei NOSTRA SIGNORA DEI TURCHI zumindest klar, worauf der Fokus liegt, nämlich darauf, dass Carmelo uns zeigt, was er und sein Körper bereit sind, so alles anzustellen, um mit gängigen Narrationsstrukturen nicht nur der Bühne zu brechen.

Bild
Bild
Bild

Aber die Bilder, mit denen er das tut! NOSTRA SIGNORA DEI TURCHI mag inhaltlich genauso anstrengend, wenn nicht manchmal sogar enervierend sein wie CAPRICCI, doch hat er letzterem Film gegenüber wenigstens in meinen Augen einen unbestreitbaren Vorteil: Er sieht aus wie ein Traum, den Maio Bava, Dario Argento, Kenneth Anger und Stan Brakhage gemeinsam auf die Leinwand gepinselt haben! CAPRICCIs Bilder sind nüchtern, karg, reduziert – wären sie ein Text, dann eine emotionslose marxistische Gesellschaftsanalyse, in der höchstens die Passagen hervorstechen, in denen besonders polemisch auf den Klassenfeind eingedroschen wird. NOSTRA SIGNORA DEI TURCHI indes holt all das ab, was wir an Pomp und Prunk aus der europäischen Kunst- und Kinogeschichte gewohnt sind. Die Ikonographie des christlichen Abendlandes trifft auf byzantinische und arabische Architektur. Bene als weißgeschminkter Pierrot zieht Grimassen, die auf keiner Volksbühne der Renaissance fremd gewirkt hätten. Feuerwerke zerreißen das Firmament und bekleiden unsere Madonna mit einem echten Heiligenschein flirrender Funken. Aber damit nicht genug: Bene liefert nicht einfach nur Bilder, von denen nahezu jedes einzelne einen Rahmen und einen Platz in den Uffizien verdient hätte, um sie, zumindest teilweise, ironisch zu brechen, sondern gestaltet NOSTRA SIGNORA DEI TURCHI zu so etwas wie einem Lexikon all jener technischer Möglichkeiten, die Ende der 60er für den experimentellen Film konstitutiv gewesen sind.

Bild
Bild

Ich bin offiziell an einer Kunsthochschule eingeschrieben. Narrative Filme sind dort weitgehend verpönt. Sobald Du beginnst, eine Geschichte zu erzählen, mit inszenierten Szenarien arbeitest, mit fiktiven Figuren, die auswendiggelernte Sätze aufsagen sollen, kannst Du Dir des einen oder anderen skeptischen Blicks bewusst sein. Am liebsten werden im hochschuleigenen Kino Klassiker des Experimentalfilms gezeigt, sperrige, unverständliche, schwere Werke, die alles tun sollen, nur sich nicht in den Bahnen des tradierten Spielfilmkinos bewegen oder gar unterhalten. Eine minutenlange Großaufnahme einer tickenden Uhr, oder jemand, der mit Rasierklingen im Mund einen politischen Text vorliest bis es vom Kinn rot tropft, oder lange Litaneien über die Suche nach dem eigenen Geschlecht, private Schicksalsschläge oder den Weltschmerz – das ist, womit die Schultern unserer Filmstudioleinwand beladen werden. NOSTRA SIGNORA DEI TURCHI wirkt für mich vielleicht gerade deshalb wie ein Artefakt aus einer Zeit, als die filmische Avantgarde noch so lebendig und ungestümt war wie ein junger Hund – und es wundert mich, dass Bene im Kontext der Modernen Kunst, jetzt, wo ich sein Debut kenne, so sehr untergegangen ist. NOSTRA SIGNORA DEI TURCHI ist nämlich, meine ich, nichts weniger als ein Sammelbecken für all das, was bis 1968 an formalen und ästhetischen Strategien entwickelt worden ist, um solchen Feindbildern wie Hollywood oder Cinecitta etwas entgegenzusetzen. Bene experimentiert mit allen möglichen und unmöglichen Mitteln, um mir die Sinne vergehen zu lassen – so sehr, dass ich nach einem Sinn hinter dem Ganzen irgendwann schon gar nicht mehr frage. Er schneidet mehrere Tonspuren übereinander. Er unterbricht seinen Film in der Mitte mit dem Schriftzug Intervallo und einer Kamerafahrt über einen Geldschein hinweg. Er filmt sich küssende Pärchen aus der Froschperspektive zwischen kitschigen Blumensträußen hindurch. Er inszeniert sich selbst als Stummfilmkomödiant in Bildern, die wohl nachträglich derart ramponiert worden sind, dass sie aussehen wie aus den Kindertagen der Kinematographie. Er lässt den islamischen Gebetsruf derart übersteuert abspielen, dass es klingt wie Schafsblöken. Er spielt mit dem Medium Film genauso versiert wie er es zuvor und danach mit dem des Theaters tun wird. Und habe ich schon erwähnt, dass NOSTRA SIGNORA DEI TURCHI für mich das filmische Äquivalent zu einem saftigen, knallbunten Pfirsich ist, in den man einfach nur die Zähne hineinschlagen möchte?

Bild
Bild

Über CAPRICCI habe ich geschrieben, dass ich dieses Werk nur jedem empfehlen könne, der aufsteigen möchte in die Gilde der allerhartgesottensten Cineasten – und das nicht unbedingt positiv gemeint. Für NOSTRA SIGNORA DEI TURCHI gilt wohl gewissermaßen das Gleiche – wer es schafft, sich dieses Zwei-Stunden-Epos in einem Stück zu geben, der hat meinen Respekt! -, und inhaltlich kann man Bene auch hier vorwerfen, die Konfusion zum Selbstweck zur Schau zu stellen, d.h. sein Publikum zu quälen ohne dass dieser Qual irgendeine Form von Apotheosis oder Katharsis oder sonst irgendein Fremdwort folgen würde. Dennoch: jeder, der sich einen Bava-Giallo nicht primär wegen der komplett logischen Krimihandlung anschaut, und jeder, der bei Kenneth Anger nicht primär auf der Suche nach einer prägnanten, griffigen Aussage ist, und jeder, der Dario Argento nicht primär dafür schätzt, dass er zeigt wie Menschen auf bestialische Weise ums Leben kommen, sprich: jeder, der als höchste Qualität dieser drei Regisseure die Farbräusche sieht, von denen ihre besten Filme regelrecht verschlungen werden, der wird, glaube ich, mit NOSTRA SIGNORA DEI TURCHI seine helle Freude haben. Ich jedenfalls bin verzückt!
Benutzeravatar
Salvatore Baccaro
Beiträge: 3069
Registriert: Fr 24. Sep 2010, 20:10

Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Originaltitel: La madre e la morte

Produktionsland: Italien 1911

Regie: Arrigo Frusta

Darsteller: Paolo Azzurri, Maria Bay, Oreste Grandi, Gigetta Morano, Fernanda Negri Pouget
An die Tür der ärmlichen Hütte einer treusorgenden Mutter klopft eines Tages ein langbärtiger Greis. Er scheint sich auf einer Wanderung zu befinden, bittet um eine kurze Rast, setzt sich an den Ofen. Als die gutherzige Frau ihm aber den Rücken zuwendet, um etwas Holz nachzulegen, macht er sich über ihren Säugling her und löst sich mitsamt diesem in Luft auf. Nun erst wird unserer Mutter klar, dass es der Gevatter Tod höchstpersönlich gewesen ist, den sie nichtsahnend über ihre Schwelle gelassen hat, und sie bricht neben der leeren Wiege ihres entführten Kindes in bittere Tränen aus. Da aber erscheint ihr der Todesengel, der Mitleid mit der gebrochenen Frau hat, und ihr den Weg zeigt, dem sie folgen muss, um ins Reich des Todes zu gelangen. Durch eine gefrorene Winterlandschaft kämpft die verzweifelte Frau sich bis sie endlich, im Innern eines Berges, jenen Raum findet, in dem die Uhren des Lebens ticken. Jeder Mensch hat seine eigene, und manche schlägt schneller, manche langsamer, manche ist längst stehengeblieben. Der Tod, umgeben von seinen Lakaien, minderjährigen Knaben mit kleinen Teufelshörnern im lockigen Haar, ist sichtlich überrascht vom Eintreffen unserer Mutter, die sofort vor ihm auf die Knie geht und ihn anfleht, ihr doch ihr geliebtes Kind zurückzugeben. Immerhin wird der Gevatter Tod davon so sehr erweicht, dass er sie hinausführt zur Quelle der Zukunft, deren klare Wasser unserer Mutter vorführen, was denn aus ihrem Sohn werden würde, würde der Tod ihren Bitten nachgeben und ihn wieder lebendig machen. In seiner Kindheit ist er schon ein ausgemachter Satansbraten, der seiner Mutter ihre Aufopferung damit dankt, dass er im Jähzorn Gegenstände durch die Küche wirft und mit den Fäusten auf dem Tisch herumtrommelt. In den Zwanzigern ist er ganz offensichtlich ein ausgemachter Rüpel geworden, lässt sich zu Hause kaum sehen, und wenn, dann dankt er seiner Mutter, dass sie ihn trotz allem bekocht, indem er die Suppenschüssel in die Ecke schmeißt. Im örtlichen Wirtshaus, wo der Trunkenbold Dauergast ist, kommt es dann zu einer Handgreiflichkeit zwischen ihm und einem Nebenbuhler, der es auf das gleiche Mädchen abgesehen hat. Sie endet mit dem Tod seines Gegners, dem kurzerhand ein Messer in die Brust gerammt worden ist. Der verlorene Sohn wird abgeurteilt, findet sich in einer Gefängniszelle wieder, und entgeht seiner Hinrichtung, indem er sich dort erhängt – nicht ohne vorher noch das Leben verflucht zu haben. Nachdem diese kleine Zukunftsschau vorbei ist, kann unsere Mutter nicht anders als den Tod erneut anzuflehen, diesmal aber, ihren Sohn ja bei sich zu behalten, denn tot zu sein, das sei immer noch besser als ein derart schändliches, ehrloses Leben zu führen wie das, das ihr von der Quelle gezeigt worden ist. Gesagt, getan: Zurück im Uhrensaal hält der Tod endgültig das Pendel derjenigen des Sohns an, und die Mutter bricht schluchzend zusammen. Fin.

Bild
Bild
Bild
Bild
Bild

Natürlich ist LA MADRE E LA MORTE zunächst einmal ein Lehrstück. Man muss den Tod als Teil der Realität akzeptieren, lautet der Grundtenor des knapp zehnminütigen Films von 1911. Manchmal ist es besser, tot zu sein, als ein langes, trauriges, unglückliches Leben zu führen. Nachdem die Mutter sich erst mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln dagegen zu wehren versucht, dass ihr ihr Kind noch im Wiegenalter entrissen worden ist, kommt sie am Ende zu der Einsicht, dass das, was ihr Schmerzen bereitet, letztendlich allen Beteiligten zum Besten gereicht. Mehr als die moralische Fabel begeistert mich bei LA MADRE E LA MORTE indes die visuellen Effekte, mit denen diese wie ein etwas ernsthafter und dennoch sacht verspielter Märchenfilm in Bilder übersetzt worden ist. Sei es nun der Thronsaal des Todes mit den zahllosen Standuhren und seinen gehörnten Höflingen, sei es das impressionistisch sich kräuselnde Wasser der Schicksalsquelle, die man als Folie stets im Hintergrund erahnen kann, wenn sich die weitere Lebensgeschichte des Sohns wie eine konsequente Abwärtsspirale vor ihr entrollt, seien es die frostigen Winterlandschaften unter freiem Himmel, durch die Mutter sich vorbei an gefrorenen Flüssen und über schmale Gebirgsbrücken kämpft – sozusagen jede einzelne Szene dieses Films spricht von dem erfolgreichen Versuch, die dem frühen Kino immanente Statik und Starre dadurch zu überwinden, dass man den Zuschauer einfach erschlägt mit einem zwar überschäumenden, jedoch nie aufdringlichen Stilwillen. Dem hauptsächlich als Drehbuchautor tätigen Arrigo Frusta ist mit LA MADRE E LA MORTE ein wirklich wundervoller, kleiner, symbolistischer Film gelungen, der so ziemlich alles ausschöpft, was man an Phantastik im frühen Kino ausschöpfen konnte. Unbedingt empfohlen!
Benutzeravatar
Salvatore Baccaro
Beiträge: 3069
Registriert: Fr 24. Sep 2010, 20:10

Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Bild

Originaltitel: Killing Birds - uccelli assassini

Herstellungsland: Italien / 1987

Regie: Claudio Lattanzi / Joe D'Amato

Darsteller: Leslie Cumming, Robert Vaughn, Lara Wendel, Timothy W. Watts, James Villemaire
Das hat der hochdekorierte Vietnam-Heimkehrer und Ornithologe Brown vielleicht von anderen Frauen erwartet, aber nicht von seiner eigenen: Kurz nachdem er seine schweren Stiefel zum ersten Mal seit Ewigkeiten in den heimischen Hausflur bzw. auf die Veranda gesetzt hat, wo er in zahllosen Käfigen so ziemlich alles hält, was kreischt, gefiedert und beschnäbelt ist, findet er seine Liebste im Ehebett mit einem Mann vor, der definitiv nicht er selbst ist. Für etwas muss ‘Nam ja gut sein, und wenn es dafür ist, sofort zu agieren wie der kaltblütigste aller Killer: Dem Nebenbuhler wird ohne großes Federlesen im Schlaf die Kehle durchgeschnitten. Danach aber lässt Brown seiner besseren Hälfte viel Zeit zum Erwachen. Sie reckt sich, streicht ihrem Bettgefährten über die Brust – und taucht mit den Fingern mitten hinein in frisches Blut. Danach ist das Geschrei groß und die Flucht eine kläglich scheiternde Angelegenheit, denn natürlich mag der Wagen nicht anspringen, und just in dem Moment ist Brown von seinem Streifzug durch die umliegenden Sumpflandschaften zurück, um die Treulose zurück ins Haus zu jagen und dort unter der wenig stummen Zeugenschaft seiner Vogelsammlung ebenfalls sein Messer kennenlernen zu lassen. Inzwischen sind die Schwiegereltern, die scheinbar das Brown’sche Baby gehütet haben, damit Töchterchen nicht beim Vögeln mit dem Fremden gestört wird, ebenfalls eingetroffen, und entgehen dem kühl kalkulierenden Zorn unseres Helden ebenfalls nicht. Als der Schwiegervater aus dem Kofferraum seines Wagens ein Gewehr holt, um das Problem damit aus der Welt zu schaffen, schleudert Brown ihm gekonnt sein Messer in die Stirn. Die Schwiegermutter wird auf altbewährte Weise, nämlich per Kehlenschnitt, abgefertigt, und nur der daneben grinsend auf seiner Decke liegende Säugling bleibt verschont. Während Brown nun die Stube von dem vielen Blut reinigt, sämtliche Vögel aus ihren Käfigen entlässt und überhaupt erstmal richtig zu Hause ankommt, geschieht Unerwartetes: Ausgerechnet der Adler, den er vorher fast schon zärtlich begrüßt hat, indem er ihm die Brust kraulte, stürzt sich auf ihn, um ihm die Augen aus den Höhlen zu reißen. Erblindet ist Brown ein leichtes Opfer für die früher oder später anrückende Staatsgewalt. Wir sehen ihn wie er sich, eine Bandage ums Gesicht, von seinem Sohn verabschieden darf, danach führen ihn Beamte ins Hospital, und von dort aus, können wir uns denken, für lange Zeit hinter schwedische Gardinen.

Jahre vergehen, und wir purzeln kopfüber in die späten 80er hinein, wo eine siebenköpfige Rasselbande von Studenten, die im späteren Berufsleben wohl irgendwas mit Vögeln machen wollen, den brillanten Einfall haben, für eine wissenschaftliche Arbeit in den Sümpfen Louisianas nach dem angeblich längst ausgestorben, jedoch kürzlich doch wieder gesichteten Elfenbeinspecht zu suchen. Steve, Anne, Mary, Jennifer, Paul, Brian und Rob heißen unsere Hobbyforscher, deren erste Station ausgerechnet der inzwischen gealterte, jedoch freilich noch immer blinde Dr. Brown ist, der noch immer draußen in den Sümpfen wohnt, wenn auch nunmehr in einem anderen Häuschen als damals, und bei dem es sich um einen der Letzten handeln soll, der den sagenumwobenen Specht nicht gesehen, aber mit seinen durch das fehlende Augenlicht geschärften Ohren gehört haben soll. Während die anderen im Reisebus bleiben, statten bloß Anne und Steve, die, ohne dass der Film da besonders explizit wird, wohl so etwas wie ein Liebespaar sein sollen, dem Wissenschaftler einen Besuch ab. Der spielt ihnen dann tatsächlich Aufnahmen vom Elfenbeinspecht vor, die er erst kürzlich gemacht haben will, verhält sich ansonsten einigermaßen eigenartig und bewegt sich in seinem Eigenheim derart vorsichtig und unbeholfen, als sei er gestern erst dort eingezogen, weshalb es unsere Pappnasen dort auch nicht lange aushalten und stattdessen tiefer in die Sümpfe weiterziehen. Man hält Richtmikrofone in die Höhe, man hält die Photokameras im Anschlag, man hält sämtliche Sinne in den Wind – den Elfenbeinspecht findet man nicht, dafür ein von der Zeit vergessenes Auto, aus dem ihnen eine reichlich modrige Frauenleiche entgegenfällt. Statt in Panik auszubrechen oder zumindest den Gang zu den örtlichen Behörden zu machen, beschließt die Kindergartengruppe, ihr Nachtlager in einem nahe- und leerstehenden Haus aufzuschlagen, das natürlich kein anderes ist als das, in dem Brown seinerzeit seinen Amoklauf durchführte. Dort richtet man sich erstmal mehr oder minder häuslich ein, inspiziert die öden Räume, und nur Steve ist es, der auf das Gebäude mit Horrorvisionen reagiert, in denen ihm der Frauenkadaver aus dem Auto ein Babyfläschchen anbietet, ihm Dr. Brown erscheint, der bedrohlich auf ihn zu schleicht, und er Anne gekreuzigt an einer der kahlen Wände erblickt. Das alles ist indes noch immer nicht genug, den Ort vor Einbruch der Nacht zu verlassen. Die Quittung lässt nicht lange auf sich warten: Jennifer wird bei einer Erkundungstour in dem ehemaligen Vogelzimmer von einem waschechten Zombie der Kopf an der hölzernen Wandvertäfelung zu Brei geschlagen, und als die andern nach ihr zu suchen anfangen, häufen sich die Unglücksfälle. Einer verfängt sich in einem laufenden Generator, um von diesem erdrosselt zu werden, ein anderer geht lichterloh in Flammen auf, und plötzlich sind überall Tote aus dem Moor, die ihren Blutdurst an unseren Helden stillen wollen…

Bild
Abb.1: Falsche Signifikanten I: Ohne jemanden enttäuschen zu wollen: Es gibt in diesem Film zwar viele Vögel und auch viel Töten zu sehen, jedoch zu keinem Zeitpunkt beides zusammen, sprich: hier töten Vögel niemanden und niemand tötet hier Vögel.

Ab Mitte der 80er war Claudio Lattanzi Regieassistent bei Michele Soavi, den wohl nicht nur ich zu dieser Zeit als einen der Hoffnungsträger des in einer schweren Krise befindlichen italienischen Horrorkinos bezeichnen würde. Während die alte Garde allmählich wegstarb oder ins Fernsehen oder in die Vereinigten Staaten abwanderte, versuchte Soavi mit Filmen wie DELIRIA (1987), LA CHIESA (1989) oder LA SETTA (1991), nachdem er seinerseits selbst von Dario Argento unter dessen Fittiche genommen, d.h. als Regieassistent engagiert worden war, recht erfolgreich, wie ich meine, dem Horrorfilm seines Heimatlandes neue Impulse einzuverleiben. Dass er selbst schließlich nach seinem 1994er DELLAMORTE DELLAMORE für viele Jahre in künstlerisches Schweigen verfiel, und letztlich ebenfalls bei Fernsehfilmen landete, sagt vielleicht mehr über die Situation des (Genre-)Kinos im Italien der späten 80er, frühen 90er aus als es jede die ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse abdeckende Statistik tun könnte. Dass Dario Argento, der bei dem Projekt als Produzent fungierte, Soavi anbot, LA CHIESA zu drehen, nachdem Lamberto Bava wiederum sich geweigert hatte, diesen Film als weiteren Aufguss seiner DEMONI-Serie vermarkten zu wollen, führte letztendlich zu Lattanzis erster (und einziger) großer Chance: Joe D’Amato und seine berühmt-berüchtigte Filmgesellschaft Filmirage nämlich wollten unbedingt ein Skript namens KILLING BIRDS realisieren, und dafür schien dann Lattanzi genau der Richtige. So behaupten es zumindest die Filmcredits, die ihn freilich unter dem Namen Claude Milliken führen. Eine andere oft kolportierte Deutungsmöglichkeiten ist jedoch: Lattanzi war zwar pro forma als Regisseur eingesetzt, trotzdem gehen große Teile des vorliegenden Films auf Kosten des Meisters Massacessi selbst. Dass ich mir das durchaus vorstellen kann, möchte ich im Folgende kurz begründen, indem ich erstmal auf die generelle Atmosphäre von KILLING BIRDS eingehe.

Bild
Bild
Abb.2&3: Die Brown'sche Veranda mit den Vogelkäfigen früher und heute. Eine gewisse inhärente Logik entbehrt das nicht: Während die falschen Signifikanten zu Beginn noch fein säuberlich von der eigentlichen Geschichten getrennt sind - sie verweisen auf ein intradiegetisches Später, ihren zukünftigen Gebrauch, für den sie im Moment bloße Statthalter darstellen -, haben sie ihn im weiteren Verlauf - nachdem sie im wahrsten Wortsinne ausgeflogen sind - regelrecht kontaminiert: Die Käfige sind leer und so sind die Zeichen.

Obwohl die meisten Projekte des Joe D’Amato weit unterhalb der Gürtellinie angesiedelt sind, speist sich seine Bedeutung für die Filmgeschichte trotzdem aus einer überschaubaren Handvoll von Filmen aus dem Horrorgenre, mit denen er, selbst im Kontext des italienischen Genrekinos, noch mal Maßstäbe setzen konnte, was das Brechen von Tabus betrifft. BUIO OMEGA (1979) und ANTHROPOPHAGUS (1980) sind wohl nicht nur seine beiden wichtigsten Werke, sondern auch die, die einem am leichtesten den Magen um einhundertachtzig Grad herumdrehen. BUIO OMEGA, der von nekrophiler Liebe zu ausgestopften Frauenkörpern, Säurebädern, in denen Leichen bis auf die Knochen aufgelöst werden, und dem Ausreißen von Fingernägeln erzählt, und ANTHROPOPHAGUS, dessen Kapitalismuskritik sich dahingehend ausagiert, dass ein ganzes idyllisches Ägäis-Dörfchen im Wanst eines Menschenfressers verschwinden muss, stehen aber auch, einmal völlig abgesehen von den geschmacklichen Entgleisungen, symptomatisch für ein gewisses Flair, das nicht alle, jedoch die meisten mir bekannten Filme D’Amatos umgibt. Gerade ANTHROPOPHAGUS ist ein perfektes Beispiel, um zu illustrieren, was ich meine: Über weite Strecken dieses oftmals wie ein auf Leinwandformat aufgeblasenes Urlaubsvideo wirkenden Films geschieht, was die reine Handlung betrifft, überhaupt nichts. Unsere Protagonisten irren durch die sonnendurchflutete Gegend, ständig die Bedrohung im Nacken, gleich auf der Speisekarte von George Eastman landen zu müssen, doch bis auf die, vergleichsweise wenigen, Gewalteruptionen gefällt sich der Film in einer irgendwie schwermütigen, melancholischen Monotonie, der es ausreicht, einen bestimmten Ton immer wieder so lange abzuspielen bis man ganz hypnotisiert von dem Sound ist, und ihn schon gar nicht mehr langweilig, sondern angsteinflößend und beklemmend findet. D’Amatos Rezept ist: Ich dehne eine Story, die auf die Rückseite eines halben Bierdeckels passen würde, auf Spielfilmlänge aus, und würze das Ganze dann an den entsprechenden Stellen mit der einen oder anderen Perversität – sei es nun, wie in ANTHROPOPHAGUS, das Verspeisen eines frisch dem Mutterleib entrissenen Säuglings durch den griechischen Vielfraß, oder, in seinen im Dutzend billiger auf Inseln der Dominikanischen Republik heruntergekurbelten Machwerken wie PORNO HOLOCAUST (1981) oder PORNO ESOTIC LOVE (1980), durch, wie die Titel schon mehr als andeuten, ausgiebige Ausflüge in die Gefilde der Hardcore-Pornographie. Dieses Rezept geht, zumin-dest was meine Person betrifft, in den meisten Fällen völlig auf. Der Effekt ist: ich könnte nie erklären, wohin eigentlich die zwei Stunden verschwunden sind, die ein Film wie PORNO HOLOCAUST gedauert hat, in dem nun wirklich, bis auf die letzten Minuten, rein narrativ überhaupt nichts stattfindet, und dennoch haben mich diese beiden Stunden mit ihrer eigenwilligen Stimmung derart gefangengenommen, dass ich gar nicht gespürt habe wie sie verrinnen. Vielleicht ist D’Amatos eigentliches Thema ja nicht der Sex und nicht die Perversion, sondern vielmehr die Zeit, und die Frage danach, wie man sie verschwinden lässt, ohne dass der Zuschauer es bemerkt, und ohne dass ihm bei diesem Nicht-Bemerken irgendeine Form von großartigen Schauwerten, von nacherzählbarer Geschichte oder sonst irgendetwas im Wege steht. Dann wären seine Filme so etwas wie kinematographische Meditationsübungen der Selbstvergessenheit, und D’Amato wohl tatsächlich einer der unterschätztesten und missverstandensten Regisseure seiner, eh, Zeit.

Bild
Abb.4: An dieser Stelle erspare ich mir den mauen Witz, Robert Vaugns Gesichtsausdruck rühre von dem Skript her, das er gerade eben zu Ende gelesen hat.

Zeit ist übrigens auch ein schönes Stichwort für die Überleitung zurück zu KILLING BIRDS. Was den Umgang des Films mit dieser angeht – dieses Totschlagen ohne dass es großartig klatscht dabei -, kann er sich problemlos in das sonstige Oeuvre Signore Massacessis einreihen. Auch KILLING BIRDS ist ein Film, der im Grunde völlig uninteressante Dinge – z.B. die typischen US-Teenie-Horror-Knallchargen wie sie ein vermeintlich grusliges Haus erkunden – derart auswalzt, derart in Szene setzt, derart gewichtet, dass die Rechnung am Ende gar nicht anders kann als aufzugehen, und ich mich völlig fallenlassen kann in diesem Nichts an Handlung, diesem Nichts an Spannung und diesem Nichts an irgendetwas, das normalerweise, unter rationalen Gesichtspunkten, für mich von Interesse sein sollte. Bezeichnend hierfür sind, einmal mehr, gerade jene Szenen etwa nach dem ersten Drittel des Films, wenn unsere austauschbaren Helden und Heldinnen, deren Charakterisierung sich auf solche eindimensionalen Schlagworte bringen lassen wie „Computer-Nerd“, „Streberin“ oder „Musik-Freak“, im Geisterhaus angelangt sind, und in diesem erstmal weit über eine Viertelstunde nichts tun als ziellos durch die Gegend zu stapfen, sich umzugucken und ihre technischen Gerätschaften zwecks Aufnahme des Elfenbeinspechts auszubreiten. Es ist nun nicht so, dass solche Szenen im italienischen Horrorkino seiner Spätphase nicht inflationär eingesetzt geworden wären. Ich brauche, glaube ich, nur auf Werke wie Umberto Lenzis LA CASA 3 (1988) – bei dem übrigens nicht nur Lattanzi ebenfalls als Regieassistenz etwas Geld verdiente, sondern zudem Sheila Goldberg das Skript verfasste, was sie ebenfalls für KILLING BIRDS tat –, Gianni Martuccis I FRATI ROSSI (1988) – in dem übrigens auch Lara Wendel, wie in KILLING BIRDS, allem und jedem die Schau stiehlt und sie nicht wieder rausrückt – oder Fabrizio Laurentis WITCHERY (1988) zu verweisen, um klar zu machen, dass ein Großteil jener allerletzten Ausläufer des Italo-Horrors, wie sie Ende der 80er nicht mehr auf den großen Bahnhofskinoleinwänden landeten, sondern im TV-Nachtprogramm oder im Hinterzimmer der örtlichen Videothek, aus nicht viel anderem besteht als farblosen Figuren, die durch einen Hauch von Handlung irren, ohne recht zu wissen, wohin mit sich, und wozu das Ganze überhaupt. Natürlich hat das Tradition: die schönsten Szenen in den Meisterwerken Argentos wie PROFONDO ROSSO (1975) oder SUSPRIIA (1977) sind es doch, wenn wir mitgenommen werden auf Reisen in phantastische architektonische Welten – eine Ballett-schule in Freiburg, in der eine uralte Hexe wacht, ein leerstehendes Haus am Rande Roms, in dem einst ein schweres Verbrechen verübt wurde -, d.h. die Narration stockt oder von den grellen Farben und wundersam in Szene gesetzten topologischen Alpträumen regelrecht überlagert wird. Das alles findet sich auch noch in KILLING BIRDS, nur eben um mehrere Preisklassen gesenkt und mehr oder minder routiniert abgespult. Am ehesten kommt an die große Tradition der Spukhaus-Raumtouren im italienischen Horrorkino noch Steves Halluzination heran, die ebenfalls keinen narrativen, sondern einen rein atmosphärischen Zweck erfüllt. Warum auch immer, wird Steve nämlich, während seine Kollegen und Kolleginnen mit Auspacken beschäftigt sind, von seltsamen Visionen heimgesucht. Er scheint in ein Zeitloch geraten und das Haus zu dem Zeitpunkt zu durchwandeln, als Brown seine Ehefrau gerade erst um die Ecke gebracht hat, von der niemand mehr wiederkehrt. Die Räume sind plötzlich voller Möbel und Vogelkäfigen, das Blut auf dem Laken ist ganz frisch, dafür aber schlurft Dr. Brown in seiner jetzigen Greisengestalt durch die Flure – und Steve ist sich nicht zu blöd, sich vor ihm, obwohl er weiß, dass er es mit einem Blinden zu tun hat, in irgendwelche Verstecke zu flüchten. Nachdem die zombifizierte Gattin Browns Steves Namen gerufen hat und, dass er sein Fläschchen nehmen soll – und damit ziemlich plakativ verrät, dass es sich bei Steve um den Säugling aus der Exposition handelt -, und nachdem Lara Wendel in Kreuzigungspose einfach nur zum Anbeißen hat aussehen dürfen, rennt Steve wie von Sinnen quer durch das auf einmal wie ein Labyrinth wirkende Haus, und trifft endlich auf seine Freunde, die ihn scheinbar gar nicht vermisst haben. Diese vier, fünf Minuten sind, würde ich sagen, klassischer Italo-Horror, ästhetisch ziemlich runtergeschraubt auf die Standards eines normalen US-Slashers, und ungefähr so innovativ wie Bruno Matteis Kannibalenschocker in den 90ern, aber nichtsdestotrotz fühle ich mich zu Hause, irgendwie.

Bild
Bild
Bild
Abb.5-7: Falsche Signifikanten II: Als hätte D'Amato vom Vögeln zu Vögeln umgesattelt.

Im Rest übrigens auch, von dem ich aber eher sagen würde, dass das schon mehr in die Richtung des oben skizzierten spezifisch D’Amato’schen Ansatzes von Filmen geht, die eine aufsehenerregende Fassade vor sich hertragen, hinter der sich ein leerer Bauch befindet. Es ist nämlich schon auffallend wie wenig Mühe sich Lattanzi, Massaccessi oder beide geben, so etwas wie Tempo, Action, Spannung in KILLING BIRDS unterzubringen. Selbst das eben beschriebene Delirium Steves kann keinen dieser Faktoren für sich verbuchen: Sie ist nicht spannend, nicht temporeich, nicht actiongeladen, sie ist genauso sediert inszeniert wie der gesamte übrige Film, bei dem man schon einmal lange Sekunden zuschauen darf wie der Bus unserer sechs Freunde einfach nur an der starr am Rande des Highways postierten Kamera vorbeifährt, oder wie Mary, nach einem Alptraum, in Zeitlupe sich von ihrer Matratze rollt und durch das nächste Fenster beobachtet wie Jennifer, ebenfalls in Zeitlupe, die ehemalige Vogelkammer betritt, oder wie der sowieso schon ein einziges Stocken darstellende Film ständig noch von Zwischenschnitte zu Dr. Brown verzögert wird, der unter seiner Blindenbrille sicher bedeutungsschwangere Löcher in die Decke seines Eigenheims bohrt, oder vor allem zu Vogelschwärmen am Firmament, zu plärrenden Greifadlern auf Baumwipfeln, zu Sumpfvögeln im Schilf, ohne dass diese Impressionen mehr wären als Mittel für die Verantwortlichen, ihren Zeitstreckungsmechanismus in bestem Gang zu halten. Selbst das Auftauchen der Zombies bringt da keine grundlegende Veränderung. Sie sind, wie so vieles, einfach da, jagen unsere Freunde nicht, sondern schleichen ihnen hinterher, und bekommen sie auch nur zu fassen, weil sie dumm genug sind, noch einmal ins Haus zurückzukehren, um einen PC herauszuholen. Einer der Reize von KILLING BIRDS für mich ist, dass nichts von diesem Leerlauf ablenkt – keine Farbräusche wie bei Bava oder Argento, keine wirklichen Gewaltexzesse wie bei Fulci oder Mattei, keine Trash- oder Arthouse-Volldröhnung wie bei Luigi Cozzi oder Renato Polselli. Der Film, könnte man sagen, fasst, als das Genre sich auf dem absterbenden Ast befindet, dessen Konstitutionen noch einmal en nuce zusammen und schenkt mir das Ganze in einer Verpackung, die zugibt: Ich will gar nicht mehr sein als das.

Bild
Abb.8: Lara Wendel, die für den italienischen Genrefilm der späten 80er wohl so etwas ist wie Edwige Fenech oder Barbara Bouchet für den der 70er, als weiblicher Messias (oder Maler Schweick) mit Hand-, Fußgelenken und Nägeln an einer Zimmerwand befestigt.

Nur einmal brechen Lattanzi, D’Amato oder wer auch immer aus ihrem drögen, abwechslungslosen, monochromen Inszenierungsstil aus, und das bei dem nun wirklich vorzüglichen Prolog, der seine zehn Minuten komplett ohne Dialoge meistert – nur die, wie sollte es anders sein?!, monotone, basslastige Geisterbahn-Synthie-Musik von Carlo Maria Cordio darf wummern, was die Lautsprecher aushalten. Dieser Prolog, der tatsächlich ausnahmsweise etwas erzählt, und zwar einen Ehebruch-Schwank aus Browns Jugend, fasziniert mich immer wieder aufs Neue. Es ist nicht so sehr der Umstand, dass wir von Browns jüngerem Selbst nie das Gesicht zu sehen bekommen, und dafür, quasi als Ersatz, in Großaufnahme verschiedene seiner Extremitäten wie die mit dem Messer bewaffnete Faust oder, vor allem, seine Militärstiefel, die manchmal fast schon fetischisiert ins Bild gerückt werden. Es ist auch nicht so sehr die Story, die man ja kennt: von einem Kriegsheimkehrer, der Hörner aufgesetzt bekommen hat, und der dann durchdreht, und Beteiligte und Unbeteiligte auf möglichst grausame Weise vernichtet. Schon gar nicht sind es die Vögel, die einen ja über den ganzen Film hinweg begleiten, und damit schon früh zu etwas werden, an das man sich gewöhnt hat. Es ist vielmehr diese nüchterne, unterkühlte Art und Weise wie die Exposition in Bilder gebracht wurde. Fast dokumentarisch folgt die Kamera Brown Schritt für Schritt – von dem LKW, der ihn nach Hause bringt, von seiner Wanderung durch die Sümpfe hin zu seinem Wohnhaus, von seinem ersten Mord zu seinem zweiten, zum dritten und vierten, das alles in bestechender Konsequenz, fast schon logisch, so, als müsse es so sein, und es gibt keinen Ausweg. Am besten sind aber die Momente, wenn die Montage etwas Elliptisches bekommt, und es wirkt, als würden da immer zwischen den Bildern ein paar Sekunden fehlen, so wie einzelne Worte oder Wortteile in der Rede von jemandem, der ungemein aufgeregt ist. Bestes Beispiel ist eine meiner liebsten Szenen in KILLING BIRDS: Der Mord an dem Mann, den ich für Browns Schwiegervater halte. Mit einer Rasanz, die gerade in einem schlafwandlerischen Film wie vorliegendem noch rasanter wirkt als vielleicht in jedem anderen, sehen wir kurz hintereinander: a) die aus dem Kofferraum gezogene Schusswaffe in den Händen des Schwiegervaters, der sie lautstark entsichert, b) die Hand des Veteranen, die mit voller Wucht das Messer von sich schleudert, c) etwas, das wohl die Stirn des Schwiegervaters sein soll, in die das Messer hinein- und hindurchfährt wie durch Butter, d) das entsetzte Gesicht der Schwiegermutter, die kaum glauben kann, was sie sehen muss, e) das blutüberströmte Gesicht des Schwiegervaters, in der Stirn das Messer verankert wie ein Horn, in dem Moment, als er langsam zu Boden zu sinken scheint, f) erneut die Schwiegermutter, diesmal im Profil, kreischend wie verrückt, g) den Schwiegervater in amerikanischer Einstellung, jedoch liegend, und zwar im eigenen Saft, und h) die Schwiegermutter von hinten auf der Flucht in die Wälder. Großartig macht diese Mordsequenz vor allem, dass sie ausschließlich aus Detailaufnahmen zusammengesetzt ist, die es uns unmöglich machen, die Szenerie im Ganzen zu überblicken. Es sind fragmentarische Sprengsel, orientierungslos, überstürzt – und, was den Messerwurf angeht, so absurd, dass ich jedes Mal, wenn ich ihn sehe, breit grinsen muss.

Bild
Bild
Bild
Bild
Abb.9-12: Eine der wohl bestmontiertesten Mordszenen im internationalen Horrorfilm der späten 80er: Die Standbilder könne nur eine leise Ahnung davon geben, wie unfassbar elliptisch und rasant all diese Einzelschritte des Tötens aufeinanderfolgen.

Zugleich hat die Exposition, deren stummer Schrecken beinahe wirkt wie eine bewusste Hommage an die Tage, als das Kino noch nicht sprechen konnte, aber auch noch eine Überraschung im Gepäck, die für die zweite Hälfte meiner Interpretation vorliegenden Films integral werden wird. Das Haus nämlich, in dem Brown seinen blutigen Rachefeldzug über die Bühne bringt, und in dem später dann etwa gut die Hälfte des Films sich abspielt, dürfte jedem, der mit den großen Klassikern des italienischen Horrorkinos vertraut ist, mehr als bekannt vorkommen. Tatsächlich scheint es dem Seven Doors Hotel in Lucio Fulcis Meisterwerk L’ALDILÀ (1981) nicht nur zum Verwechseln ähnlich zu sehen, sondern es sich wirklich um exakt die gleiche Location zu handeln: Otis House, Fairview Riverside State Park - 119 Fairview Drive, Madisonville, Louisiana, USA. Das könnte man nun als nettes Gimmick abtun – D’Amato operiert mit seiner Filmirage nun mal vornehmlich in den Vereinigten Staaten, und KILLING BIRDS wurde, wie Fulcis Klassiker, in Louisana gedreht, wahrscheinlich hat es nicht mal ein großartiges logistisches Problem dargestellt, das Häuschen von damals aufzuspüren und erneut als Kulisse nutzen zu können. Dennoch geht aber KILLING BIRDS mit seiner Fulci-Rezeption weit über solche bloßen Oberflächlichkeiten hinaus, die dem wissenden Fan ein anerkennendes Nicken abringen. Vielmehr wird Fulci, neben D’Amato, zum zweiten großen Traditionsstützpfeiler, auf dem KILLING BIRDS sein, zugebenermaßen manchmal etwas wackliges, Storygerüst aufpfropft.

Bild
Abb.13: Vertrautes Terrain. Das Seven Doors Hotel aus der Sicht zweier Stiefel.

Für alle, die es vergessen haben sollten: Fulcis L’ALDILÁ ist eines der großen Werke des surrealistischen Kinos, ein absoluter Film, der allein über seine Bilder affiziert, und dessen Geschichte nicht mehr ist als ein bloßes Alibi, um diese teilweise abstoßende, teilweise hypnotische, teilweise pittoreske Bilderflut ungestört über seinem Zuschauer hereinbrechen lassen zu können. Im Zusammenhang mit der Faszination, die vor allem L’ALDILÁ, aber auch die beiden ähnlich gelagerten – und deswegen gerne zu einer Trilogie zusammengefassten - Filme wie PAURA NELLA CITTÁ DEI MORTI VIVENTI (1980) und QUELLA VILLA ACCANTO AL CIMITERO (1981), noch heute auf mich und nicht wenige andere Menschen ausüben, spreche ich gerne und oft vom Reiz der falschen Signifikanten. Fulcis Filme funktionieren nämlich wie folgt: Er hat da zwar Figuren mit Namen und Gesichtern, die bestimmte Handlungen ausüben, er hat da auch eine Spannungskurve, die so tut, als würde sie diese vereinzelt dastehenden Handlungen irgendwie miteinander verbinden, und er hat sogar den einen oder anderen narrativen Ansatz, der zumindest szenenweise zum Tragen kommt, im Großen und Ganzen ist Fulcis Trilogie von den überall auf unserer Welt verstreuten Höllentoren, bei deren Öffnung das unaussprechbare und unansehnliche Grauen über die Menschheit hereinbricht, aber wesentlich mehr dem non-norrativen, dem Avantgarde-, dem Experimentalfilm verpflichtet. Zu erkennen sind Genre-Versatzstücke, zeitlose Momente des Schreckens, entnommen der schauerromantischen Tradition, und Ekelszenen, an denen Artaud oder die Grand-Guignol-Theaterleute ihre helle Freude gehabt hätten, niemals führen diese dem Zuschauer mehr oder minder vertrauten Elemente aber dazu, dass der jeweilige Film von ihnen auf eine logische, kohärente, nacherzählbare Bahn geschwenkt werde würde. Ein Hauptfaktor dafür, dass dies gelingt, sind die bereits erwähnten falschen Signifikanten. Ein Signifikant ist nach Ferdinand de Saussure, dem Pionier der Linguistik, ein Bezeichnendes, das normalerweise nicht auskommt ohne ein Bezeichnetes, das Signifikat. Üblicherweise stehen Signifikant und Signifikat in arbiträrer Beziehung zusammen, d.h. wenn ich die Wortfolge Zombie benutze, um einen menschenfressenden, lebenden Leichnam zu bezeichnen, dann bedingt nichts an diesem menschenfressenden, lebenden Leichnam, dass er ausgerechnet mit dem Buchstabenfolge Z, o, m, b, i und e bezeichnet werden muss. Der Witz bei Fulci: Seine Filme sind voller Signifikanten, die zwar so tun, als seien sie dafür da, etwas für das Verständnis des jeweiligen Films ungemein Wichtiges zu bezeichnen, doch in Wirklichkeit verweisen sie auf nichts weiter als auf sich selbst. Da wäre das ominöse Hotelzimmer mit der Nummer 27, da wäre das noch ominösere Buch Eibon, da wäre das herrliche Do-Not-Entry-Krankenhauszimmer-Schild – alles Details in L’ALDILÁ, die inszeniert werden, als seien sie unabdingbar, um den Film auf eine rationale Weise verstehen zu können, alles Details, deren angebliche Wichtigkeit oftmals gar mit einem Geräusch auf der Tonspur und Großaufnahmen oder Zooms unterstrichen wird, alles Details, die sich schließlich, wenn man das völlig irreale Finale kennt, als im Sande verlaufen erweisen. D’Amato oder Lattanzi oder Goldberg oder wer immer auch hauptverantwortlich für das Drehbuch von KILLING BIRDS gewesen ist, muss mit diesen Fulci’schen Irritationseffekten und Anti-Zeichensystemen Bruderschaft getrunken haben: KILLING BIRDS ist zwar nicht so randvoll mit falschen Signifikanten wie die Fundgrube L’ALDILÁ, doch sein Reiz ist ein ähnlicher. KILLING BIRDS wurde, was seine Story betrifft, komplett um ein solches Bezeichnendes ohne Bezeichnetes herum konzipiert. Der gesamte Film ist ein Veranschaulichung der Arbitrarität der Zeichen, ein einziger Verweis – und zwar auf nichts anderes als darauf, dass er eben auf nichts Konkretes verweist.

Bild
Abb.14: Ein typischer Italo-Zombie, schauerlich in Szene gesetzt durch die an der Decke hin und her pendelnde Lampe. Prominent im Bild: Die leeren Käfige, die wir ja schon als Meta-Verweise auf die KILLING BIRDS im Kern konstituierende Zeichen-Arbitrarität geoutet haben.

Das beginnt schon mit dem Titel KILLING BIRDS, denn wer meine kurze Inhaltsangabe weiter oben aufmerksam verfolgt hat, der wird feststellen: Um Vögel, die irgendjemanden ums Leben bringen, geht es in diesem Film nicht mal sekundär. Die einzige Szene, die ungefähr in diese Richtung tendiert, ist die, in der Brown von seinem Lieblingsadler – zugebenermaßen recht graphisch – des Augenlichts beraubt wird. Dass er daran nicht stirbt, macht das aber höchstens zu einem Tötungsversuch. Im Finale, wenn Steve und Anne, so viel sei verraten, die letzten Überlebenden des, ehm, Zombie-Massakers sind, und Dr. Brown sich plötzlich im Gruselhaus einstellt, um sowohl zu eröffnen, dass Steve sein Sohn sei und dass er sich nun für diesen opfern wolle, denn die Moorleichen, die lechzen nur nach ihm, verlassen wir mit unserem Liebespaar das Geschehen, hören aus der Ferne Vogelgekreisch und Browns Schreie – ob er allerdings tatsächlich nun von den Zombies, von den Vögeln oder von der Unlogik des Skripts zum Schreien gebracht wird, bleibt offen, da sogleich der Abspann folgt. Halten wir fest: Obwohl dieser Film KILLING BIRDS heißt und alle gefühlte zwei, drei Minuten irgendwelche Vogelschwärme am Himmel zeigt oder bedrohlich guckende Adler oder die öden Käfige im ehemaligen Brown-Anwesen, und es damit wohl auf mehr Vogel-Screentime bringt als selbst Hitchcocks THE BIRDS, könnten mörderische Vögel nicht weiter weg sein von seiner eigentlichen, eher mit Elementen des Slashers- und Zombie-Films arbeitenden Geschichte. Das falscheste aller falschen Signifikanten wären damit exakt diese Vögel, die sich wie ein Leitmotiv durch den gesamten Film ziehen – man denke an das Airborne-Abzeichen an der Militäruniform Browns im Prolog, das einen Weißkopfseeadler zeigt, oder an den Umstand, dass unsere, hust, Helden von einem Elfenbeinspecht überhaupt erst dazu gebracht werden, in die Sümpfe Louisianas vorzustoßen -, ohne dass sie mit diesem Film in irgendeiner erkennbaren logischen, narrativen, symbolischen Beziehung stehen würden.

Bild
Abb.15: Seit Dalís und Bunuels ANDALUSISCHEM HUND immer wieder gerne gesehen: Angriffe auf den Sehapparat in graphischer Deutlichkeit. Bezeichnend ist: Der einzige nennenswerte Eingriff unserer Vögel in das Handlungsgeschehen ist ausgerechnet die Amputation eines Augenpaars, d.h. letztlich eine Attacke auf den Rezipienten selbst.

Da verwundert es nicht, dass das bisschen Handlung, das der Film anzubieten hat, ebenfalls mehr Fragen aufwirft als beantwortet. Interessanterweise kommt hier aber wieder das von mir schon in der Exposition geortete Ellipsen-Verfahren zu seiner Geltung: So wie die Montage den Mord am Schwiegervater derart dich staucht, dass man meint, atemlose Sekunden würden zwischen jeder Einstellung vergehen, so erweckt es auch innerhalb des Story-Gerüstes den Eindruck, als fehlten dort entscheidende Stützen – weswegen das gute Stück sich kaum aufrechthalten kann. Hätte der Film beispielweise anfangs gezeigt, dass Brown die Leichen seiner Opfer im Sumpf entsorgt, wäre es für den Zuschauer später relativ eindeutig, dass die modrigen Zombies scheinbar die wiederkehrenden und Rache übenden Schwiegermutter, Schwiegervater, Ehefrau und Liebhaber sind. Hätte der Film wenigstens einen Satz über die Kindheit Steves verloren – zum Beispiel, wo er aufwuchs, wer seine Eltern sind -, wäre es für den Zuschauer später wesentlich leichter, irgendeinen Sinn darin zu erkennen, dass Brown ausgerechnet sein Vater sein soll, und dass die Zombies Steve und seine Freunde möglicherweise wegen dessen Verwandtschaft zu ihrem Mörder heimsuchen. Hätte der Film sich mehr Mühe gegeben, das Spukhaus-Thema besser herauszuarbeiten – zum Beispiel, indem eindeutig postuliert worden wäre, dass sich dieses Haus in einem Paralleluniversum befindet, ähnlich wie das Seven Doors Hotel zuweilen -, wäre es für den Zuschauer wesentlich einfacher, sich darauf einzulassen, dass auf einmal Gesetze von Zeit, Raum und menschlicher Logik Kopf zu stehen scheinen, dass eine Photographie der Eheleute Brown sich vor Marys und Annes Augen in Luft auflöst, dass am Ende plötzlich ein Auto vor dem Anwesen steht, obwohl unsere Helden zu Fuß angereist sind bzw. ihren Bus ein gutes Stück weit entfernt geparkt haben. Dass Lattanzi oder D’Amato oder wer auch immer auf all dies verzichtet hat, kann, meine ich, kein Zufall, keine Schlamperei sein. Ganz bewusst erhebt KILLING BIRDS zum einen seinen großen, gefiederten und falschen Signifikanten auf den Thron, und zum andern arbeitet er pausenlos mit Verkürzungen, mit Halbsätzen, mit hingeworfenen roten Heringen, die von der Hauskatze schon völlig zerfleddert worden sind. Auch die unübersehbaren Zitate auf drei andere ikonische Horrorfilme der 70er und 80er Jahre im Finale machen da keine Ausnahme, und erschöpfen ihr Potential bereits in dem Moment, als man sie herausgehauen hat: Ich denke an, a) DAWN OF THE DEAD, wenn Anne von grapschenden Zombiearmen gepackt wird, die durch eine Mauer in ihrem Rücken brechen, (die dadurch allerdings als bloße Pappwand enttarnt wird), b) THE EVIL DEAD, wenn Steve, Anne und entweder Paul oder Rob oder Brian sich auf dem Dachboden verschanzt haben, und von unten ein Zombie gegen die verriegelte Luke hämmert, die sich daraufhin immer ein bisschen hebt, wobei die Kamera durch den Spalt hindurch zu unseren verängstigten Helden guckt, und c) ANTROPOPHAGUS höchstselbst, wenn kurz, als die Luke nicht mehr bebt und es still im Haus geworden ist, einer der Buben von oben, durch die morschen Dachbalken hindurch, von einem der Zombies gepackt und hinaus ins Verderben gezogen wird.

Bild
Bild
Bild
Abb.16-18: Genre-Zitate, die sich mehr auf sich selbst beziehen als auf die Filme, die sie bezeichnen. Es sind: (16) DAWN OF THE DEAD, (17) THE EVIL DEAD sowie (18) ANTROPOPHAGUS.

Es ist leicht, einen Film wie KILLING BIRDS unter dem Gesichtspunkt zu diskreditieren, dass er die Nachgeburt eines Genres ist, das sich im Jahre 1987 bereits selbstüberholt hat, ein schwacher Abklatsch glorreicher Tage, in denen das Horror-Kino Italiens solche zeitlose Klassiker wie SUSPIRIA, L’ALDILÀ oder LA MASCHERA DEL DEMONIO aus seinem Stiefel zauberte. Wer so argumentiert, verkennt vorliegendes Werk aber als eines, das zugegebenermaßen das eine oder andere Zugeständnis an den gewandelten Publikumsgeschmack macht – am deutlichsten in der pausbäckigen Darstellerriege, die so etwas bildet wie das Nonplusultra charakterlosen Teenie-Kanonenfutters -, trotzdem jedoch die strukturellen, ästhetischen und atmosphärischen Postulate gleich zweier Ikone des Italo-Horrors, nämlich D’Amato und Fulci, in einer Treue wiederholt, die sich nicht schert darum, dass für die meisten Menschen Filme über eine schlüssig agierende Figuren, über eine packende Geschichte, über eine wenigstens innere Logik verfügen sollte. Aus gleich zwei Gründen kann man KILLING BIRDS nicht nacherzählen, sondern muss man ihn gesehen haben, um seinem eigenwilligen Charme zu verfallen: Von D’Amato nimmt er die Kunst, einen einzigen Leerlauf derart undramatisch und unspektakulär zu verpacken, dass sich irgendwann, wie von selbst, beim Zuschauer ein somnambuler Zustand einstellt, der ihn bloß noch starren, nicht mehr denken lässt. Von Fulci nimmt er die Kunst, ein für die westliches Welt sinnstiftendes Zeichensystem völlig dadurch über den Haufen zu werfen, dass er konsequent einen und denselben falschen Signifikanten ausstreut, ohne dass dahinter mehr stecken würde als eine weitere Feier der Arbitrarität. Dazwischen werden dümmliche Studenten von schimmligen Zombies dezimiert. Dass KILLING BIRDS – und mit ihm viele andere Spät-80er-Horrorfilme Italiens endlich einmal akademisch erfasst werden -, dafür ist die Zeit doch endlich reif, oder?
Benutzeravatar
Salvatore Baccaro
Beiträge: 3069
Registriert: Fr 24. Sep 2010, 20:10

Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Bild

Originaltitel: Lo squadrone bianco

Produktionsland: Italien 1936

Regie: Augusto Genina

Darsteller: Antonio Centa, Fosco Giachetti, Fulvia Lanzi, Guido Celano, Olinto Cristina
Mario ist bis über beide Ohren verknallt in Cristiana. Seine Wochenenden verbringt der Armeeoffizier am liebsten in ihren Betten, in ihren Armen. Dann aber versetzt sie ihn dreimal hintereinander. Er wartet vergeblich in ihrem Stammhotel auf sie, erhält lediglich die Nachricht, dass sie unpässlich sei. Tatsächlich handelt es sich bei Cristiana um einen ausgemachten Vamp der alten Schule. Während Mario wie ein Hündchen nach ihr schmachtet, hat sie schon längst den nächsten Fisch an der Angel, vertreibt sich die Zeit auf Cocktailpartys und Konzerten. Schließlich hält Mario die Ungewissheit nicht mehr aus und sucht sie zu Hause auf. Cristiana begegnet ihm kühl, eröffnet ihm recht schnell, dass sie einen andern habe, gibt ihm den Laufpass. Für Mario bricht eine Welt zusammen. In seiner Verzweiflung will er nichts anderes als Rom so weit hinter sich zu lassen wie möglich, weshalb er sich entscheidet, sich nach Afrika versetzen zu lassen. Mario erreicht den kleinen libyschen Grenzposten als gebrochener Mann, der das Lachen verlernt hat und stumpf auf Befehle reagiert. Seinem Vorgesetzten, Kapitän Santelia, schmeckt das überhaupt nicht. Marios Vorgänger ist als Held im Kampf gegen die Partisanen gefallen, die sich in der Wüste versteckt halten und jede Gelegenheit nutzen, gegen die italienischen Besatzer zu agitieren. Diese Fußstapfen sind viel zu groß für Mario, dem Santelia vor allem vorwirft, dass er, wie er bald feststellt, nicht aus kolonialistischer Passion nach Libyen gekommen sei, sondern aus dem rein sentimentalen Grund, Cristiana zu vergessen. Während diese in Rom allmählich begreift, dass sie mit Mario die einzige Liebe ihres Lebens verloren hat und Nachforschungen anzustellen beginnt, wohin es ihn verschlagen hat, startet Santelia eine Kriegsmission, die den Rebellen endgültig das Genick brechen soll. Für Mario wird das zu einer Bewährungsprobe auf Leben und Tod, als der Trupp von den Partisanen immer tiefer in die Wüste gelockt wird, der einheimische Führer schließlich die Orientierung verliert und die Wasserressourcen bald knapper nicht mehr sein könnten…

Bild

Am 3. Oktober 1935 erklärt das faschistische Italien unter Mussolini dem letzten unabhängigen afrikanischen Königreich Abessinien den Krieg und annektiert es endgültig am 9.Mai des Folgejahrs. Gemeinsam mit den bereits bestehenden Kolonien Eritrea und Italienisch-Somaliland bildet Abessinien, das heutige Äthiopien, von nun an das Kolonialgeflecht Italienisch-Ostafrika. Obwohl offiziell 1936 besiegt und dem Italienischen Reich einverleibt, enden die kriegerischen Handlungen in Abessinien zwischen Kolonisierten und Kolonisatoren niemals völlig. Gerade die weitreichenden Wüstenregionen dienen Rebellengruppen als Verstecke und Rückzugsgebiete, von denen aus sie den Kampf gegen die italienischen Besatzer planen und durchführen können. Die freilich völkerrechtswidrige Annexion Abessiniens sollte demnach eine kleine, aber an Toten reiche Episode innerhalb der Geschichte des Kolonialismus bleiben. Unfähig, das Land vollkommen unter seine Kontrolle zu bringen, verliert Italien es letztlich bereits 1941 wieder an britische und abessinische Truppen. Auch Libyen teilt mit Abessinien ein ähnliches Schicksal. 1934 offiziell zur Kolonie erklärt, siedelt man im Norden des Landes zahllose Italiener an, während man gleichzeitig mit Militärgewalt und äußerster Brutalität gegen die einheimischen Araber vorgeht. Nach knapp zehn Jahren der Besatzung müssen italienische und deutsche Truppen sich 1943 vor den Briten zurückziehen, und damit ihre letzte Afrikanische Kolonie aufgeben. Dass der Film LO SQUADRONE BIANCO von Augusto Genina aus dem Jahre 1936 ganz explizit auf diese Tendenzen der italienischen Außenpolitik Bezug nimmt, zeigen allein schon die beiden dem Vorspann vorangestellten Texttafeln. Zum einen hat der Film 1936 den Coppa Mussolini, Italiens höchsten, weil staatlich legitimierten Filmpreis gewonnen. Zum andern ist da die Widmung an all die tapferen Sahara-Truppen, mit denen der Herzog D’Aosta die Libyer unter dem siegreichen Banner Roms niedergerungen hat. Amadeus von Savoyen, der dritte Herzog von Aosta, war nicht nur Blutsverwandter König Viktor Emanuels II., sondern auch Gouverneur und Viezkönig von Italienisch-Ostafrika. Auch er stirbt gemeinsam mit den Träumen von einem italienischen Kolonialreich, das große Teile Afrika umfassen sollte, und zwar 1942 in einem Kriegsgefangenenlager der Engländer in Kenia.

Nach alldem dürfte es nicht verwundern, dass LO SQUADRONE BIANCO ein überaus idealisiertes Bild von Kolonialherrschaft, von Männertugenden wie Opferbereitschaft, Patriotismus und Freude am Kampf, von der glorreichen Zukunft zeichnet, die Italien noch unter Mussolini bevorstehen wird. LO SQUADRONE BIANCO ist ein reiner Regierungsfilm, gedacht dafür, sein Publikum für die koloniale Sache zu begeistern, und ihm außerdem mit Cristiana und Mario zwei Figuren vorzustellen, an deren Wandlung von Ich-bezogenen, gefühlsorientierten Menschen, die schon ziemlich viel Negatives abgekriegt haben vom degenerierten Großstadtleben mit seiner florierenden Unterhaltungsindustrie, seinen leichtfertigen Beziehungen und seinen Rauschmitteln, hin zu welchen, die aufopferungsvoll bereit sind, ihre eigenen Emotionen und Wünsche denen ihres Staates und ihres Volkes unterzuordnen, es sich ein Beispiel nehmen sollte. Unter der glühenden Wüstensonne Libyens erkennt Mario seine wahre Bestimmung, nämlich seinem Land zu dienen. Als Cristiana ihm am Ende ihrer Liebe versichert, kann sie ihn dadurch auch nicht zurück nach Rom holen. Mario hat im Soldatenleben seinen Lebenssinn gefunden, und alles andere erscheint ihm von nun an flüchtiger Tand. Von nun an wird er die Erinnerung an den verstorbenen Santelia wachhalten, indem er in dessen Fußstapfen noch das versteckteste Rebellennest aufhebt. Aber auch Cristiana begeht ein Opfer, und kehrt unglücklich verliebt zwar, aber geläutert in die Hauptstadt zurück, wo sie, wie der Film suggeriert, ab jetzt ein Leben fernab von Sektgläsern und Männerbekanntschaften führen wird. Wenn man so will, ist LO SQUADRONE BIANCO in seinem Kern eine Parabel darüber, wie man als an der Moderne krank gewordener Mensch zurück zur Gesundheit kommt, und dabei wie von selbst seine Aufgabe innerhalb eines autoritären Staatsgefüge einnimmt. Da ist nichts ironisch, nichts subversiv, nichts, das irgendwie aus der Reihe tanzt. Vollkommen ernsthaft, fast schon stur, folgt Geninas Film der Logik eines Dreischritts. Im Prolog, in der Großstadt noch, lernen wir Marios Dilemma kennen, seine Liebe zu Cristiana, die diese kein bisschen verdient. Im zweiten, längsten Teil wächst Mario nach und nach in sein Leben als Kolonialherr hinein, und entpuppt sich, als es im Kampf mit den arabischen Partisanen hart auf hart kommt, als wahrer Held. Im dritten Teil wechselt die Perspektive dann zu Cristiana, die inzwischen in Marios Stützpunkt angelangt ist, und auf Nachricht wartet, ob er die Gefechte lebend überstanden hat. Das hat er, doch ist jetzt er es, der ihre Liebe ausschlägt. Diese Logik ist so bestechend, dass es schwer fällt, ihr nicht in die Falle zu gehen. LO SQUADRONE BIANCO ist ein suggestiver Film, der einem kaum Platz für eigene Gedanken lässt. Es ist, als würde man selbst im Zimmer eines Anwerbers sitzen, der tausend Argumente auf Lager hat, wieso man sich unbedingt zur Fremdenlegion melden sollte – und bevor man sich versieht, hat man schon seine Unterschrift irgendwo hingesetzt.

LO SQUADRONE BIANCO könnte man damit abtun als ein interessantes zeitgeschichtliches Dokument, dessen pathetisch-plakative Handlung jedoch zu Recht dafür gesorgt hat, dass es in den Archiven der Filmhistorie verschwunden ist. Trotzdem – oder gerade deswegen? – haben mich, fernab der wenig komplexen Handlung mit ihren eindimensionalen Charakteren, einige Dinge an vorliegendem Film doch berührt, überrascht und nachdenklich gemacht. Ich zähle im Folgenden die drei für mich bemerkenswertesten Szenen auf, die sich allesamt in der ersten halben Stunde des Films finden lassen. Es sind:

Bild

1. Nachdem wir Mario und sein gebrochenes Herz haben kennenlernen dürfen, wechselt die Handlung von LO SQUADRONE BIANCO in die Sahara, wo der Film übrigens an Originalschauplätzen entstanden ist. Die erste Figur, die uns dort begegnet, ist einen Kapitän namens Donati, der sich, scheint es, gerade auf Inspektionstour durchs Lager befindet. Die Kamera fährt schräg vor ihm her, während Donati, begleitet von einem schwarzen Diener, tüchtig zwischen den Beduinen entlangschreitet. Schon rein optisch fällt der Offizier aus dem ihn umgebenden Menschenpanorama heraus. Er trägt Anzug, Hut und Spazierstock, während die seinen Weg säumenden Menschen in Kaftane eingehüllt sind oder, wie sein Diener, in Stoffe, deren Schnitt zwar angelehnt ist an die europäische Mode, trotzdem aber noch exotisch genug wirken, ihre Herkunft nicht verleugnen zu können. Die Beduinen sind mit Arbeiten beschäftigen. Neue Straßen sollen entstehen, erfahren wir später, um den Militärposten noch besser mit den umliegenden italienischen Siedlungen zu verbinden. In der Nähe eines Zeltes und einer Gruppe Kamele bleibt Donati stehen, wischt sich Schweiß aus dem Nacken und erklärt seinem Diener, er habe Durst. Sofort setzt dieser Satz eine ganze Kettenreaktion in Gang. Sein Diener ruft zum Zelt hinüber, man solle dem Herrn Wasser bringen, worauf dort zwei Eheleute aufschrecken wie von einem Skorpion gestochen. Da die Frau es nicht schnell genug fertigbringt, ist es ihr Mann, der mit einer Flasche voller frischem Brunnenwasser zu Donati und Diener herübereilt. Der Arzt nimmt das als selbstverständlich hin, und knüpft trinkend ein Gespräch mit dem Wasserboten an. Auch hier geht es um Kleidung. Er fragt ihn, wer ihn denn so angezogen habe, sein Anzug, der ebenfalls versucht, betont europäisch zu wirken, stehe ihm nicht schlecht. Sein Gegenüber bietet ihm an, doch einmal den Stoff zu fühlen, und erzählt wie teuer er gewesen sei, ganze zwei Lire habe er dafür bezahlt, und nun sei er so gut wie bankrott. Donati fragt ihn, ob er ihm nicht auch so einen Anzug besorgen könne. Sicher, erwidert der Mann, doch der würde dann fünf Lire kosten. Für zweieinhalb Lire würde er ihn kaufen, beginnt der Offizier darauf das Feilschen, das der Libyer indes schnell unterbricht: Er werde ihm die andern zweieinhalb Lire aus der eigenen Kasse hinzugeben, sodass er den Anzug als Geschenk von ihm betrachten könne. Als Lohn dafür erhält er von Donati eine Zigarette sowie eine Schachtel Streichhölzer geschenkt. Obwohl dieses locker-flockige Gespräch innerhalb von LO SQUADRONE BIANCO eigentlich nur dazu dient, das Publikum in den Haupthandlungsort des Films einzuführen und die Figur Donatis vorzustellen, die im weiteren Verlauf hauptsächlich dazu da ist, für den einen oder andern komischen Moment zu sorgen, hat Genina, ob nun bewusst oder nicht, mit der Szene ziemlich genau abgebildet wie man sich das Verhältnis zwischen italienischen Kolonialherren und der indigenen Bevölkerung Nordafrikas zur damaligen Zeit vorstellen muss. Klar ist, dass Donati als Vertreter Italiens in seiner absoluten Autorität zu keinem Zeitpunkt eingeschränkt wird. Weder die Einheimischen innerhalb der Handlung noch der Film selbst tastet die rechtmäßige Herrenmentalität des Mannes an. Stattdessen folgt ihm die Kamera wie einem König, der sein Reich abschreitet. Stattdessen wird seine Forderung nach Wasser wie der Befehl eines Herrschers inszeniert, dem sofort Folge zu leisten ist. Stattdessen wird er im Gespräch mit dem bezeichnenderweise namenlosen afrikanischen Arbeiter innerhalb des Bildkaders so vor diesem platziert, dass er konsequent auf ihn herabzuschauen scheint. Auch der Inhalt des Gesprächs ist unter diesen Gesichtspunkten interessant. Im Grunde unterhalten sich Donati und der Afrikaner nämlich über nichts weiter als materielle und ökonomische Belange, und das ausnahmslos in ziemlich durchschaubaren Floskeln. Der Offizier lobt die Kleidung des Afrikaners, worauf dieser sofort auf die finanzielle Schiene ausschert, und sein gesamtes rhetorisches Geschick dazu nutzt, seinem Gegenüber irgendwelche Güter oder Geld aus den Rippen zu leiern. Nicht nur, dass er ihm zweieinhalb Lire für einen Stoff abschwatzt, den er selbst für zwei bekommen hat, am Ende geht er auch mit einer Zigarette und Streichhölzern in den Taschen aus dem Gespräch hervor. Die indigene Bevölkerung Libyens, erklärt uns der Film, ist eine große Masse, wenn schon nicht von Sklaven, dann zumindest Untergebener, die man leicht unter Kontrolle halten kann, wenn man nur ihre Konsumgier befriedigt. Der Arzt weiß genau, wie er sich die Loyalität des Mannes sichern kann, nämlich indem er ihm Komplimente und Geschenke macht. Dabei tritt er ihm freilich mehr wie einem unbedarften Kind als einem gleichberechtigten Erwachsenen auf Augenhöhe gegenüber. Ein normaler Kinogänger des Jahres 1936 wird sich darüber wohl kaum den Kopf zerbrochen haben, und möglicherweise auch keinen Anstoß daran genommen haben, dass LO SQUADRONE BIANCO – wie übrigens so ziemlich jeder zeitgenössische Afrikafilm, sei er nun aus dem Deutschen Reich, aus Hollywood oder Frankreich – zu Protagonisten einzig und allein europäische Figuren wählt, während die Einheimischen eine dumpfe, stumme, austauschbare Masse ergeben, die man nur dann beachtet, wenn sie sich auflehnen oder wenn man sie für Feldzüge benötigt. Tatsächlich ist die einzige arabische Figur in LO SQUADRONE BIANCO, die einen eigenen Namen und so etwas wie eine eigene Persönlichkeit zugestanden bekommt, der Beduine El Fennek, in dem letztlich aber auch bloß ein Klischee reproduziert wird, nämlich das des treuen, anhänglichen, umsorgenden Dieners, der Mario schließlich das Leben rettet - wobei anzumerken ist, dass El Fennek nicht etwa von einem Araber, sondern von einem als Araber verkleideten Italiener gespielt wird. Die indigene Bevölkerung Libyens hat keine Stimme und somit keine Sprache in vorliegendem Film, und wird als eine absolute Alterität begriffen, die LO SQUADRONE BIANCO auch soundtechnisch untermalt: Die teilweise schrecklich dick auftragende Orchestermusik – darunter Vivaldis Largo – wird in schöner Regelmäßigkeit kontrastiert mit lokaler Wüstenfolklore, die für die Ohren eines Zeitgenossen wohl noch tausendmal fremdartiger geklungen haben mag als für unsere globalisierten und kosmopolitischen.

Bild

2. Ein kleines Meisterstück faschistischen Filmschaffens kann man kurz darauf bewundern. Bettini, Marios Vorgänger, ist im Kampf gegen die Rebellen gefallen. Ihm zu Ehren hält Santelia eine ergreifende Rede vor stumm und stramm stehenden Einheimischen, die der italienischen Armee als Kanonenfutter im Krieg gegen ihre eigenen Landsleute dienen. Das, was Santelia über seinen toten Freund und Schlachtgefährten zu erzählen weiß, kann an hohlen Phrasen kaum noch überboten werden, und lässt sich auf die simple Formel bringen, dass mit Bettini ein Held von uns gegangen ist, dem es nachzueifern gilt. Wundervoll ist die Kameraarbeit in dieser Szene. Vor minimalistischer Palmenkulisse wirken die bis auf die Augen in ihre Kaftane eingemummelten Beduinen, die dadurch allesamt gleich aussehen, wie leblose Puppen, in die erst Bewegung kommen wird, wenn irgendein Apell ertönt. Im Gegensatz zu diesem zur Regungslosigkeit konditioniertem Menschenmaterial befindet sich aber die Kamera in einer gleitenden Bewegung, indem sie einmal die gesamte Reihe Krieger entlangfährt, und dann, bei Santelia und seinem Übersetzer angekommen - denn, natürlich, er selbst spricht kein Arabisch und die Araber kein Italienisch -, sich einmal um hundertachtzig Grad dreht, und ihre Fahrt mit Blick in die Richtung beendet, aus der sie gekommen ist. Santelia tritt einen Schritt nach vorne, und einen Schnitt später sehen wir ihn aus einer fast schon übertriebenen Froschperspektive. Von der Hüfte ab aufwärts füllt er den Bildrahmen, wobei seine aufrechte, mann- und wehrhafte Gestalt noch zusätzlich von einer direkt hinter ihm in die Höhe wachsenden Palme akzentuiert wird. Links und rechts sind, Ornamente bloß, zwei Soldaten zu sehen, starr wie Statuen. Während Santelia in dieser Pose davon spricht, dass der Tod auf dem Schlachtfeld der schönste Tod für jeden sei, der das Herz eines Kriegers in seiner Brust schlagen habe, ist der Gedanke an Benito Mussolini nicht weit. Santelia wirkt wie dessen Miniaturabziehbild, so sehr durchdrungen vom faschistischen Geist, dass es beinahe den Bildrahmen sprengt. Die Kamera fährt indes weiter fort, ist förmlich fasziniert von den Massen an Kriegern, die bereit sein werden, ihr Blut für das des toten Bettini zu vergießen. Sicherlich ist diese Szene alles andere als ironisch intendiert. Santelias Appell an seine Gefolgsleute fungiert zugleich auch als ein Aufruf an das Kinopublikum, wenn schon nicht sein eigenes Leben für den Staat zu opfern, so doch zumindest ein bisschen mehr nach den Prämissen zu leben, die der Kapitän als männliche Tugenden aufführt. Was aber ist von der beängstigenden Schweigsamkeit der arabischen Krieger zu halten? Militärisch gedrillt zucken sie mit keiner Wimper, schultern ihre Gewehre erst, als Santelia es ihnen erlaubt. Sie sind nichts weiter als Auffangbecken für die heroischen Worte ihres Anführers. Auch im weiteren Verlauf des Films werden diese Araber stumm ihre vermeintliche Pflicht tun, das heißt: töten und sterben, in dieser Reihenfolge – genau wie es ihre Herren von ihnen verlangen. Etwas Beunruhigendes kommt mit dieser Szene zum Ausdruck: Die Disziplin im Lager Santelias ist vor allem eine, die an der Entmenschlichung der in ihm lebenden Individuen wirkt. Genau das ist die Lehre, die Mario später für sich ziehen wird: Wenn er sein eigenes Ich aufgibt und einfach nur noch stur Befehlen folgt und kämpft, tötet und stirbt wie Bettini und Santelia vor ihm, dann wird er selbst aufgehen in einer Kriegsornamentik, bei der sein eigenes Subjekt nichts mehr zählt, dafür die Ideale, für die er kämpft, tötet und stirbt, alles. In diesen eineinhalb Minuten hat Genina eine essentielle Wahrheit des Faschismus möglicherweise besser, sprich: prägnanter, pointierter, zum Ausdruck gebracht als es jede seitenlange wissenschaftliche Studie tun könnte.

Bild

3. Aber ich möchte mit etwas Versöhnlichem enden, einem Moment in LO SQUADRONE BIANCO, in dem die Montage für etwa eine Minute komplett verrückt spielt. Was ist geschehen? Santelia möchte den Tod seines geliebten Bettini rächen. Hierfür soll den Rebellen endgültig das Handwerk gelegt werden. Gemeinsam mit Mario und seinen Beduinen will er in die Wüste ziehen, um seine Feinde im Gefecht zu stellen und zu vernichten. Hierfür lässt er die Einheimischen das Kriegsbeil ausgraben, sprich: die Beduinen machen sich auf, ihren Stammesgenossen den anstehenden Kriegszug zu verkünden. Eine allgemeine Mobilisierung ergreift die Wüste – und das visualisiert Genina auf sensationelle Weise. Wir sehen, zu arabischer Musik, wie die Kamera seitlich einem Araber auf seinem galoppierenden Kamel folgt. Bei ihm handelt es sich um den Überbringen der Botschaft Santelias. Dazwischen Aufnahmen von weidenden Kamelen, manche aus weiter Distanz, manche in Großaufnahme direkt vor ihren kauenden Mäulern. Bald aber ist es mit dem Müßiggang vorbei: Unser Reiter erreicht eine Oase, brüllt auf Arabisch und sofort sind die übrigen Beduinen auf den Beinen, um ihrerseits die Kamele zu satteln und zuzusehen so schnell wie möglich zu Santelia zu gelangen. Immer rasanter werden die Schnitte, während die Männer ihre Kamele aufscheuchen. Erneut ist der Film fasziniert von den sich in Bewegung setzenden Massen. Mensch und Tier verschwimmen mit- und ineinander, wenn in hohem Tempo verschiedene Aufnahmen der loslaufenden Kamele und Beduinen aneinandergereiht werden. Genina filmt durch Kamelbeine hindurch, lässt sich einen Strom der Tiere von links ins Bild ergießen, um einen Schnitt später sie von der rechten Seite kommen zu lassen, man verliert den Überblick, befindet sich mal mitten im Geschehen, betrachtet es dann aus der Ferne, wobei die Kamele direkt auf die Handkamera zulaufen, und die Tonspur ist erfüllt vom Schreien der Araber und dem Grunzen der Reittiere. Die vielleicht schönste Aufnahme in LO SQUADRONE BIANCO: Wir sehen die Kamele im wilden Laufen, überstrahlt von einem nahezu impressionistischen Licht, das den Tieren ihre Konturen nimmt, und die Szene mit einem traumhaften Gleißen überzieht. Für einen kurzen Moment ist Krieg, Kampf und Tod vergessen, und da sind einfach nur ein paar Kamele im Galopp, die der untergehenden Sonne entgegenziehen.
Benutzeravatar
Salvatore Baccaro
Beiträge: 3069
Registriert: Fr 24. Sep 2010, 20:10

Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Bild

Originaltitel: SS Lager 5: L'inferno delle donne
Produktionsland: Italien 1977
Regie: Sergio Garrone
Darsteller: Paola Corazzi, Rita Manna, Giorgio Cerioni, Serafino Profumo, Attilio Dottesio, Patrizia Melega, Paola D'Egidio, Vincenzo Amici, Paola Lelio, Mariella Furgiuele

Selbst der eifrigste Befürworter von splatter und gore movies wird bei zwei - ich nenne es mal wertneutral - "Eigenarten" des transgressiven Kinos italienischer Prägung schnell an seine (moralischen) Grenzen geraten, ganz gleich, ob er sie nun überschreitet oder akzeptiert: bei den sogenannten Tiersnuff-Szenen in italienischen Kannibalenfilmen und beim sogenannten Naziploitation- oder auch "Lagerfilm", der seine Anfänge in der Form zwar nicht in Italien nahm (ein Film wie Viscontis LA CADUTA DEGLI DEI mag thematisch ähnlich gelagert sein, trotzdem trennen ihn natürlich ästhetische und formale Welten von Werken wie dem vorliegenden), sondern vereinzelt zunächst in US-Amerika (LOVE CAMP 7, vor dem ich jeden nur warnen kann: die unästhetischsten Softsexszenen der Filmgeschichte sollte sich niemand freiwillig antun!) oder Kanada (die allseits beliebte ILSA) auftrat, bevor sich dann aber die italienische Filmindustrie in einer Art und Weise auf diese Spielart des Exploitation-Kinos stürzte, dass man im Grunde fast schon von einem Ausschlachten ohne Sinn und Verstand sprechen kann. SS CAMP 5 ist hierbei schon ein späterer Vertreter, und zudem ein Paradebeispiel. Regisseur Garrone fällt nämlich nichts Besseres ein als sämtliche Genreregeln völlig ungebrochen und unreflektiert aneinanderzureihen, sozusagen die Quintessenz des Genres in neunzig Minuten runterzubeten, und wirklich kein Klischee auszulassen. SS CAMP 5 hat bis ins Detail alles, was Naziploitation-Fans sich von einem Film diesen Namens erhoffen (und noch mehr!), und lässt im Gegenzug nichts aus, was moralisch nicht verwirrte Menschen an den Spektakeln abstoßen dürfte.

Die Produktionsgeschichte lässt einen schon mal fassungslos zurück. Ganz im Sinne der Ökonomie eines Mattei oder Lenzi bringt Garrone innerhalb von sieben Wochen nicht nur einen, sondern gleich zwei Filme in den Kasten. SS EXPERIMENT LOVE CAMP und SS CAMP 5 entstehen parallel, mit den gleichen Schauspielern, die zumeist sogar die gleichen Figuren verkörpern, deren Namen von Film zu Film nicht variieren, den gleichen armseligen Kulissen, der gleichen Stoßrichtung: im Grunde hat Garrone, wenn man so will, ein und denselben Film gleich zweimal auf die Menschheit losgelassen, im Fall von SS CAMP 5 nur purer, schnörkelloser, während er SS EXPERIMENT LOVE CAMP noch mit einem schlicht unglaublichen Kastrations-Plot versah. Gekostet haben können beide Werke nicht viel. Es würde mich wundern, wenn mehr als fünfzig Lire in die Produktion von SS CAMP 5 investiert worden sind. Die Darsteller sind nicht nur die zweite, dritte oder vierte Riege des italienischen Genrekinos, sondern durch die Bank weg Gesichter, die man eigentlich, falls überhaupt, nur aus den Bodensätzen der Filmgeschichte kennt (ausgenommen mal Leda Simonelli, von deren ausdrucksstarkem Gesicht ich bis heute nicht sagen kann, ob ich es nun schön oder hässlich finden soll, und die es immerhin in Cavallones Meisterwerk BLUE MOVIE schaffte, der aus seinem Mangel, d.h. seinem nicht vorhandenen Budget, immerhin eine Tugend machte, und auch in dem kürzlich von mir besprochenen SÜSSEN LEBEN DER NONNE VON MONZA eine gar nicht schlechte Figur abgibt), die Musik beschränkt sich zum größten Teil auf Synthie-Orgel-Gedudel, das irgendwann nur noch nervt, die Kulissen sind ein (schlechter) Witz: für ein Wissenschaftliches Labor musste offensichtlich ein Treibhaus herhalten, in das man ein paar Tische, Bahren und Reagenzgläser aus dem Chemie-Unterricht räumte, ansonsten spielt sich der Film im Schlafraum der Lager-Insassen ab, der naturgemäß karg und leer aussieht, und ein paar opulenter eingerichteten Vergnügungszimmern der Lagerleitung, opulent im Sinne von "sie sind immerhin möbiliert" wohlgemerkt. Ein Drehbuch kann nicht existiert haben. Jede einzelne Idee des Films, ich betone das noch einmal, konnte man auch 1976 längst als Genrestandard bezeichnen. Offenbar wird dadurch nur einmal mehr, dass der sog. Naziploitation-Film, rein was seine Kreativität betrifft, so gut wie nichts Eigenes in den filmgeschichtlichen Topf warf. Konkret am Beispiel von SS CAMP 5 heißt das: zöge man den Nazi-Schergen ihre Uniformen aus, hinge man die Hakenkreuz-Fahnen von den Wänden und kürzte man ein, zwei Erwähnungen des Dritten Reichs in den Dialogen, wäre das ein völlig austauschbarer Frauenknastfilm oder wahlweise auch ein Folterfilm, für dessen äußere Kulisse jedes beliebige reale oder fiktive Terrorregime herhalten könnte. So grausig sich die Lagerfilme Italiens an der Oberfläche gebärden, so zahm sind sie bei näherer Betrachtung, und kuschen vor dem letzten Schritt, der die Tabu-Überschreitung vollenden würde. Ein Wort wie Jude fällt im ganzen Film nicht. Auch dafür ist SS CAMP 5 sympthomatisch: die inhaftierten Damen sind, falls es überhaupt erwähnt wird, aus politischen Gründen ins KZ gekommen, die nationalsozialistische Ideologie findet hauptsächlich in leeren Phrasen statt, die nicht ansatzweise an ihrem Kern kratzen, und wird der Führer namentlich erwähnt, ist das sowieso nichts weiter als eine Floskel, die genauso aufgesetzt wirkt wie die plakativ in den Hintergründen angebrachten Gebäudebezeichnungen in fehlerhaftem Deutsch. Permanent scheint das Genre darauf hinweisen zu wollen, dass das, was wir hier sehen, nicht die Wirklichkeit ist, eher eine comichafte Verzerrung und Übersteigerung, die die Schrecken der Geschichte einzig als Sprungbrett nutzt, um seinen Zusehern einen besonderen Kick zu verschaffen.

Italienische Lagerfilme haben etwas Rituelles. Sie beginnen mit der Internierung der Gefangenen, die mit Lastwagen vor das jeweilige KZ gefahren und dann einer mehr oder weniger entwürdigenden Aufnahmezeremonie unterzogen werden. Sie enden mit der Befreiung, zumeist durch alliierte Truppen. Dass diese Filme es gar nicht so ernst meinen wie man glauben mag, zeigt sich allein daran, dass die Erlösung stets um die nächste Ecke wartet. Sie sind fast ausschließlich in den letzten Tagen des Reichs angesiedelt, fünf Minuten vor seinem Niedergang, ganz anders als Pasolinis SALO, der aus diesem Umstand ja eher eine Zuspitzung ableitet als seinem Publikum die Möglichkeit zu geben, in den letzten Filmminuten erleichtert aufatmen zu können, weil die Gerechtigkeit jetzt doch siegt und man sicher sein kann: die unmenschlichen Verbrechen, denen man neunzig Minuten beiwohnen musste, werden jetzt endlich gesühnt werden. Was Garrone sonst noch in die Waagschale wirft, birgt keine Überraschungen: eine lesbische Aufseherin kann die Finger nicht von den Gefangenen lassen, die nahezu ausnahmslos aussehen wie Playboy-Models - es gibt eine kurze Kampfszene unter der Frauendusche - unsre Heldin Alina ist Jamaikanerin, die sich aktiv in der Resistance beteiligte, und sich ihren Freiheitswillen selbst im KZ nicht nehmen lässt, indem sie eine Beziehung mit dem Lagerkommandanten eingeht, ihn geschickt um den Finger wickelt, um sich ein besseres Leben hinter Gittern zu ermöglichen - zudem verfügt das Lager Nummer 5 über ein hauseigenes Bordell (Garrone verwischt hier die Grenzen, die das Naziploitation-Genre gemeinhin in zwei Abteilungen spalten: einerseits die reinen Lagerfilme, andererseits die von Tinto Brass' SALO KITTY inspirierten harmloseren Nazibordellfilme), in dem ranghohe Offiziere sich völlig entgegen der historischen Wirklichkeit mit den internierten Damen vergnügen (allein dass der Kommandant eine rassische Schönheit wie Alina in sein Bett lässt, ist im Kontext der NS-Zeit schon ein starkes Stück) - bei den Softsexszenen, die nie wirklich explizit, teilweise aber aufgrund der wenig erbaulichen Mannsbilder ordentlich unästhetisch werden, lassen die Kerle freilich IMMER ihre Hosen an, während die Frauen in der Regel ihre Semi-Vergewaltigungen bzw. Hurentätigkeiten sogar zu genießen scheinen und sich mit vollem Körpereinsatz und Lustschreien in die Sexorgien begeben - auch im Lager anzutreffen: ein gewisser Dr. Abraham mit seiner Tochter, seines Zeichens politischer Feind (selbst hier vermeidet man das J-Wort!), der von den Nazis gezwungen wird, als Koryphäe der Wissenschaft an deren garstigen Experimenten mitzuwirken - in SS CAMP 5 wird nach einer wundersamen Brandsalbe geforscht, was wie folgt aussieht: einem Mädchen wird bei vollem Bewusstsein ihr Bein angezündet, worauf man die Salbe aufträgt, um zu prüfen, wie schnell die Brandwunden mit ihrer Hilfe verheilen (dass, wie man im Dialog erfährt, bereits über 1000 Gefangene dabei ihr Leben ließen, spricht nicht unbedingt für die Qualität der Wissenschaftler).

SS CAMP 5, man merkt es schon, hat viel von einem Flickenteppich. Die nominelle Heldin Alina ist blass trotz ihrer jamaikanischen Bräune und trägt im Grunde immer den gleichen Gesichtsausdruck zur Schau. Spannung will nie recht aufkommen, optische Schauwerte finden sich keine, dafür wird viel unsinniges Zeug gefaselt und sich in langwierigen Softsex-Eskapaden verloren. Über weite Strecke ist SS CAMP 5 sterbenslangweilig, von der technischen Seite einfach nicht besonders gut inszeniert, mit vielen ziellosen Zooms und keinem Gefühl für Timing. Trashig wird es auch nur selten, und selbst dann nicht richtig. Wenn Alina dem Lagerkommandanten ein Tänzchen vorführt, das ihn stimulieren soll, was bedeutet, dass sie nackt vor ihm die Hüften schwingt, und als Penis-Ersatz nur eine Banane um ihren Unterleib gebunden hat, ist das mehr verwirrend als erheiternd.

Jedoch was seinen Gewaltpegel betrifft, kann der Film mit Fug und Recht behaupten, dass er einige der grausigsten Folterszenen des gesamten Genres in sich führt. Vielleicht geht es auch nur mir persönlich so, doch die fünf bis zehn Minuten, in denen ein Offizier namens Hans die Mitwisser eines Ausbruchversuchs herausfinden möchte, empfand ich dann doch als wirklich übel. Ein paar Mädchen versetzten die Drinks der Beteiligten einer der zahllosen Sexorgien mit Schlafmittel und unternahmen dann den Versuch, über die Brennöfen des Lagers in die Freiheit zu gelangen. Leider werden sie im letzten Moment von besagtem Hans ertappt und bei lebendigem Leibe geröstet, was tricktechnisch recht naiv umgesetzt wurde, im Kontext aber einfach nur geschmacklos wirkt. Da Hans sicher ist, eine der übrigen Gefangenen müsse den Fliehenden das Schlafmittel besorgt haben, lässt er wahllos ein paar Mädchen in den Folterkeller des KZs bringen, darunter auch die tatsächlich an der Tat Beteiligte, die sich weigert, Namen zu nennen oder ihre Komplizenschaft zuzugeben, worauf man ihre Zunge zu lockern versucht, indem man ihre Freundinnen vor ihren Augen zu Tode foltert, und das auf erdenklich krasseste Weise. Klar, alle Effekte sind durchschaubar, auch wird nichts dargeboten, was man nicht auch sonst schon kennen würde, dennoch verfehlt die Szene ihre Wirkung nicht, wenn da Fingernägel ausgerissen, Bäuche zerfetzt und Köpfe zerquetscht werden, das alles ausgeführt von dem eher unbekannten Darsteller Serafino Profumo, der in seiner Rolle als glatzköpfiger Herrenmensch wirklich alles gibt, die irrsten Blicke der Filmgeschichte um sich wirft und sich in einer Weise an den Qualen seiner Opfer ergötzt, die es einem kalt den Rücken runterlaufen lässt. Für ein paar Minuten vergisst man, dass das alles nur ein Film ist, und die Foltereien wirken unmittelbar auf einen ein, erreichen einen physisch, lassen zumindest eine Ahnung dessen zu, was der Film sonst nur andeutet oder unausgesprochen lässt.

Danach wird schnell aber wieder die Comichaftigkeit der Welt, in der Garrone sein SS CAMP 5 ansiedelt, deutlich. Dr. Abrahams Tochter wurde von Hans vergewaltigt und geschwängert. Ein Nazi-Arzt soll eine Abtreibung bei ihr durchführen, auf ihren Wunsch hin, ohne dass ihr Vater was davon merkt. Garrone scheint ernsthaft zu glauben, dass bei Abtreibungen nichts weiter vonnöten ist als ein Glasdildo (!) und ein Skalpell. Die junge Frau wird nicht mal betäubt. Dafür der Arzt, als Dr. Abraham ins Labor stümt und meint, der Unhold vergreife sich an seinem Töchterchen, worauf er ihn in Richtung einer offen vor sich hinzischelnden Stromquelle (!?) stößt und der Schauspieler des Arzts einen der lächerlichsten Todeskämpfe aufführt, die ich je gesehen habe. Wenn im Finale die KZ-Insassinnen dann an Maschinengewehre kommen und die Revolte starten, das Ganze sich unvermittelt, da schimmert Garrones Italo-Western-Vergangenheit durch, in ein Schießorgie verwandelt, verwunde(r)t selbst das nicht mehr.

Eine Sache gibt es indes, die SS CAMP 5, neben seiner exploitativen Verwendung reellen Ungemachs zu kommerziellen Zwecken, für die meisten Menschen von Anfang an disqualifizeren dürfte. Schon den Vorspann unterlegt Garrone mit Originalphotos des Zweiten Weltkriegs. Ausgemergelte Leiber, die in Stacheldraht hängen, Leichenberge, halbtote Gestalten auf Pritschen. Auch später, wenn Hans einen Monolog darüber hält, dass man die Inhaftierten bis zuletzt ökonomisch ausschöpfen könne, selbst aus ihrer Asche sei noch Profit zu schlagen, schneidet Garrone Dokumentaraufnahmen aus echten Konzentrationslagern in seinen Spielfilm hinein. Von dieser Vorgehensweise mag man halten, was man will, die Position beziehen, dass er den Schrecken immerhin nicht verharmlose, sondern offensiv aufzeige, oder kategorisch verneinen, dass es irgendeine Rechtfertigung dafür gäbe, solche Mondo-Szenen in einen zur Unterhaltung gedachten Folterfilm einfließen zu lassen, sicher ist, dass Garrone die Realität seinem Film, unbewusst oder bewusst, hiermit mit dem Holzhammer einprügelt. Die folgenden Ereignisse mögen noch so überspitzt sein, die Charaktere noch so schablonenhaft, die Geschichte noch so realitätsfern, dadurch, dass er SS CAMP 5 von der ersten Sekunde an unmißverständlich mit dem eigentlich Unsagbaren und Unvorstellbaren markiert, erhält der gesamte Film einen mehr als bitteren Beigeschmack, der für mich persönlich nicht unbedingt aus dem Vorhandensein von Aufnahmen reellen Leids, reellen Sterbens in einem fiktionalen Film entsteht, (im oben schon erwähnten BLUE MOVIE, finde ich, hat das alles beispielweise durchaus eine Legitimation) sondern vielmehr aus der Unvereinbarkeit der Wirklichkeit mit dem, was Garrone uns im Folgenden auftischt. Allein dass seine Heldinnen durch die Bank weg aufreizende Schönheiten sind, die ihre Brüste selbst in Folterszenen unbedeckt lassen, sodass jede Gewalttätigkeit ständig auch noch eine sexuelle Konnotation erhält, widerspricht ganz klar den halbtoten, ausgehungerten, geschlechtslosen Menschen, die einen während des Vorspanns aus leeren Augenhöhlen anblicken.

Interessant ist hierbei noch das Interview mit Garrone, das sich auf der amerikanischen DVD finden lässt. Schon verrückt, dass man einen italienischen Trash-Regisseur, der seinen letzten Film Anfang der 80er verbrach, nach drei Jahrzehnten noch einmal vor die Kamera zerrt, und der sich auch noch als völlig irrer Typ entpuppt, der unter einer leichten Realitätsverschiebung zu leiden scheint. Zwei Funktionen unterstellt der gute Mann seinen Lagerfilmen:
1. eine kompensatorische
2. eine didaktische.
Das erste Argument ist schon seit der griechischen Antike (natürlich nicht in Bezug auf Lagerfilme) bekannt, das zweite führt Garrone wie folgt aus: die Menschen seien eben faul und schauen sich keine Dokumentationen an, lesen keine Bücher über den Holocaust und den Krieg, weshalb man diese Themen eben in Spielfilmen verpacken müsse, zumal solche Produktionen ja durchaus als Mahnmale fungieren, die an die Leiden der Opfer erinnern und dafür sorgen, sie im kollektiven Gedächtnis zu behalten.
Okay. Diese Worte aus dem Mund eines Spielbergs wären schon eine Diskussion wert (nämlich die, ob denn ein Hollywood-Film wie SCHINDLER'S LIST der Thematik nun wirklich angemessen ist oder nicht), das alles aus dem Mund eines Mannes zu hören, der sich in SS CAMP 5 in widerwärtigen Gewaltszenen, schmierigen Sexszenen und schlicht lächerlichen Storyentwicklungen suhlt, dazu fehlen mir die Worte.

So leid es mir tut, SS CAMP 5 kann ich wirklich niemandem empfehlen. Hier ist nichts schockierend, eher ärgerlich, vor allem aber unendlich öde und uninspiriert. Da hat selbst SS EXPERIMENT LOVE CAMP mit seiner haarsträubenden Hodentransplantation noch mehr Klasse - und das will etwas heißen.
Benutzeravatar
Salvatore Baccaro
Beiträge: 3069
Registriert: Fr 24. Sep 2010, 20:10

Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Bild

Originaltitel: Lager SSadis Kastrat Kommandatur
Produktionsland: Italien 1976
Regie: Sergio Garrone
Darsteller: Mircha Carven, Paola Corazzi, Giorgio Cerioni, Giovanna Mainardi, Serafino Profumo, Attilio Dottesio, Patrizia Melega, Almina De Sanzio, Matilde Dall'Aglio, Agnes Kalpagos

LAGER SSADIS KASTRAT KOMMANDATUR. Neben PORNO HOLOCAUST ist das wohl eine der unglaublichsten Wortschöpfungen des italienischen Genrekinos. Es ist schon erstaunlich, mit welch enthusiastischen Worten Regisseur Garrone im Bonusmaterial der US-DVD seinen vielleicht bekanntesten Film bewertet. Ernsthaft rechnete ich schon damit, dass der gute Mann, der sicherlich an sich kein schlechter Mensch ist und wirklich glaubt, was er da erzählt, gleich in Tränen ausbricht, als er davon anfängt, was für eine besondere Erfahrung es gewesen sei, das vorliegende Werk zusammen mit SS CAMP 5 back-to-back zu inszenieren, und plötzlich in endlose Tiraden darüber ausbricht, dass man die Veteranen des Zweiten Weltkriegs endlich mit der Ehrerbietung behandeln solle, die sie verdienen, immerhin haben sie für ihr Land und ihre Familien gekämpft, und seien im Grunde für eine gute Sache gestorben. Einige Anmerkungen zielen auf die Situation des italienischen Kinos der 70er ab. Laut Garrone befand Italien sich damals an der Spitze der Filmproduktion. Selbst Hollywood habe im Vergleich alt ausgesehen. Das Problem sei nur gewesen, dass die Quantität die Qualität oftmals überstieg. Garrone ist sich sicher: hätten die Produzenten damals mehr Wert darauf gelegt, dass wenigere, dafür wertvollere Filme entstanden wären, und sich nicht mit Dollarzeichen in den Augen einer Fließbandproduktion verschrieben, bei der es oftmals zweitrangig war, ob das, was man da so eifrig unters Volk jubelte, irgendeinen gesteigerten Wert besaß, hätte das italienische Kino nie eine Krise erlebt. Bei dieser Bemerkung ist Garrone so wenig selbstreflexiv wie man nur sein kann. Seine eigenen Filme nimmt er stillschweigend aus dieser Problematik aus. Die haben ja außerdem sowieso einen moralischen Anspruch gehabt, nämlich das gemeine Volk, das zu faul sei, sich auf seriösem Wege Informationen über vergangene Gräuel zu beschaffen, darüber aufzuklären, wie schrecklich die Zeit des Nationalsozialismus gewesen sei.

Im Grunde könnte ich hier fast genau das Gleiche schreiben, was ich in meinem Kurzkommentar zu SS CAMP 5 skizzierte, immerhin sind beide Filme parallel entstanden, teilen sich nahezu sämtliche Schauspieler, wurden in den selben armseligen Kulissen gedreht, erzählen sogar ähnliche Geschichten (ich weiß nicht, ob Garrone gar so weit ging, gleiche Szenen in beiden Werken zu verwenden, doch vor allem jene, in denen kühl-nüchterne Hilfskräfte verunstaltete Leichen durch düstere Gänge abtransportieren, und die relativ offensichtlich von Eli Roth in dessen HOSTEL 2 zitiert werden, kamen mir in beiden Filmen SEHR ähnlich vor) - na gut, was heißt schon "Geschichten": besonders narrativ ausgefeilt und eine Story im eigentlichen Sinne ist es nicht unbedingt, wenn Garrone auch hier ein Genremuster nach dem andern abspult, von der Ankunft unschuldiger politischer Feindinnen des Reichs, die allesamt über Busen verfügen, die es wert sind, in die Kamera gehalten zu werden, über mehr oder minder schockierende Folterungen bis zum großen Finale, in dem ohne Mündungsfeuer herumgeballert werden darf, erwarten den Kenner (fast) keine Überraschungen. Dass ich SS EXPERIMENT LOVE CAMP allerdings insgesamt weitaus erträglicher als SS CAMP 5 finde, liegt schlicht daran, dass der Film an keiner Stelle dezidiert auf die Wirklichkeit der Kriegsschrecken verweist, im Klartext: die Mondo-Aufnahmen spart Garrone sich (der in dem launigen Interview berichtet, wie er in irgendwelche Bildarchiven wanderte, um sich den historischen Background für seine Filme zu beschaffen, man könnte vielleicht auch sagen: um besonders schockierende Bilder ausfindig zu machen, die er in SS CAMP 5 unterbringen konnte, denn besonders fundiert wird die Darstellung des NS-Regimes in SS EXPERIMENT LOVE CAMP wohl kaum jemand finden, der die Schule nicht nach der 2. Klasse abgebrochen hat), bleibt ansonsten ganz den Genreregeln treu, nach denen gewisse Worte schlicht unter den Teppich gekehrt werden, und im Allgemeinen gilt, dass SS EXPERIMENT LOVE CAMP, sieht man von den optischen Schauwerten wie Uniformen und Hakenkreuzen allüberall ab, auch ein x-beliebiger Frauenknastfilm sein könnte, was generell ja schon mal begrüßenswert ist (wobei es schon viel aussagt, wenn man einem Film als postitiv anerkennen muss, dass er darauf verzichtet, Aufnahmen reeller Kriegsopfer zwischen seine Spielszenen zu schneiden).

Weitere Unterschiede:

- was den Gewaltanteil betrifft, fällt SS EXPERIMENT LOVE CAMP nahezu zahm aus, solche Folterorgien wie sie uns SS CAMP 5 etwa in Filmmitte vorgesetzt werden, sucht man vergeblich, und auch die im englischen Titel genannten Experimente sind eher lächerlich als garstig, bestehen sie doch hauptsächlich daraus, dass gefangene Frauen sich unter ärztlicher Aufsicht mit deutschen Soldaten vergnügen sollen, mitunter auch in bis obenhin mit Wasser gefüllten Bottichen, woraus diese medizinische Erkenntnisse gewinnen wollen, die mir bis zum Filmende schleierhaft blieben

- SS EXPERIMENT LOVE CAMP versucht sich als Liebesfilm, zumindest stückweit, wenn er, auch das wenig originell, von der Zuneigung eines der für die oben genannten Experimente ins Lager bestellten Soldaten zu einer der KZ-Insassinnen berichtet, die sich zögerlich annähern, schließlich im Laufe der Experimente sexuell miteinander verkehren, und sich ineinander verlieben - das Ganze wird allerdings derart plakativ dargestellt, dass es ein wahres Grausen ist - Garrone tunkt seine Figuren tief in den Kitschtopf, lässt alle Psychologie allerdings außen vor: die lieben sich eben einfach, von einem Moment zum nächsten: glaubwürdig sieht anders aus

- im Gegensatz zu SS CAMP 5 hält sich SS EXPERIMENT LOVE CAMP überhaupt in allen Belagen weit zurück - die Sexorgien sind nur halb so ausufernd, die Spannung wirklich nur noch ein Hauch, und Serafino Profumo (was für ein Name!) tobt nur halb so irre, wenn er auch für den einzigen wirklich erschreckenden Moment des Films zuständig ist, wenn ein Mädchen, das er vergewaltigt hat, ihn mit einer Schere attackiert, worauf er sie zuerst anschießt und dann kopfüber und nackt im Stacheldraht vor dem Lager aufhängt, ein ikonisches Bild, zu dem Garrone dann offenbar doch durch gewisse Photographien inspiriert wurde

- was SS EXPERIMENT LOVE CAMP für den Trash-Gourmet allerdings interessant machen könnte, ist das, was im Originaltitel durch das Wort "Kastrat" seinen Ausdruck findet, ein Subplot, der tiefe Blicke gewährt in das verwirrte Hirn eines italienischen Schundfilmers - der Kommandant des Lagers leidet unter sexuellen Problemen - seitdem er eine Frau zu einem Blow Job zwang und die ihm sein bestes Stück oder seine Hoden oder was auch immer abbiss, ganz klar wird das nie, und im Film hat sie lediglich irgendeinen Fetzen rohes Fleisch zwischen den gebleckten Zähnen, fühlt er sich seiner Manneskraft beraubt - Dr. Abraham (auch den kennt man schon aus SS CAMP 5), der unter falschen Namen als Dr. Steiner im Lager lebt und forscht (als bei einem Bombenangriff besagter Steiner verstarb, kam der Wissenschaftler auf den Einfall, dessen Idenität anzunehmen, um sein Leben zu retten, da er als Jude und politischer Feind sowieso längst auf der Abschussliste der Nazis steht), wird vom Kommandanten, der dessen falsches Spiel durchschaute, dazu gezwungen, eine Operation an ihm vorzunehmen, die es zuvor noch nie gegeben hat: er möchte, dass man eine Hodentransplantation an ihm vollführt - als Spender auserkoren wird der junge Soldat, der ihm in seiner Verzweiflung seine Liebe zu der Gefangenen gesteht, und glaubt, der Kommandant stimme aus reiner Nächstenliebe seinem Antrag zu, länger im Lager und damit bei seiner Liebsten bleiben zu können - in Wirklichkeit hat er es auf seinen Hoden abgesehen, der dem armen Mann bei einer ihm als harmloses Experiment verkauften OP entnommen und dem Kommandanten eingesetzt wird (tricktechnisch ein Traum: ich kann es nicht beschreiben, man MUSS es gesehen haben!) - bald aber merkt der Soldat, dass etwas nicht stimmt - er versagt, als er mit seiner Liebsten den Beischlaf vollziehen möchte, begreift schnell, was man ihm raubte, und startet einen Amoklauf quer durchs Lager, bei dem er nicht nur die gefangenen Frauen zur Revolte anstachelt, sondern sich auch durch die gesamte Riege seiner Vorgesetzten ballert - großartigstes Zitat des Films (in der englischen Synchronfassung): "How ya been doin' with my balls!", als er über den Kommandanten herfällt - natürlich ist SS EXPERIMENT LOVE CAMP grenzwertig, natürlich löst es Kontroversen aus, wenn man, ob nun mit Mondo-Szenen oder ohne, historische Verbrechen gegen die Menschlichkeit zum Gegenstand eines Exploitation-Films macht, allein mit seinen letzten fünfzehn Minuten schafft Garrone es aber, sein Werk derart von aller Wirklichkeit freizuwaschen, dass es wie von selbst in den erlauchten Kreis jener Filme eintritt, bei denen moralische Urteile sowieso nicht mehr fußen, da sie sich einem Wahnsinn verschreiben, den man eigentlich kaum mehr fassen kann - ich muss es noch einmal unterstreichen: das, was hier steht, habe ich mir nicht ausgedacht, diesen Film gibt es wirklich, er wurde von Menschen für Menschen gedreht, und sein Regisseur wird nicht müde zu betonen, wie ernst es ihm mit der ganzen Chose war, und wie stolz er darauf ist, an diesem Machwerk mitgewirkt zu haben.
Antworten