Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Girl's Dormitory
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Originaltitel: Khabgah-e dokhtaran

Produktionsland: Iran 2005

Regie: Mohammed Hossein Latifi

Darsteller: Baran Kosari, Negar Javaherjan, Majeed Salehi, Sadeq Safaei, Farahnaz Manafi Zaher

Die Busenfreundinnen Roya und Shirin haben Post. Beide sind von einer renommierten Universität etwas außerhalb Teherans zum Studium zugelassen worden. Da ist das freudige Quietschen erstmal laut, wird aber schnell von den Herren Vätern eingedämpft, die es überhaupt nicht einsehen, ihre Töchterchen unter der Woche in ein abseitiges Kaff ziehen zu lassen: zu groß seien die Gefahren, die allein auf der Hin- und Rückfahrt auf sie lauern würden. Dass die Namen unserer Heldinnen bereits in der Zeitung als Hoffnungsträger weiblicher Bildung abgedruckt stehen und die Mütter sich fest ins Zeug legen, ihre Gatten umzustimmen, hilft zunächst wenig. Letztlich ist es Shirins Bruder, der, nicht ganz uneigennützig, den letzten Tropfen Überzeugungsarbeit leistet, indem er Royas Vater und seinem eigenen vorschlägt, er könne die Mädchen doch stets mit seinem Auto sonntags bis vor die Universitätspforten fahren und dort dann am Freitag wieder abholen. Farhad nämlich hat schon lange ein Auge auf Roya geworfen, und Shirin ist dem Gedanken ebenfalls alles andere als abgeneigt, ihre beste Freundin bald zur Schwägerin haben zu können. Nur Roya ziert sich noch ein bisschen, was, als die Mädchen erstmal in ihrer Universitätsstadt sind, zu allerhand abendlicher Flüsterunterhaltungen, Neckereien und schamroter Wangen Anlass gibt. Doch nicht nur das weckt die Neugierde der frischgebackenen Studentinnen: Da das Studentenwohnheim zurzeit noch im Umbau begriffen ist, hat man sie nebst einer Handvoll anderer Mädchen in einem abgelegenen Gebäudetrakt untergebracht, in dessen Nähe sich eine unheimliche Ruine befindet, über die in der Gegend reichliche Gruselgeschichten grassieren. Angeblich soll sie von Geistern bewohnt sein. Obwohl unbewohnt, sehe man dort nachts erleuchtete Fenster. Außerdem seien in ihrer unmittelbaren Umgebung in den letzten Jahren immer mal wieder junge Mädchen verschwunden, um etwas später ermordet aufgefunden zu werden. Roya, Shirin und Farhad, der seine Wachhundpflichten so sehr ernstnimmt, dass er auch mal einen Abend mit Schwester und Zukünftiger in deren Wohnheim verbringt, widerstehen ihrem inneren Drängen schließlich nicht mehr und beginnen, das Gemäuer zu erkunden. Dabei stößt Roya auf einen Raum voller brennender Kerzen, Hochzeitskleider und Schmuckstücke. Obwohl sie ein Diadem mitgehen lässt, ist am nächsten Tag nichts mehr von dem nächtlichen Spuk zu sehen und sie zweifelt fast schon an ihrem Verstand. Die Haushälterin des provisorischen Wohntrakts indes ist sich sicher, dass der Schmuck einem der vielen ermordeten Mädchen gehört hat...

Was an KHABGAH-E DOKTHARAN westlichen Augen wie meinen zuallererst auffällt, das ist die exorbitante Züchtigkeit dieser iranischen Produktion aus dem Jahre 2005. Dass die iranische Gesellschaft nach, je nach Gesichtspunkt, wesentlich sittsameren oder restriktiveren Normen ausgerichtet ist als die unsere, beweisen schon die Eröffnungsszenen, in denen unsere Heldinnen sämtliche ihrer Kräfte zusammennehmen müssen, um ihre Väter allein dazu zu überreden, sie in einer Stadt studieren zu lassen, die in etwa einer halben Stunde mit dem Auto von Teheran aus zu erreichen ist. Erst als Farhad die Rolle des männlichen Beschützers übernimmt, lassen die Väter sich allmählich weichkochen. Roya und Shirin sollen demnach, zumindest wenn es nach ihren Familien geht, zu keinem Zeitpunkt ihres Lebens außerhalb einer bestimmten Ordnung stehen. Als sie noch zu Hause wohnen, ist dies die Obhut der Familie. Später wird es die Obhut des Mannes sein, den sie einmal ehelichen werden. Selbst innerhalb der Universität scheint alles gemäß der Regel ausgerichtet zu sein, dem Laster so wenige Nischen zum Hereinschlüpfen zu geben wie möglich. In den Seminaren sitzen zwar beide Geschlechter, jedoch streng innerhalb des Raumes aufgeteilt: die Jungs links, die Mädchen rechts. Allein in dem improvisierten Wohnheim sind die Mädchen unter sich und mehr oder minder frei von äußeren Reglementierungen. Es wundert wenig, dass Roya, Shirin und ihre Mitstudentinnen sich, obwohl längst der Kinderstube entwachsen, in ihrer neu gewonnen Freiheit benehmen wie kleine Mädchen, gegen die sogar die Ballettschülerinnen aus SUSPIRIA wirken wie reife, erwachsene Frauen. Man kichert viel, amüsiert sich über eine Kassette voller Liebesschlager, die Roya von Farhad geschenkt bekommen hat, erzählt sich beim Kerzenschein Schauergeschichten und kreischt, wenn einem eine Schabe über den Teppich läuft. Derart unschuldig ist das Verhalten unserer Heldinnen, dass die Besorgnisse ihrer Väter, sie könnten, erst einmal dem Elternhaus entstiegen, auf die schiefe Bahn geraten, dem Zuschauer mehr und mehr komplett haltlos erscheinen. Nichts liegt Roya und Shirin ferner als sich einen Fehltritt zu erlauben. Ihre Kopftücher sind nie um einen Zentimeter verrückt, selbst der obere Hemdsknopf ist stets ordentlich geschlossen. Sie sind so unbedarft und rein, dass ihr unbefugtes Betreten der Gebäuderuine gegenüber schon mit Abstand die schlimmste Sünde darstellt, die man ihnen zutrauen kann. Was für ein Unterschied zu den promiskuitiven, moralisch degenerierten Jugendlichen, die uns in einem US-amerikanischen Horrorfilm ähnlicher Prägung schon nach fünf Minuten auf die Nerven gegangen wären!

Ein weiterer Unterschied zu westlichen Genreproduktionen wäre ebenfalls die starke Betonung des Familienlebens unserer Mädchen. Wenn KHABGAH-E DOKTHARAN seine knappe erste Hälfte nicht nutzt, um angenehm leise, unaufgeregte Gruselstimmung zu verbreiten, die sich meist auf die gängigen Stilmittel wie knarrende Türen, flackernde Lichter, verlassene Keller beschränkt, fokussiert der Film oft und gerne den familiären Kosmos, dem Roya und Shirin entstammen und verbunden sind. Was in einem US-amerikanischen Horrorfilm so gut wie nie Erwähnung findet – und wenn, dann nur, weil es in irgendeinem Zusammenhang mit der bluttriefenden Handlung steht -, wird in vorliegendem Werk zuweilen derart ausgewalzt, dass es einem nicht-iranischen Publikum stellenweise wohl schon zu viel des Guten sein dürfte. Die beiden Familien singen, speisen, spielen miteinander, bereiten Royas und Farhads Hochzeit vor, bekommen sich nur in die Haare, um sogleich die Versöhnung zu feiern – ein derart harmonietrunkenes Familienbild dürfte man in Horrorfilmen der westlicher Hemisphäre, die sich ja oftmals gerade auf die Fahne schreiben, die klassische Familie im wahrsten Sinne des Wortes zu demontieren und zu destruieren, mit der Lupe suchen können, und trotzdem nicht viel finden. In diesen Themenkomplex spielt auch die absolut keusche Liebe zwischen Roya und Farhad hinein. Mehr als einen vorsichtiger Seitenblick gibt es zwischen den Entflammten nicht, die sich ihre Entjungferung für die Hochzeitsnacht aufsparen und sowieso, ohne die Erlaubnis ihrer Väter, es nie wagen würden, auch nur einen flüchtigen Kuss auf die Wange auszutauschen.

Für mich war KHABGAH-E DOKTHARAN, wie man vielleicht schon merkt, vor allem ein interessanter Einblick in eine mir fremde, aber zeitgenössische Kultur. Nicht nur das menschliche Miteinander hat dabei meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen, sondern ebenfalls all die Kleinigkeiten, die mir dieser Film über das alltägliche Leben im Iran verraten hat. Ich meine solche Details wie: welche Geräte stehen in einer iranischen Küche? Wie sieht die Sitzordnung an der Uni aus? Mit welcher Musik kann man das Herz seiner Liebste erobern – und auf welchem Tonträger? Darüber trat für mich die eigentliche Horrorhandlung über weite Strecken in den Hintergrund – zumal sie sich sowieso eher langsam entwickelt und in der ersten Hälfte hauptsächlich auf Atmosphäre setzt, und weniger einen komplexen Plotpunkt an den nächsten reiht. Dass diese erste Hälfte, der Aufenthalt von Roya und Shirin in ihrer Universitätsstadt, gerade in den Gruselszenen manchmal an ein Märchen erinnert, ist symptomatisch für einen Film, der mit Blut und Gewalt derart geizig umspringt, dass es einen schon richtig erschreckt, wenn dann doch ein einziges Mal eine mit vergleichsweise viel Lebenssaft überschüttete Leiche zu sehen ist. Wenn Roya das Brautkleidzimmer in der Geisterruine entdeckt, oder wenn die einfältige Haushälterin im Flackerschein der Kerzen von angeblichen Geistern erzählt, die sich auf Brautschau befinden, dann sind das Momente, in denen man kaum von realistischem Grauen sprechen kann, da sie viel eher auf eine irrationale Welt verweisen, in der die Grenzen zwischen Phantasie und Wirklichkeit so brüchig sind, dass es eigentlich gar keinen Sinn macht, sie überhaupt zu ziehen. Umso überraschender ist es, dass KHABGAH-E DOKTHARAN in seiner zweiten Hälfte einen jähen Wechsel vollführt, seinen Schauplatz zurück nach Teheran verlegt und plötzlich, ohne zu viel vorwegnehmen zu wollen, zu einem veritablen Serienkiller-Slasher wird, inklusive der einen oder anderen Actionszene, Schießereien und inflationärem Einsatz von Blaulichtern. Züchtig bleibt das Ganze nichtsdestotrotz, und auf der technischen Seite, was Kamera, Montage etc. betrifft, weitgehend solide, aber wenig aufregend, doch den Vorwurf, inhaltlich einseitig und ohne größere Überraschungen zu sein, muss sich der Film gewiss nicht gefallen lassen.

KHABGAH- E DOKTHARAN ist ein unterhaltsamer, kurzweiliger Ausflug in einen kulturellen Kontext, den der westliche Genrefreund nicht zuallererst mit seiner Horrorfilmproduktion in Verbindung bringt, und zieht gerade daraus seinen für mich recht eigenwilligen Reiz.
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Originaltitel: Africa Dolce e Selvaggia

Regie: Alfredo & Angelo Castiglioni

Herstellungsland: Italien 1982

„The film you are about to see was made originally for a restricted academic audience, many of the scenes are remarkable evidence of a way of life in Africa that is on the road to extinction and, consequently, subject to moments of extreme tension and terrible violence. The producers have decided to realise this exceptional documentary through general distribution so that everyone can be aware of what happens in our cruel, chaotic and colorful world.“ Na, hört sich das nicht nach einem äußerst lehrreichen Stück Film an, das vielleicht zwar so manches Bild beinhaltet, das man womöglich lieber nicht gesehen hätte, dennoch aber im Großen und Ganzen durchaus dazu geeignet ist, nützliches Wissen zu vermitteln? So jedenfalls liest es sich im Vorspann der englischen Synchronfassung, wie sie als VHS auf dem holländischen Label Video Plus erschienen ist – zwar unter dem eher weniger wissenschaftlich klingenden Titel SHOCKING AFRICA, doch das kann ja auch nur ein Vermarktungstrick sein, um unter dem Deckmäntelchen eines Schaudermondos die anzulocken, die ansonsten nie und nimmer eine seriöse Dokumentation über das Leben und Leiden der afrikanischen Naturvölker angefasst hätten. Jeder, der gleich darauf jedoch einen Blick auf die deutsche Videokassette wirft, wird aus dem Stirnrunzeln nicht mehr herauskommen. Nicht nur, dass der Film dort auf einmal GESICHTER DES SCHRECKENS bzw. FACES OF PAIN heißt, der dazugehörige Text klingt zudem, als ob er ein völlig anderes Werk beschreiben würde: „Unglaublich, schockierend und dennoch tatsächlich wahr. Der erste wahrheitsgetreue Film über Dinge, von denen Sie noch nicht einmal zu träumen wagen. Alles echt, alles dokumentarisch und völlig realistisch. Originalaufnahmen, die das blanke Entsetzen herausfordern, ekelerregend und doch faszinierend! Ein gewagter Blick in die Gesichter des Schreckens." Aber nein: beide Veröffentlichungen sind identisch mit einer italienischen Produktion aus dem Jahre 1982, deren Originaltitel schon wieder einen ganz neuen Nimbus mit sich trägt: AFRICA DOLCE E SELVAGGIA. Wo steckt denn da nun die Wahrheit?

Nun, wie immer irgendwo zwischen den Extremen. Regie jedenfalls führten die Zwillingsgebrüder Castiglioni, Alfredo und Angelo, die tatsächlich anerkannte und preisgekrönte Ethnologen zu sein scheinen, noch 2009 im hohen Alter in der Sahara in den Gebeinen einer antiken persischen Armee herumstocherten, seit den 50er Jahren bereits ihren Hauptfokus auf den Schwarzen Kontinent legten und seit Ende der 60er vor AFRICA DOLCE E SELVAGGIA bereits vier berühmt-berüchtigten Mondo-Filmen ihre Namen liehen, die da heißen: AFRICA SEGRETA (1969), AFRICA AMA (1971), MAGIA NUDA (1974), ADDIO ULTIMO UOMO (1978). Ihren Namen liehen – das drücke ich bewusst so umständlich aus, weil mich immer, wenn ich einen dieser Castiglioni-Mondos sehe, ein gewisser Verdacht beschleicht, den der Vorspann von AFRICA DOLCE E SELVAGGIA in mir eher unterstützt als zerstreut. Da lesen wir nämlich zwar, dass die Castiglioni-Bruderschaft zwar die Regisseure des Films seien, in den kreativen Prozess hat indes noch eine weitere Person augenscheinlich ziemlich aktiv eingegriffen, ein Director of The Institute of Ethnology in Mailand mit dem wunderschönen Namen Guglielmo Guariglia, der nicht nur das Drehbuch verfasst haben soll, sondern außerdem die Narration beisteuert. Dieser Guariglia, der scheinbar an keinem weiteren Film mitgewirkt hat, könnte, so meine These, das Originalmaterial, das die Castiglionis aus Afrika nach Italien mitbrachten, gemäß den Regeln und Klischees des Mondo-Genres ausgewählt, zusammenmontiert und mit einem Kommentar versehen haben, der darauf aus ist, seine Wissenschaftlichkeit so weit wie möglich zu untergraben. Anders kann ich es mir nicht erklären, weshalb ein reiner Dokumentarfilm einen Drehbuchautoren bräuchte, und wieso offenbar renommierte Afrikakundler für ein Werk verantwortlich zeichnen, das meinem persönlichen Empfinden nach dann doch eher dem deutschen VHS-Cover-Text zuneigt als der vollmundigen Ankündigung des Vorspanns, denn dass AFRICA DOLCE E SELVAGGIA in der Form, wie er mir vorliegt, für eine limitierte akademische Zuschauerschaft erstellt worden sei, kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.

Woran das liegt? Wohl daran, dass der deutsche Titel FACES OF PAIN, der natürlich auf einen ganz bestimmten Zug aufzuspringen versucht, gar nicht so weit von der Realität bzw. dem, was der Film uns als Realität verkaufen möchte, entfernt ist. Jeder Sadist, möchte ich behaupten, kommt bei AFRICA DOLCE E SELVAGGIA nämlich voll auf seine Kosten. Den Hauptkern des Films, der einen durchaus nachvollziehbaren thematischen Rahmen hat – Initiationsriten diverser afrikanischer Stämme von der Wüstenei bis in den Busch – bilden zwei Dinge: Tierschlachtungen und Beschneidungen. Ersteres mag niemanden verwundern, der schon mehr als einen Mondo gesehen hat. In diesem hier sind es hauptsächlich Hühnchen und Hähnchen – der Off-Sprecher erklärt, das Huhn sei das unglücklichste Tier auf afrikanischer Erde, da es wirklich zu jedem noch so unwichtigen Ritual als Opfer herhalten müsse -, die geköpft, aufgeschlitzt werden, damit Schamanen aus ihren Eingeweiden die Zukunft oder den Willen der Götter herauslesen können, die man Krokodilen, den Reinkarnationen verstorbener Stammesahnen, zum Fressen vorwirft, die auf Musikinstrumenten ihr Leben lassen, um diesen ihre Seele einzuhauchen. Freilich begnügt man sich nicht nur mit Federvieh, auch ein paar Schweinchen müssen in die Mäuler der Krokodile wandern, ein Skorpion wird von einem alten Mann bei lebendigem Leibe verzehrt und - besonders anschaulich in langen Großaufnahmen gezeigt – einem unwilligen Kamel das Geschlechtsteil wegkastriert. Das ist natürlich alles andere als nett anzuschauen, bildet jedoch nur einen kleinen Teil gegenüber dem weitaus größeren, der sich mit dem Schmerz, wie er sich in menschlichen Gesichtern abzeichnet, befasst.

Ungewöhnlich ist, dass es diesmal vor allem Kinder und Halbwüchsige sind, denen man dabei zusehen darf, wie sie die ärgsten Leiden zu erdulden haben. Wie gesagt: Initiationsriten stehen im Mittelpunkt, und die werden eben selten an Greisen vollführt. Diese haben sie schon hinter sich und dirigieren Spektakel wie das, das wohl das Zentrum des Films bildet, oder zumindest das Ereignis, dem der Film die größte Aufmerksamkeit und die meisten Großaufnahmen schenkt. Unzählige Jungen sind auf einem Dorfplatz versammelt, um endlich zum Mann gemacht zu werden. Das geschieht dadurch, dass ein sogenannter Buschdoktor, dessen Hand nun wirklich nicht die sicherste ist und beständig zittert, ihnen mit einer Machete die Vorhäute abhaut. Den Kindern, vor Angst schreiend und sich wehrend, wird hierzu ein Strick um die Vorhaut gebunden, diese dann so lang wie möglich gezogen und der Arzt schlägt mehr oder minder präzise zu. Hinter ihm stehen einige Männer mit Gewehren, die, sollte er daneben schlagen oder gar versehentlich einen Penis amputieren, ihn laut Stammesgesetz umgehend erschießen müssen. Natürlich: diese Szenen sind sicherlich nicht gestellt und nicht inszeniert, und werden exakt so im afrikanischen Hinterland geschehen sein und wohl heute noch geschehen, die Art und Weise wie der Film mit dem Material operiert, verwundert dann schon, wenn mindestens dreißig Mal in Großaufnahme immer wieder das Gleiche gezeigt wird: ein brüllendes Kind, das Herabsausen der Machete, der blutende Penis, die Vorhaut in der Hand des Buschdoktors – zumal der Film sich immer dann, wenn man meint, das Beschneidungsthema sei nun endgültig abgehakt und man wende sich nun anderen, weniger schmerzlichen Dingen zu, darin gefällt, von Neuem solche Szenen einzuspielen, als wolle er der möglichen Langeweile bei seinem Publikum damit vorbeugen, dass er ihm die abgeschnittenen Vorhäute regelrecht ins Gesicht schleudert. Bis zum Grande Finale – man muss es einfach so nennen – spart man sich schließlich die Bilder von Beschneidungen einiger junger Mädchen auf, zu denen der Off-Sprecher schon beinahe entschuldigend vorbringt, man zeige das alles nicht aus bloßer Sensationslust, sondern um ein getreues Abbild der Wirklichkeit zu geben. Andere Schmerzensgesichter finden sich dann noch bei einem jungen Beduinen, der sich von seiner Gruppe absondert, für wahnsinnig erklärt und sodann mittels Peitschenhieben gestraft wird, dem Schleifen der Zähne weiterer Jünglinge, was genauso der Herstellung eines bestimmten Schönheitsideals dienen soll wie die Tätowierungen, die Frauen und Männern mittels Rasierklingen überall am Körper beigebracht werden, dass das Blut nur so in Strömen rauscht, sowie einer jungen, unfruchtbaren Frau, die von einem weiteren Buscharzt eine echte, lebende Schlange komplett in ihre Vagina eingeführt bekommt, um dadurch gebärfreudiger zu werden: eine wirklich unglaubliche Szene, vor der sich vielleicht sogar ein Bruno Mattei gegraust hätte!

Wo bleibt denn da aber nun die versprochene Belehrung? Nun, mit der ist es leider nicht weit her. Einige Kommentare mögen halbwegs informativ sein, wirklich viel habe ich persönlich nun jetzt nicht über die dargestellten Naturvölker gelernt. Wohl eher kann ein Film wie AFRICA DOLCE E SELVAGGIA in dieser Hinsicht verzerrend wirken, da man durchaus den Eindruck gewinnen könnte, die Hauptbeschäftigung im afrikanischen Busch sei es, sich selbst und anderen größtmöglichen Schmerz zuzufügen und das dann irgendwie kulturell und religiös zu legitimeren. Da fragt man sich, ob diejenigen, die für die Endfassung dieses Films verantwortlich zeichneten, es wirklich ernstmeinten, wenn sie sich am Ende, auch noch unter Berufung auf den sengalesischen Politiker und Dichter Léopold Senghor, einem der Begründer der sogenannten Négritude, als Friedensbotschafter stilisieren. Sinngemäß wird Senghor dahingehend zitiert, dass die Menschheit solange unvollständig und weit entfernt von echtem Frieden sei, solange nur ein Teil von ihr mit den Gebräuchen eines anderen nicht vertraut sei und mit Unverständnis auf diese blicken müsse. Damit müsste der Film, wenn ich das richtig verstehe, ein wahres Beispiel für Kulturverständigung sein. Wie aber verträgt sich das mit den Bildern, über denen der Off-Sprecher diese Sätze von sich gibt? Die Reise ist zu Ende, die Crew fährt nach Hause, viele kitschige Landschaftsaufnahmen, Giraffen, die vor den Jeeps davongaloppieren, die untergehende Sonne, und dazu ein Song, der zuvor schon andauernd eingespielt worden ist, eine schreckliche Funk-Nummer, die in keinem Cop-Movie störend auffallen würde, vermischt mit pseudo-afrikanischen Stammesgesängen, deren Text zumeist aus dam-da-dam-dam-da-da-dam besteht und, wie der Abspann verrät, von einer Band namens The Bertas intoniert wird. Solche Momente, die es zuvor schon zuhauf gab, lassen letztlich die edelste Absicht wie einen scheinenden Faden erscheinen: Stammeskrieger, die in Zeitlupe auf- und abhüpfen, als seien sie einem Riefenstahl-Film entsprungen, ruhige Flussszenen, unterlegt mit Klängen wie aus einem D’Amato-Porno, alberne, völlig unpassende Heimorgelmelodien zu Aufnahmen von Kindern, die in der Wüste Schlangen fangen, um sie gewinnbringend an Touristen zu verkaufen, und der Angriff einer Schlange auf ein Teammitglied, der zufällig (?) von gleich zwei Kameras gleichzeitig aufgezeichnet wird. Sowieso: wieso wird denn als einer der ersten Namen im Abspann ein Herr namens Alberto Cavalli – nein, nicht Cavallone – aufgelistet, dessen Aufgabengebiet die Special Effects gewesen sein sollen? Fragen über Fragen, bei denen nur eins sicher ist: viel friedlicher ist die Welt durch diesen letzten Castiglioni-Mondo ganz bestimmt nicht geworden.
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Originaltitel: Guinea Ama

Herstellungsland: Italien / Japan (1974)

Regie: Akira Ide

Die Verantwortlichen dieser italienisch-japanischen Co-Produktion werden wohl selbst nicht geahnt haben, dass ihr Werk im weiteren Verlauf der italienischen Filmgeschichte eine, sagen wir, nicht unbedeutende Rolle spielen würde. GUINEA AMA ist ein Mondo, dessen Aufnahmen ausnahmslos in Neu-Guinea entstanden, und folgt sklavisch den Regeln des Genres. Die Realität, die das Filmteam im dortigen Dschungel vorfindet, interessiert zu keiner Sekunde, sie wird umgeformt, verzerrt, inszeniert bis sie den Anforderungen und Wünschen eines westlich-zivilisierten Publikums entspricht. Zumindest in der mir bekannten deutschen Fassung strotzt das Filmchen, auch das völlig genretypisch, nur so vor Sexismus und Rassismus, und wird bei dem Teil des Publikums, das GUINEA AMA als seriöse, fundierte Dokumentation betrachtet, unweigerlich den Eindruck erwecken, dass die Urbevölkerung Neu-Guineas seine Zeit mit nichts anderem vertreibt als mit Sex und Gewalt, wobei der Fokus eindeutig auf Ersterem liegt. Aus dem Off werden angebliche Hochzeitsriten, die Sexualbräuche, das Anfertigen eines Lendenschurzes aus einer Fledermaus mit unfreiwillig komischen Sprüchen (oder gar mit Marschmusik!) begleitet, die den Film eher in die Klamaukecke zu ziehen drohen: die zynische, pessimistische Weltsicht eines Jacopettis fehlt hier völlig, weshalb der Film auch mehr als leichte Unterhaltung funktioniert, und nur wenig schockiert, sieht man mal von drei derberen Tiersnuff-Szenen ab. Ständig nimmt der Sprecher den Mund zu voll, selbst dann, wenn es eigentlich gar nichts zu sehen gibt. Da sitzen Eingeborene ums Feuer und nehmen einen Trank zu sich, den der Sprecher entsetzt als Rauschgift klassifiziert. Obwohl die Eingeborenen sich kaum rühren, regungslos bleiben, ihre Körper höchstens leicht zu einer Musik bewegen, die irgendwo erklingt, weiß der Sprecher zu berichten, dass man danach die Kamera habe ausschalten müssen, um dem Publikum die folgenden Szenen zu ersparen, denn zu was die Wilden in ihren Drogenräuschen fähig seien, das übersteige selbst die kühnste Phantasie eines zivilisierten Menschen. Schlicht lächerlich.

Wie wild herumgeritten wird auf der Kannibalismus-Thematik, denn die Eingeborenen Neu-Guineas seien allesamt von Natur aus Menschenfresser, und würden diese kulinarischen Gepflogenheiten, seitdem die Regierung den Kannibalismus offiziell verbot, nun nur noch im Heimlichen ausleben. Einen Beweis liefert der Film allerdings nicht, konkret wird es nur in einer Szene, die mir ziemlich gestellt aussieht, wo das Filmteam angeblich aus 100 Meter Höhe ein kannibalistisches Ritual filmt, und dabei bangt, entdeckt und selbst verschlungen zu werden, man in Wirklichkeit jedoch einzig und allein zwei Eingeborene sieht, die um ein Feuer hocken, und daneben einen dritten, der unversehrt im Gras liegt. Gerade diese Szene, so stumpfsinnig sie auch sein mag, verweist, meiner Meinung nach, allerdings schon eindeutig auf ein Werk wie CANNIBAL HOLOCAUST, gerade, was die Kameraarbeit betrifft. Überhaupt scheint mir GUINEA AMA nicht unwichtig für das Verständnis des italienischen Kannibalenfilms zu sein, der 1974 ja noch in den Kinderschuhen steckte.

Noch wichtiger allerdings ist Bruno Matteis grenzenlose Liebe zu diesem Film, denn anders kann ich es mir nicht erklären, dass er tatsächlich in drei (!) seiner Filme Material aus GUINEA AMA verwertete, vornehmlich erbauliche Szenen, in denen Eingeborene [angeblich!] ihren Toten huldigen, indem sie auf ihren Leichen herumkrauchende Würmer verzehren oder sich mit ihrem Sekret einreiben, jedoch auch harmlose Landschafts- und Tieraufnahmen oder ganz allgemein Eingeborenenszenen, in denen nichts weiter Spektakuläres passiert. Zu finden sind diese in DIE HÖLLE DER LEBENDEN TOTEN, LIBIDOMANIA und auch in MONDO CANNIBALE von 2003, und daher fest im kollektiven Bewusstsein der Italo-Kino-Interessenten verankert, obwohl diese GUINEA AMA selbst nie zu Gesicht bekamen.
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Originaltitel: Ultime grida dalla savana

Produktionsland: Italien 1975

Regie: Antonio Climati, Mario Morra
Was haben eine Gruppe nackt auf und ab hüpfender schwarzafrikanischer Stammeskrieger, Lachse aus Flüssen fischende Braunbären und westliche Hippies gemeinsam, die sich auf dem Isle-of-Wright-Festival sozialutopischen Träumen hingeben?

Er heißt Matteo, erklärt der bärtige Mann aus dem Off, und er lebt in Patagonien. Dort sei er geboren, dort gehöre er hin, so wie die Hirsche, die er jagt, um sich von ihrem Fleisch zu ernähren. Nein, versichert er uns, er wolle die Natur nicht aus ihrem Gleichgewicht bringen. Er wolle der Ökologie keinen Schaden zufügen. Alles, was er wolle, das seien Hirsche, um sich von ihrem Fleisch zu ernähren. Wie er das tut, zeigt uns ULTIME GRIDA DALLA SAVANA innerhalb seiner ersten fünf Minuten in aller Ausführlichkeit und unter dem Aufgebot sämtlicher ästhetisierender Techniken, die man sich nur wünschen kann: Nachdem wir zu friedlich-pfeifender Musik seine kleine idyllische Farm besucht haben, wo er im Einklang mit sich, der Wildnis um sich herum und ein paar Kätzchen ein Dasein ohne großartige Ansprüche führt – und wo eine Vielzahl skelettierter Hirschköpfe, die sein Häuschen wie Trophäen schmücken, uns bereits haben erahnen lassen, dass jedes Idyll letztlich auch mit etwas Blutzoll erkauft werden muss -, begleiten wir ihn zur Jagd ins Unterholz, wo er bald einem stattlichen Geweihträger Auge in Auge gegenübersteht. In Großaufnahmen kreuzen sich die Blicke von Mensch und Tier. Letzteres ergreift die Flucht, ersterer stellt ihm mit der Flinte hinterher. Was folgt, sind Szenen von atemberaubender Majestät: Die Kamera fährt parallel zu dem sich im vollen Lauf befindenden Hirsch und dem ihm an die Fersen gehefteten Matteo durchs Dickicht, schließlich verlangsamen sich die Sprünge des Gejagten zu Zeitlupenaufnahmen, die Kamera rückt ihm noch näher auf den Leib, und laut und deutlich hören wir von der Tonspur seine Atemgeräusche, so, als seien unsere Ohren ganz dicht an seinen Nüstern. Ornamenthaft springt der Hirsch über die froschperspektivische Kamera hinweg: von links unten nach rechts oben, von links oben nach rechts unten, vertikal und horizontal, im Gegenlicht der erwachenden Sonne. Dazwischen immer wieder: Matteos lauerndes Gesicht, seine an der Waffe hantierenden Hände, bereit zu töten, ohne den Respekt vor dem zu verlieren, den er töten wird. Schließlich, während die Tonspur desorientierte Klangwellen höher und höher peitscht, fällt der erste und letzte Schuss. Dreifach sind hintereinander gestaffelt: die Kamera in Matteos Rücken, ihm über die Schulter auf den Hirsch im Bilderhintergrund schauend, den die Kugel mit einer Gewalt trifft, die sich ihn zunächst auf den Hinterläufen aufbäumen lässt bevor er, ebenfalls in schwelgerischer Zeitlupe, tot zur Seite stürzt. Versöhnlich, irgendwo zwischen Trauer und Pathos, oszilliert die elektronische Musik, zu der die Kamera auf das brechende Hirschauge zoomt. Dann ein Schnitt: Aus der Sicht des Sterbenden blickt die Kamera, über deren Linse man einen milchigen Filter gelegt hat, zu Matteo hinauf, der ungerührt dem Sterben seines Mittagessens zusieht. Immer stirbt etwas, kommentiert er nüchtern aus dem Off, und irgendwas wird immer geboren. Das ist eben der Kreislauf der Dinge. Schaut!, gerade wird ein neuer Tag geboren! Er schultert den inzwischen abgeschnittenen Hirschkopf, um ihn zu seiner Hütte zu tragen, und läuft durch Sonnenstrahlen, die die Landschaft in einen unwirklichen rötlichen Schimmer kleiden – ein Bild, das schlicht derart schön ist, dass ich völlig vergesse, gerade dem Tod eines Lebewesens beigewohnt zu haben, und zwar derart überästhetisiert, dass man schon fast von einem Werbespot fürs Sterben sprechen könnte.

Erfährt man, wer die beiden führenden Köpfe hinter ULTIME GRIDA DALLA SAVANA sind, überrascht es schon weniger, dass nicht nur seine ersten fünf Minuten, was Kameraarbeit, Montage, Bildkompositionen, technische Tricks betrifft, eine regelrechte Weide für die Augen darstellen. Antonio Climati verdingte sich als Kameramann zunächst für den Dokumentarfilmer Paolo Gregorich bevor er ab MONDO CANE (1962) zum Team um Gualtiero Jacopetti, Franco Prosperi und Paolo Cavara gehört hat. In Werken wie ADDIO, ZIO TOM (1971) und vor allem AFRICA ADDIO (1966) durfte er in der Folge unter Beweis stellen, dass er selbst dann noch in der Lage ist – (oder gerade erst dann?) -, prächtigste Bilder zu schießen, wenn er unter Einsatz seines Lebens in einem Jeep durch aggressive Söldnertruppen fährt oder in einem Hubschrauber nur wenige Meter oberhalb eines Völkermordes kreist. Auch der Cutter Mario Morra kann Mitte der 70er auf eine Fülle an Filmen zurückblicken, denen er den richtigen Schnitt verpasst hat – darunter solch unterschiedliche Werke wie Gillo Pontecorvos LA BATTAGLIA DI ALGIER (1966), Aldo Lados MALASTRANA (1971) oder Paolo Cavaras LA TARANTOLA DAL VENTRE NERO (1971). Verspricht die Ballung des Editoren-Talents Morras und des Kamera-Talents Climatis bereits einen Film, der, wenn auch Mondo, dann zumindest mindestens auf dem Niveau Jacopettis und Prosperis siedeln sollte, wird dem zeitgenössischen Publikum vor allem die Partizipation des seinerzeit außerordentlich populären Schriftstellers Alberto Moravia als das notwendige Mäntelchen an Seriosität erschienen sein, dass ein solches Produkt dann doch noch braucht, um salonfähig zu werden. Moravia hat nicht nur, unter anderem, die literarischen Vorlagen zu Godards LE MÉPRIS (1963) und Bertoluccis IL CONFORMISTA (1970) verfasst, sondern 1972 mit A QUALE TRIBÚ APPARTIENI? auch einen Bericht seiner Reisen nach Afrika voller seltsamer Stammesrituale und post-kolonialistischer Naturbeschreibungen vorgelegt, aufgrund dessen Climati und Morra möglicherweise erst auf die Idee gekommen sind, ihn als Kommentator für ihren ersten gemeinsamen Film zu verpflichten.

Um was genau geht es nun aber eigentlich in ULTIME GRIDA DALLA SAVANA? Kurz gesagt: Um Jäger und Gejagte bzw. um die Jagd an sich, und zwar in allen erdenklichen Facetten, in allen erdenklichen Winkeln der Erde, und in allen erdenklichen Konstellationen zwischen Mensch gegen Tier, Tier gegen Tier und Mensch gegen Tier. Dass Morra und Climati das Rad freilich nicht neu erfinden, das aus der Schmiede Jacopettis Anfang der 60er hervorgegangen ist und seitdem auf den Namen Mondo hört, unterstreicht indes allein schon ein kritischer Blick auf die ersten sechs Segmente vorliegenden Films und vor allem ihre Interaktion untereinander. Das Oberthema Jagd könnte einen ja vermuten lassen, ULTIME GRIDA DALLA SAVANA sei eher im Stil des ebenfalls geographisch sowie thematisch vergleichsweise sortierten AFRICA ADDIO gehalten als im Stil des bewusst disparaten und heterogenen MONDO CANE, bei dem, wie man weiß, einfach alles aufeinandertrifft, was irgendwie skurril oder verrückt auf den westlichen Blick wirkt. Trotzdem atmet aber auch Climatis und Morras Debut nicht wenig den Geruch einer Zirkusarena, in der gerade der Vorhang gelüftet worden ist und nun eine Sensation nach der andern in einer Hülle und Fülle an uns vorbeispaziert, bei der der rote Faden eher zur Nebensache wird. Nachdem wir den Jäger Matteo kennengelernt haben, springt der Film relativ abrupt zu einer Gruppe Hippies, die zu Folk-Pop-Klängen ihren, wie es aus dem Off heißt, neuromantischen Träumen einer Rückkehr zur Natur nachhängen, Ballons mit Pro-Vegetarian-Slogans in die Lüfte steigen lassen und – eine eindeutige Anspielung auf eine der ikonischsten Szenen im Original-MONDO-CANE – an ihren Brüsten süße Lämmchen säugen. Schnell aber entlarvt der Film solche Schwelgereien als bloßen frommen Wunsch: Jäh werden wir in irgendeinen Dschungel versetzt, wo die Natur ein wesentlich ehrlicheres, grausameres Gesicht trägt. In bester Kannibalenfilm-Manier hetzt ein Leopard ein Äffchen und wird ein Totenkopfäffchen von einer Würgeschlange in die Mangel genommen – das alles natürlich außerordentlich graphisch und sich beinahe genüsslich an der Qual des jeweiligen Opfers weidend. Einen weiteren Schnitt später sind wir plötzlich in Australien und dürfen einer Aborigines-Jagd auf Kängurus und Flughunde beiwohnen. In bester BBC-Dokumentarfilm-Manier bebildern Climati und Morra die Art und Weise wie die Eingeborenen ihre fliegende Beute aus der Luft holen – nämlich mit Bumerangs, die die Tierchen regelrecht vom Himmel pflücken – in Zeitlupenaufnahmen, die dem Ganzen den Stempel einer Schönheit aufdrücken, von dem klar sein dürfte, dass er hauptsächlich dem Stilwillen der Filmemacher geschuldet ist: In der sogenannten Wirklichkeit werden die Flughunde wohl kaum derart anmutig in den Tod gestürzt sein. Gleiches gilt für die anschließenden Jagdbilder von Schwarzafrikanern auf Gazellen und Gnus, von denen ich mir ziemlich sicher bin, dass es sich dabei um Material handelt, das Climati ursprünglich für AFRICA ADDIO geschossen hat. Mit schnellen Schritten und Schnitten stolpert ULTIME GRIDA DALLA SAVANA danach in Szenen, die ein bisschen wie ein möglicher Appendix zu Umberto Lenzis MONDO CANNNIBALE (1972) wirken: Das, was da im Urwaldunterholz liegt, sind, erklärt Moravia aus dem Off, die Überreste eines Mannes, der im Rahmen eines religiösen Rituals von einigen seiner Stammesgenossen verspeist worden sein soll. Die örtlichen Behörden haben diese bereits dingfestgemacht. Weil sie sich an die Regeln ihrer Tradition gehalten haben, erklärt Moravia weiter, sind sie mit den Regeln der gegenwärtigen Gesellschaft kollidiert, und müssen sich nun vor dieser verantworten. Noch bevor ich mir darüber habe klar werden können, ob mir die Verantwortlichen bei diesem Kannibalismus-Einsprengsel eine Fake-Szene unterjubeln wollen oder nicht, bin ich schon mit einer der surrealsten Szenen von ULTIME GRIDA DALLA SAVANA konfrontiert: Einige nackte Eingeborenen irgendwo auf der bizarren Welt, in der dieser Film spielt, bereiten sich auf die Jagd vor, indem sie den Segen der Erdmutter einholen – und zwar hand- bzw. schwanzfest, denn ihr Fruchtbarkeitsritus sieht vor, dass sie mit ihren erigierten Penissen in kleinen Löchern im Boden herumstochern bis sich aus ihnen heißester Samen ergießt.

Bis hierhin sind noch nicht ganz zwanzig Minuten von ULTIME GRIDA DALLA SAVANA vergangen. Wie die restlichen siebzig vergehen werden, dürfte jetzt aber für jeden schon problemlos zu erraten sein. Im Grunde speisen sich die Szenen, aus denen Climati und Morra ihren Film zusammenmontiert haben, aus einer überschaubaren Anzahl von Quellen. Vorherrschend sind die bereits beschriebenen Jagdaufnahmen, in denen Tiere jeglicher Art zwar recht garstig ihr Leben lassen müssen, das aber oft und gerne in der ebenfalls bereits beschriebenen überästhetisierenden Weise, die es mir schwer macht, ob ich die jeweiligen Todeskämpfe nun zuallererst schön oder grässlich finden soll. Zu erwähnen wären hier noch: Eine Fuchsjagd in England, bei der ein gefangenes Tier den wie von Sinnen rasenden Hunden zum Fraß vorgeworfen wird. In Zeitlupe dürfen wir zuschauen wie die Meute das Füchschen im wahrsten Wortsinne in Stücke reißt. Eine ähnlich graphisch Hatz auf einen Puma, der sich auf den Kronen eines Baumes versteckt hält, und, bevor seine Verfolger ihn endlich zu greifen bekommen, vorher noch einem Hund mit der Kralle den Bauch aufschlitzt, dass ihm die Eingeweide herauspurzeln. Dann noch die obligatorische Elefantenjagd, deren Bilder mir ebenfalls vorkommen, als habe ich sie so oder so ähnlich bereits in AFRICA ADDIO gesehen. Seltener, aber nichtsdestotrotz vorhanden, sind Szenen, in denen der Mensch deshalb Tieren nachstellt, um sie vor Gefahren wie dem Aussterben oder dem Erschossen-Werden zu retten. Der Höhepunkt eines solchen romantischeren Blicks auf das Verhältnis zwischen den Spezies stellt, denke ich, das Finale dar, dass es fertigbringt, mich ähnlich emotional zu manipulieren wie der außerordentlich starke Anfang: Ein weiterer Einsiedler lebt allein in seiner Hütte irgendwo im eisigen Norden. Über die Jahre hat er das Vertrauen eines benachbarten Wolfrudels gewinnen können. Er ruft sie, indem er ihr Geheul nachahmt, und streichelt ihre Schnauzen, nachdem sie sich ihm wie gute Freunde genähert haben. Allerdings verblassen solche anrührenden Momente ziemlich in Anbetracht von einigen Szenen, bei denen es mir kaum gelingt, das Lachen zu unterdrücken, das mir unfreiwillige Komik üblicherweise in die Kehle bläst. Wenn gegen Ende zu zugebenermaßen ansprechenden Natur- und Tieraufnahmen, die in keiner dieser alten ARD- oder ZDF-Dokus zur besten Sendezeit negativ aufgefallen wären, ein kitschiger Popsong ertönt mit Zeilen wie „Let’s take the chance, there still is time, for you and me!“, dann stellt sich mir die Frage genauso, wie ernst den Machern ihr Machwerk denn selbst gewesen ist, wie bei den – ebenfalls fast schon ikonisch zu nennenden – Aufnahmen weiterer afrikanischer Stammeskrieger, die sich auf die Jagd vorbereiten, indem sie nackt im Gleichtakt auf der Stelle springen – was Climatis Kamera, warum auch immer, in Zeitlupe und mit Fokus auf die graziös hüpfenden Geschlechtsteile der Männer illustrieren muss. Ilona Stallers Brüste unter den Hippie zu entdecken – ich kenne sie gut genug, um mir ziemlich sicher zu sein, dass es ihre gewesen sind – und eine lange Comedy-Einlage zur Auflockerung der Fuchsjagd, in der eine Gruppe Tierschützer eine läufige Hündin namens Samantha benutzt, um die Jagdhunde auf eine falsche Fährt, sprich: in einen Bus zu locken, auf den „No Blood, but Love“ geschmiert ist, dort einzusperren und somit an der weiteren Hatz zu hindern, tun ihr Übriges, um das Pendel bei ULTIME GRIDA DALLA SAVANA wesentlich öfter in den Bereich ausschlagen zu lassen, in dem ich mir den Kopf kratze, als in den, in dem ich bereit bin anerkennend zu nicken.

Interessanterweise finden sich in ULTIME GRIDA DALLA SAVANA etwa nach einer knappen Stunde Laufzeit aber auch einige Anmerkungen aus Moravias gottgleichem Off, von denen man, wenn man denn will, durchaus behaupten könnte, sie würden auf einer Metaebene kritisch das Mondo-Genre und vorliegenden Film selbst reflektieren. Zu Aufnahmen von Bären, die den Fluss hinauf schwimmende Lachse aus dem Wasser fischen, denkt Moravia laut darüber nach, dass wir vermutlich erst durch bestimmte Bilder und mit diesen bestimmten Bildern verknüpften bestimmten Bedeutungen dahingehend konditioniert worden sind, wie wir bestimmte Tiere und bestimmte Vorgänge innerhalb von Flora und Fauna weniger intellektuell, sondern vor allem emotional wahrnehmen. Diese Braunbären, die da mit ihren Tatzen Leben rauben, die sind einzig und allein deshalb putzig und knuffig für uns, weil sie einem uns vertrauten Anthropomorphismus entsprechen: Mit solchen Bären können wir uns, allein weil in unseren Kinderzimmern welche gesessen haben, leichter identifizieren als mit den Lachsen, die keine Stimme, kein flauschiges Fell, keine süßen Schnäuzchen haben. Einige Tierarten, darunter eben die meisten Fische, dürfen gequält und getötet werden, ohne dass es uns, denen sie so gut wie überhaupt nicht ähnlich sind, großartig kümmern würde. An anderer Stelle, nämlich bei Szenen, die während des großen Gegenkultur-Musikfestivals auf der Isle of Wright spielen, wird von Moravia die Friedensbotschaft hinterfragt, die die meisten Besucher des Events demonstrativ zur Schau tragen. Liebe, Friede, Eierkuchen, schön und gut – doch, dass besagte Eier aus einer Legebatterie stammen, das mag niemand von den jungen Leuten so genau wissen. Moravia merkt an: Allein um die unzähligen Festivalgäste zu ernähren, müssen so und so viele Rinder unter schrecklichen Bedingungen in Schlachthäusern ächzen – und wie um das Argument, dass auch bestimmte Todesarten von unserer Gesellschaft schlicht unter massivem Einsatz von Scheuklappen aus der kollektiven Wahrnehmung ausgesperrt werden, zu unterstreichen, tut ULTIME GRIDA DALLA SAVANA in diesem Moment eben nicht genau das, was ich nun eigentlich von ihm erwartet hätte – nämlich zu Schlachthausszenen mindestens auf dem Level von George Franjus LE SANGE DES BÊTES (1948) zu wechseln.

Nicht immer gibt sich Climatis und Morras Film, wie man schon erahnen kann, derart nachdenklich. Im Gegenteil: Am genau entgegensetzten Ende der Skala sind zwei Szenen zu finden, die ULTIME GRIDA DALLA SAVANA einen eher zweifelhaften Ruf eingebracht haben. Die erste ist zugleich die berühmteste: Knapp drei Minuten, über die sich heute noch Experten und Pseudo-Experten die Köpfe zerbrechen und einschlagen, ob sie denn nun authentisch ist oder doch nur ein elaborierter Fake. „Le scene seguenti sono state riprese da due turisti, Karl Zhoen e Resy Cohen, presenti a Wallasee, sull’Angola Border, il 18 Febbraio 1975”, steht über den Bildern zu lesen, die uns (angeblich) die letzten Lebenssekunden eines gewissen Pit Dernitz zeigen, seines Zeichens Familienvater, Afrikatourist, Safariteilnehmer und einer der mutigsten oder leichtsinnigsten Mensch, die dieser Planet jemals erlebt hat, wenn es denn wirklich stimmt, dass er sich, wie uns die Aufnahmen weismachen wollen, einzig bewaffnet mit einer Filmkamera mitten hinein in ein Rudel freilebender, wilder, hungriger Löwen begeben hat. Die lassen sich nicht lange bitten, fallen über den Herrn her und zerreißen ihn vor den Augen seiner Familie und zweier Kameras, aus deren Material dann später, heißt es, die besagten drei Minuten für Dernitzs Lebensversicherung zusammengesetzt worden sind, deren Vertreter von den Verbliebenen haben wissen wollen, ob der Tote für sein Ableben selbst verantwortlich ist oder nicht. Letztere Frage dürfte jeder, der den Film gesehen hat, mit einem eindeutigen Ja beantworten. Die andere Frage, die, ob Climati und Morra uns hier hinter Lichts führen oder mit offenen Karten spielen, wird wohl, sollten in ihren eigenen Nachlässen nicht doch noch ein Bekennerschreiben auftauchen, nie endgültig geklärt werden - selbst wenn mir mein Gefühl regelrecht zuschreit, dass ich den beiden Herren in diesem Fall kein bisschen über den Weg trauen darf. Sollte Dernitzs Tod echt sein, was ich bezweifle, dann Gratulation an das Schicksal, dass ihn in nicht weniger als drei Perspektiven hat festhalten zu lassen. Da wären zum einen die beiden erwähnten Kameras von Herr Zhoen und Frau Cohen, die abwechselnd auf den von den Löwen niedergerungenen Dernitz und seine Familie zielen, vor allem die Ehefrau, die ihm, scheint es, intuitiv zu Hilfe eilen möchte, dann aber, zur Vernunft kommend, doch wieder zurück ins Auto steigt, und ein bitterlich weinendes Baby auf einem der Jeep-Rücksitze. Dann gibt es noch, quasi als Film-im-Film, die letzten Bilder von Dernitzs eigener Kamera: Einer der Löwen, der ihn anfunkelt und das Maul aufreißt, bevor ihn ein anderer von der Seite einfach zu Boden schubst. Sollte Dernitzs Tod ein Fake sein, was ich schwer annehme, dann Gratulation an Climati und Morra dafür, dass sie ihre Fähigkeit an Kamera und Schnitt genutzt haben, um einen der ersten found-footage-Horrorfilme überhaupt zu inszeniere - zumal sämtliche Ingredienzien, zum Beispiel unmotivierte Zooms, hektische Kamerabewegungen, schnelle Schnitte, um die vermeintliche Authentizität zu unter-streichen bzw. zu verbergen, dass die Löwen mit Herrn Dernitz eher kuscheln als ihn wirklich zerfleischen und dass Dernitz irgendwann durch einen mit rohem Fleisch gefüllten Dummy ersetzt worden ist, oder die gesamte Film-im-Film-Thematik, die uns die Möglichkeit gibt, Dernitzs vermeintlichen Tod aus seinem eigenen Blickfeld regelrecht live mitzuerleben, sicher nicht weniger ihren Teil dazu beigetragen haben dürften, einen gewissen Ruggero Deodato etwa fünf Jahre später zu einem gewissen Meisterwerk namens CANNIBAL HOLOCAUST zu inspirieren.

Die zweite Schocksequenz, bei der mir aber nun wohl wirklich jeder zustimmen wird, dass sie von Anfang bis Ende gestellt ist, antizipiert ebenfalls so ziemlich alles, was man an Gräuel normalerweise mit dem italienischen Kannibalenfilm in Zusammenhang bringt. Erneut wackelt die Kamera in unruhigen Händen, erneut sind die Bilder deshalb weit entfernt von gestochener Schärfe, und erneut verkündigt eine Texteinblendung, wie authentisch doch ist, was wir gleich sehen werden – und irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass man bei italienischen Genrefilmen, wenn solche Texttafeln aufploppen, erst recht ganz besonders misstrauisch werden sollte. „La sequenza appartiene al fotografo dilettante Ramon Ordonez, geometra, e le immagini dalle quali si é tratta la ricostruzione del documento cinematografico, sono state riprese in 16mm e riportate a 24 fotogrammi di velocità“, steht da jedenfalls und zu sehen sind irgendwelche Söldnertypen, die Jagd auf Indios machen. Einer von ihnen befindet sich bereits in ihren Fängen. Man will den Kameramann auf Abstand halten, da fällt auch schon ein Schuss – laut und deutlich auf der Tonspur, wenn auch natürlich nachträglich hinzugefügt, denn ansonsten ist die Szene komplett stumm -, und der gefangenen Eingeborene auf die Seite. Die Kopfjäger, bärbeißige Männer, die uns in ähnlichen Gesichtsgroßaufnahmen vorgestellt werden wie ihre Kollegen in AFRICA ADDIO, sind mit ihrem Auftrag damit aber noch nicht zu Ende. Der sieht weiterhin vor, sämtliche Indios aus einem Waldgebiet zu vertreiben, wo seelenlose Kapitalisten einen Flughafen hinzusetzen beabsichtigen. Wie die Indios verschwinden, ist den Auftraggebern offenbar ziemlich gleichgültig, denn einmal losgelassen kennt die Söldnerbande kein Halt mehr, und nimmt zum Beispiel die Zündeleien von Alan Yates und seinem Team vorweg – ein Eingeborenenunterschlupf geht in helle Flammen auf -, feuert mit ihren Büchsen auf alles, was sich bewegt – die Indios werden gehetzt wie Vieh -, und setzt schließlich auch im Bereich des Sadismus neue Maßstäbe, wenn ein weiterer gefangener Indio zunächst seinen eigenen abgeschnittenen Penis in den Mund gestopft bekommt sowie skalpiert und teilweise zerstückelt wird. Gerade das ist eine Szene, die nicht nur über einen unfassbar suggestiven Handkameraeinsatz verfügt, sondern auch, was ihre sinnlose Rohheit betrifft, aus einem Guss mit den abstoßendsten Widerwärtigkeiten in beispielweise CANNIBAL FEROX (1981) stammen könnte – und das wohlgemerkt 1974, drei Jahre bevor Deodato mit ULTIMO MONDO CANNIBALE (1977) überhaupt erst die wirkliche Initialzündung für besagtes Genre geben sollte.

Obwohl der deutsche Verleihtitel einem weismachen will, ULTIME GRIDA DALLA SAVANA sei des Dschungels letzter Schrei, so handelt es sich bei dem Film vielmehr um den Auftakt zu einer Trilogie, mit deren folgenden beiden Teilen Morra und Climati, habe ich den Eindruck, vor allem Resterampenmaterial verpulvern wollten, das bereits 1974 entstanden ist, damals aber keine Verwendung gefunden hat, und ihnen anschließend dann doch als zu schade vorgekommen sein muss, es einfach in irgendwelchen Archiven verrotten zu lassen. Schon ihre zweite Kollaboration, SAVANA VIOLENTA von 1976, lässt einen klaren Fokus noch stärker vermissen als der Vorgänger. Aneinandergereiht werden mehr oder minder interessante Tieraufnahmen – wobei das Hauptaugenmerk erneut darauf liegt, dass die Tiere einander doch bitte möglichst grausam jagen und töten sollen (besonders schön bzw. perfide kann man das am Vorspann ablesen, der über Zeitlupenszenen von Zebras zerfleischenden Löwen und Äffchen hetzenden Leoparden läuft, die gerade das schmerzvolle Dahinscheiden der Opfer ästhetisch überbetonen) -, Skurriles aus aller Welt, das nun rein gar nichts mehr mit den Themenfeldern Fressen und Gefressenwerden zu tun hat - darunter ein entlegenes Gebirgsdorf in Kolumbien, das nur über eine Seilwinde erreicht werden kann, eine Klinik in den USA, wo sexuelle Frigidität dadurch geheilt werden soll, dass die Patienten einander gegenseitig vergewaltigen, oder Diamantenschmuggler, die ihre wertvolle Waren in den Enddärmen von Kühen verstecken -, und der üblichen Portion an Segmenten, die respektive schockieren oder amüsieren sollen – ich denke an die dressierten Äffchen, die bei der Wildsaujagd auf die Rücken der Beutetiere hüpfen, um diese zu verlangsamen, und wozu der Film alberne Wild-West-Musik abspielt, oder an die Aufnahmen von Pinguinen, die ihre Schnäbel zu einem Choral öffnen und schließen, der kein bisschen synchron zu ihrem Schnattern eingespielt wird, oder ein paar flüchtige Impressionen von einem Boot voller vier- bis fünfjähriger Indio-Mädchen, die, heißt es, von Sklavenhändlern ins nächstgelegene Bordell transportiert werden sollen, wo man sie solange aufziehen wird bis sie die Geschlechtsreife erreicht haben und ihr eigenes Geld verdienen können. Auch SAVANA VIOLENTA besticht immer wieder durch Bilder, in denen Morra und Climati das flirrende Licht einer unter- oder aufgehenden Sonne für pittoreske Rahmungen zu nutzen wissen – besonders ikonisch: ein indischer Fakir, der den Kopf wie ein Strauß im Erdreich verbuddelt hat, und regungslos den Sonnenstrahlen als Fläche zum Brechen dient -, und ebenso hat SAVANA VIOLENTA, wie schon der Vorgängerfilm, den einen oder anderen durchaus interessanten Moment – die Jagd auf Alligatoren und anderes Getier im New Yorker Abwassersystem fand ich genauso unterhaltsam wie viele der auf hohem Niveau funktionierenden Tieraufnahmen, auch wenn freilich die Häutungen von Leguanen oder Flughunden nun nichts ist, was viele Leute außerhalb eines Kannibalenfilms sehen wollen, und wahrscheinlich nicht mal unbedingt dort -, dennoch lassen sich die Abnutzungser-scheinungen beim besten Willen nicht verleugnen, und über weite Strecken wirkt SAVANA VIOLENTA wie das, was er offensichtlich ist: Ein Film, der ein bereits existierendes Konzept mit so gut wie keinen eigenen Innovationen noch einmal bis ins Detail wiederholt – und deshalb größtenteils langweilt. Auch ihren beiden Schockszenen aus ULTIME GRIDA DALLA SAVANA – der Löwentod des Pit Dernitz sowie die finale Indio-Jagd und –Zerhackstückung – haben Climati und Morra in SAVANA VIOLENTA zwei verstörende Geschwister zur Seite zu stellen versucht: Die Sequenz, in der eine Eingeborenenfrau ihr Neugeborenes im Sumpf verscharrt – zynisch spricht der nicht mehr aus Moravias Feder stammende Kommentar von einer bestimmten Form der Geburtenregelung innerhalb der Dritten Welt -, kann man als Variation auch in Deodatos CANNIBAL HOLOCAUST finden – dort jedoch wesentlich trostloser, sprich: ohne das Bäumchen, das die Mutter auf das Grab ihres Säuglings setzt, damit er in diesem weiterlebe -, und die Erschießung eines Diebs aus Not in einem Bürgerkriegsgebiet irgendwo in Lateinamerika relativ am Ende dürfte zwar genauso inszeniert sein, besitzt aber eine irgendwie tragisch-realistische Note dadurch, dass der treue Hund des Verurteilten ihn nicht mal im Stich lassen will, als ihn die Kugeln des Hinrichtungskommandos längst in eine Leiche verwandelt haben.

Dass Climati und Morra, die beide in der Zwischenzeit – wie kurios ist das bitte? - jeweils eine Formel-1-Dokumentation vorgelegt haben – im Falle Morras heißt sie FORMULA UNO, FEBBRE DALLA VELOCITÁ und stammt aus dem Jahre 1978, Climatis Beitrag zur Thematik wird im Jahre 1983 veröffentlicht, hört auf den wirklich tollen Namen TURBO TIME und hat Morra als Drehbuchautor im Cockpit -, dann noch 1984 eine dritte und letzte Mondo-Kollaboration nachschieben, kann ich mir nur dadurch erklären, dass sie irgendwelche offenen Rechnungen zum Begleichen hatten, denn aus künstlerischer Hinsicht setzt DOLCE E SELVAGGIO der steten Abwärtsspirale seit ULTIME GRIDA DALLA SAVANA einen wohl nicht mehr zu unterbietenden Schlusspunkt. Zwischen den beiden Polen Süße und Wildheit bewegt sich das ganze Sein hin und her – so lautet zusammengefasst die überaus philosophische Botschaft dieses Films, für den übrigens niemand Geringeres als Franco Prosperi die Off-Texte geschrieben hat. Süßheit und Wildheit, das sind auch die beiden Pole, in denen man Climatis und Morras bisheriges Mondo-Schaffen verorten kann – und fast schon folgerichtig kennt man mindestens ein Drittel der Szenen aus DOLCE E SELVAGGIO bereits aus den beiden Vorgängern: Der arme Fuchs, der zwischen den Jagdhundekiefern landet. Der stolze Hirsch von Patagonien, der auf seiner Flucht überaus malerisch vor der Kamera umherspringt. Sogar das einsame Bergdorf mit seinem Stahlkabel als einziger Verbindung zur Außenwelt - das alles kennt man bereits entweder aus ULTIME GRIDA DALLA SAVANA oder SAVANA VIOLENTA. Besonders verrückt wird es übrigens, wenn uns ein und dieselbe Szene zweimal unter verschiedenen Voraussetzungen verkauft wird. Eine Falkenjagd in ULTIME GRIDA DALLA SAVANA wird von, sagen wir, normalen mitteleuropäischen Falknern betrieben. In DOLCE E SELVAGGIO sind exakt die gleichen Szenen jedoch in die Ankunft eines Scheichs eingebettet, der europäischen Gästen zu seltsamem New-Age-Gesäusel seine Lieblingsfalken vorführt. Besonders bescheuert: Die berühmten hüpfenden Eingeborenen mit ihren tanzenden Geschlechtsteilen werden in ULTIME GRIDA DALLA SAVANA als Angehörige des Stammes der Lobi identifiziert, während sie in DOLCE E SELVAGGIO plötzlich aber zum Stamm der Mashoni gehören sollen.

Wenigstens aber sind Climati und Morra mit solchen Nachlässigkeiten konsequent, was ihre – wenn auch höchstwahrscheinlich unbeabsichtigte – Selbstreflexion des Mondo-Genres angeht. Zum Zeitpunkt, als DOLCE E SELVAGGIO entsteht, sind solche mit einem Bein in der Ethnographie, mit einem Bein im Experimentalfilm und mit dem dritten Bein – dem männlichen Phallus – in schonungsloser Exploitation stehende Werke wie ULTIME GRIDA DALLA SAVANA, die immerhin noch Wert auf einen gewissen Produktionsstandard legen, selbst bereits Relikte der Vergangenheit. Dabei muss man aber gerade auch Climatis und Morras einflussreiches Debut als einen wichtigen Grabesschaufel für den Untergang des klassischen Mondo-Kinos betrachten: Durch vorgegaukelt authentische Löwenattacken, Kannibalismus-Rituale oder amoklaufende Söldnerkommandos, die sich wie die sprichwörtliche Axt im Wald benehmen, haben Climati und Morra eigenhändig solchen Filmen wie FACES OF DEATH (1978) den Weg bereitet – und es ist mehr als ein Zufall, dass gerade das angebliche found-footage-Material zu Pit Dernitzs Tod im Rachen eines Löwenrudels noch 1993 in einer direct-to-video Shockumentary der Güteklasse Z wie TRACES OF DEATH völlig sinnbefreit recycelt wird. Während Teams wie Morra/Climati, Jacopetti/Prosperi oder Castiglioni/Castiglioni Anfang bis Mitte der 70er, mag man nun inhaltlich von ihren Filmen halten, was man will, ihren Zuschauern noch mit einem gewissen handwerklichen Können alle Perversionen dieser Welt vor Augen geführt haben, so fehlt davon in kruden Sammlungen wie FACES OF DEATH letztlich jede Spur, und nur die Perversionen bleiben übrig. Ganz so schlimm stehen die Dinge bei DOLCE E SELVAGGIO zwar noch nicht, doch der üble Synthie-Funk-Score aus der Plastikdose, lächerliche Aerobic-Aufnahmen in einem New Yorker Fitnessstudio, eine sichtlich gestellte Szene, in der ein angeblich iranischer Soldat von seinen irakischen Feinden dadurch hingerichtet wird, dass man ihn zwischen zwei Fahrzeugen bindet und somit lebendig zerreißen lässt, zwei Biologen, Männlein und Weiblein, die splitterfasernackt in der Wildnis seltene Vogelarten erforschen oder rhythmisch auf Landminen tretende und explodierende Steppentiere ermüden durch die stumpfe, uninspirierte Weise, mit der man all diese zusammenhanglosen Bilder nicht etwa zu verbinden versucht hat, sondern einfach ziellos hintereinander abspult, dann doch schon nach kurzer Zeit. Einen berührenden Moment immerhin hat DOLCE E SELVAGGIO ganz zum Schluss: Die querschnittsgelähmte Sue Strong, die, wie Donald Pleasance in PHENOMENA (1985), ein kleines Äffchen namens Henry als Pflegekraft bei sich in der Wohnung hält. Das Paradies liegt nicht hinter, sondern vor uns, resümiert Prosperi unter Eindruck dieses harmonischen Zusammenlebens von Mensch und Tier in einem anonymen Hochhausappartement in irgendeiner anonymen Großstadtmetropole. Bezogen auf das Mondo-Genre muss ich diese optimistische Prognose dann doch arg bezweifeln.
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Originaltitel: Nudo e crudele

Produktionsland: Italien 1984

Regie: Bitto Albertini
Zunehmend schnellere Flugzeuge machen es dem modernen Menschen möglich, von einem Kontinent zum nächsten in einem Tempo zu reisen, dass er das Hinter-Sich-Lassen tausender von Kilometer oftmals nicht mal mehr bewusst mitbekommt. Von Ost nach West, von Süd nach Nord – das alles sind nunmehr Strecken, die problemlos, quasi zwischen zwei Lidschlägen, gemeistert werden können. Doch trotz oder gerade wegen dieser Feststellung fragt sich der Off-Sprecher zu funkiger Musik von Nico Fidenco und Aufnahmen von startenden und landenden Flugzeugen: Hält die Erde für uns und vor uns denn noch immer nennenswerte Geheimnisse zurück? Der folgende Film – Bitto Albertinis Mondo NUDO E CRUDELE aus dem Jahre 1984 – soll angeblich gedreht worden sein, um eine Antwort auf genau diese Frage zu finden. Das Filmteam hat seine Siebensachen – Kameras, Mut und weitere Konservendosen voller Klänge aus der Werkstatt Nico Fidencos, die klingen, als seien sie ursprünglich für eine Sommer/Sonne/Strand-Party auf Ibiza gedacht gewesen -, zusammengepackt und sich auf die beschwerliche Reise in die Ferne und Fremde aufgemacht, um erneut, immerhin über zwanzig Jahre nach Jacopettis und Prosperis MONDO CANE, noch einmal allerhand Kuriositäten, Absurditäten und Gräuel auf uns loszulassen, die wir möglicherweise schon geglaubt haben, diese schöne, grausame Welt sei inzwischen vollkommen entzaubert, enträtselt und durchrationalisiert worden. Ihren Trip beginnen Albertini und seine Gang parallel an den beiden Polen, zwischen denen die gesamten kommenden achtzig Minuten oszillieren werden: Auf der einen Seite die graphische Geburt eines Menschenkindes und einer Ziege, auf der andern ein alter Hindu, der zum Ganges pilgert, um dort auf den Tod zu warten und anschließend von seinen Glaubensbrüdern in den heiligen Fluten bestattet zu werden. Was, fragt sich und uns erneut der Sprecher aus dem Off, hält das Leben in dieser Rahmung aus Geburt und Tod für die ihm ausgelieferten Menschen an Wunderlichkeiten bereit? Kann, frage ich mich und euch, ein Film mit einem Titel wie NUDO E CRUDELE dazu wirklich eine Erklärung liefern, die, erneut, nicht bereits Jacopetti und Prosperi, je aus Perspektive, zwanzig Jahre zuvor entweder bereits gefunden haben oder an der sie kläglich gescheitert sind?

Ich nehme die Antwort gleich vorweg: In den frühen bis späten 80ern hat der Mondo-Film seinen Zenit längst überschritten, und die Meisterwerke von Jacopetti und Prosperi wie AFRICA ADDIO oder ADDIO ZIO TOM liegen weit zurück in einer goldenen Vergangenheit, von der es bloß noch wenige kümmerliche Strahlen in die Gegenwart herüberschaffen. Auch die zweite Welle italienischer Mondo-Filme, getragen vor allem von den beiden Konkurrenzteams um Climati/Morra und Castiglioni/Castiglioni hat sich aufgebäumt, ist gebrochen und danach sanglos im Sand verlaufen. Das Ruder übernehmen haben inzwischen Shockumentaries wie die berühmt-berüchtigten FACES OF DEATH, die noch fragmentarischer, wahllo-ser und, wenn man so will, sinnloser reelle und vor allem gestellte Bilder von Tod und Sterben aneinanderreihen, oder strukturell ähnlich ziellose Sex-Mondos wie LIBIDOMANIA, für die das Gleiche gilt, nur eben, dass ihre Aufnahmen nicht in Hinrichtungszellen, Schlachthäusern oder Autowracks entstanden sind, sondern weit unterhalb der Gürtellinie. Wo MONDO CANE als Genre-Grundstein durchaus noch über eine professionelle Machart und über eine idiosynkratische Ästhetik verfügt, sind Anfang der 80er selbst Antonio Climati und Mario Morra, die mit ULTIME GRIDA DALLA SAVANE immerhin einen der besseren Mondos der 70er produziert haben, mit ihrem DOLCE E SELVAGGIO bei etwas angekommen, das ich guten Gewissens als antiquierten Vorläufer heutiger Videoplattformen wie Youtube oder Liveleaks bezeichnen würde: Random clips folgen auf random clips, ohne dass irgendein Zusammenhang zwischen ihnen bestehen würde. Der einzige Unterschied: Bei DOLCE E SELVAGGIO sind die Einzelschnipsel, Zeit und Medium geschuldet, noch diachron und nicht synchron gereiht, d.h. sie laufen ohne mein Zutun ganz von selbst, nachdem ich sie einmal in Gang gesetzt habe. Trotzdem findet man sogar den heutigen Mousecursor in solchen Filmen wieder, nämlich in Form der häufigen Flugzeug- und Zug-Aufnahmen, die wie Kitt zwischen den bruchstückhaften Segmenten fungieren und verzweifelt sich abmühen, sie irgendwie in eine übergeordnete Rahmung zu bringen. Schon die Eröffnung von NUDO E CRUDELE macht klar: Den Film kann man exakt in den gleichen Topf werfen, und tatsächlich ist Albertinis Filmchen noch mal ein paar Güteklassen unterhalb von DOLCE E SELVAGGIO und sogar, finde ich, FACES OF DEATH anzusiedeln.

Das liegt vor allem daran, dass NUDO E CRUDELE nicht mal den halbherzigen Versuch unternimmt, zu verhehlen, dass es sich bei ihm um einen ziemlich lieblos zusammengesetzten Flickenteppich handelt. Eine typische Szenenfolge in vorliegendem Film sieht beispielweise wie folgt aus: Mit Affen werden in irgendeinem US-Zoo schlüpfrige Experimente veranstaltet. Die sie betreuenden Forscher zeigen den Primaten ununterbrochen Hardcore-Pornos und erhoffen sich davon tiefergehende Erkenntnisse über das Abstammungsverhältnis von Mensch und Affe. Die Äffchen allerdings scheinen ihre Fellpflege wesentlich interessanter zu finden als das Gerammel auf den Bildschirmen. Nach einem Schnitt sind wir plötzlich in der afrikanischen Steppe, wo, das behauptet zumindest der Off-Sprecher, ein Nashorn sich in eine Giraffe verliebt hat und dieser nachstellt. Dabei sind Nashorn und Giraffe niemals gemeinsam im Bild zu sehen, und die angebliche tragikomische Liebesgeschichte wird allein – und zwar ziemlich schlecht – durch die Montage vermittelt. Dazu erklingt Musik aus tiefen Blasinstrumenten, die die plumpen Bewegungen des Rhinos untermalen soll und die gesamte Szene durch solche Mickey-Mousing fast wie Material aus den Mülleimern der Verantwortlichen von Meilensteinen des Anthropomorphismus wie ANIMALS ARE BEAUTIFUL PEOPLE wirken lässt. Kaum eine Minute dauert dieser Blödsinn, bevor uns der nächste Schnitt in einen kleinen arabischen Staat versetzt, wo ein Mann, der sich angeblich an einer Frau vergriffen hat, auf seine Exekution wartet. Die besteht darin, dass ihm auf dem Marktplatz vor den Augen hunderter Schaulustiger – und vor allem den Augen, die der einzig nicht verschleierte Teil im Gesicht seines Opfers sind -, der Penis natürlich in aller effekthascherischen Schönheit abgehackt wird. An das abgetrennte, freilich unechte, Glied schließt – da hat jemand zu viele Hitchcock-Filme geschaut – eine der oben erwähnten Kitt-Aufnahmen eines fahrenden Zugs an, der unser Team nicht etwa irgendwohin bringt, sondern lediglich dazu da ist, die jetzt folgenden Großaufnahmen von Ruinen altrömischer Bordelle inklusive Phallusstatuen in der Montage nicht allzu holprig aussehen zu lassen – ein Vorhaben, das allein schon dadurch vereitelt wird, dass der Ausflug in die Ewige Stadt höchstens eine halbe Minute dauert, und wir dann jäh mitten in Zeremonien eines Peniskultes irgendwo in Japan geraten sind, von denen ich mir fast sicher bin, dass ich die bereits aus SHOCKING ASIA besser kenne als mir lieb ist.

Noch mehr als sich NUDO E CRUDELE in seiner vollen Länge zu betrachten, ermüdet mich, diesen Film schriftlich nachzuskizzieren, weshalb ich das jetzt sein lasse, und mich auf wenige allgemeine Äußerungen beschränke: Wirklich nichts in vorliegender Verschwendung von kostbarer Lebenszeit hat man nicht schon in anderen Mondos gesehen, und dort größtenteils, wenn solch ein Wort in dem Kontext überhaupt angebracht ist, wesentlich besser: Eine Geschlechtsumwandlung, bei der die Kamera förmlich an den Geschlechtsorganen des Patienten klebt. Ein Initiationsritus eines Eingeborenenstamms, bei der die Knaben, um ins Erwachsenenalter eintreten zu dürfen, mit Pfeilen auf Rinderkehlen zielen und danach das aus den Wunden schießende Blut trinken müssen. Leoparden, Hyänen und Geier bei der Jagd bzw. beim Fressen des Aases, das nach bereits erfolgten Jagden in der Savanne liegengeblieben ist. Ich frage mich ernsthaft, welcher Hund mit solchen spekulativen Szenen 1984 noch hinter welchem Ofen hervorgelockt werden sollte. Dabei sind das aber noch die reißerischsten Aufnahmen in der bunten Wundertüte von NUDO E CRUDELE. Ein Großteil seiner Szenen behandelt Themen, von denen ich mich genauso ernsthaft frage, welcher Hahn denn überhaupt jemals nach ihnen gekräht haben mag: Eine Python und ein Kaninchen leben als beste Freunde zusammen in einem Gehege. In Arizona werden von Möchtegern-Cowboys wilde Pferde für Wild-West-Shows zugeritten. In Japan nehmen die Männer zum Arm-Wrestling nicht etwa ihre Arme, sondern übergroße Dildos. Letzte Woche hat sich ein Marienkäfer in mein Zimmer verirrt und ich habe ihn in die hohle Hand gekehrt und draußen auf die Fensterbank gesetzt.

Was NUDO E CRUDELE jedoch beinahe wieder rettet – und die Betonung liegt bei diesem Satz auf dem beinahe -, das sind eine hohe Anzahl von Spielszenen, die, wenn ich den eigentlichen Kontext nicht kennen würde, mir auch gut und gerne als Versatzstücke aus einer ziemlich tumben Sexklamotten hätten verkauft werden können. Ach, und wer weiß: Da NUDO E CRUDELE sowohl die Pferdesexszene aus Borowczyks LA BÊTE sowie die Alligatoren-Szene aus FACES OF DEATH recycelt, und ich regelrecht im Urin habe, dass auch das meiste übrige Material ursprünglich nicht für vorliegenden Film gedreht worden ist, halte ich es gar nicht für unwahrscheinlich, dass die größte Anstrengung für Albertini und sein Team es gewesen sein mag, durch verschiedene Filmarchive zu streifen und genug Ramsch zusammenzusuchen, den man ihnen mit Kusshand überlassen hat. Die drei schlechtesten respektive besten Szenen von NUDO E CRUDELE möchte ich, da nach meiner Kritik die wenigen Menschen – wie viele mögen das sein? Mehr als fünf? -, die überhaupt jemals an diesem zu Recht in der Versenkung verbuddelten Schmarrn interessiert gewesen sind, ihn sich wohl sicher niemals ihrem Gemüt zuführen werden, dann doch noch kurz nacherzählen: 1. Unser Filmteam streift scheinbar ohne rechtes Ziel durch eine arabische Großstadt. Da hält plötzlich ein Auto neben den Männern. Das Fenster wird runtergekurbelt und eine verschleierte Dame zwinkert einem von ihnen kokett zu. Kurz darauf ist er, obwohl er weiß, dass sich das in einem muslimischen Staat nicht ziemt – die Kombination Penis und Hackklotz zu Beginn hat es schon bewiesen! -, mit ihr in einem Hotelzimmer gestrandet. Sie legt einen erstklassigen Bauchtanz hin und beginnt die Hüllen fallen zu lassen. Ihr Fehler: Sie enthüllt nicht nur ihren attraktiven Körper, sondern auch, dass sie die Mätresse eines Scheichs ist. Der aber, sagt sie bzw. unser Off-Kommentator, befriedige sie nur einmal die Woche, und sie sei doch so heiß auf Schwanz. Schon als er das Wort Scheich hört ergreift der Hasenfuß vom Filmteam jedoch die Flucht. Da ist ihm sein Penis doch lieber als eine noch so aufregende Liebesnacht mit der orientalischen Schönheit. 2. Mitten in der Arabischen Wüste befinden sich Grenzposten, die aus nichts weiter bestehen als einem Wärterhäuschen und einer Schranke, umgeben von etlichen Kilometern Sand. Mit dem Jeep klappert unser Filmteam diese einsamen Orte ab, muss bei jedem Papiere und Lizenzen vorzeigen, der Wächter dann sein Büdchen verlassen, mit ernster Miene die Schranke heben und das Fahrzeug passieren lassen. Einmal erlauben sich unsere Freunde einen Streich und fahren einfach keck um die Schranke herum. Sofort läuft der Wärter ihnen wild gestikulierend hinterher. Sie kehren um, erklären ihm, dass es nur ein Spaß sein sollte, und alle lachen, schütteln Hände, und formell kann die Durchreise mit ernsten Mienen und Heben und Senkend der Schranke noch einmal wiederholt werden. 3. Einem reichen Pärchen in irgendeinem südlichen Land ist während ihrer Abwesenheit schon mehrmals der Bungalow geplündert worden. Statt einer Alarmanlage besorgen sie sich nun eine Giftschlange, die sie, scheint es, einfach in ihrem Häuschen zurücklassen. Kaum ist ihr Wagen um die Ecke gebogen, springt schon der nächste Dieb aus den Büschen und dringt in die Hütte ein. Die Kamera bleibt draußen, und zeichnet lediglich die offenstehende Tür und die schrillen Schreie auf, die durch den Spalt herausdringen. Als das Pärchen zurückkommt, bleibt ihnen nichts weiter als den Tod des Langfingers festzustellen.

Gerade wenn ich an letztere Szene denke kann ich mir selbst jetzt noch kaum ein Grinsen verkneifen. Schon lange habe ich nichts derart unfreiwillig Komisches gesehen und fast noch nie etwas, bei dem die Regeln der Kinematographie derart außer Kraft gesetzt worden sind. Fast bin ich versucht, mein Urteil über NUDO E CRUDELE noch einmal zu überdenken. Sollte Bitto Albertini, immerhin ein verdienter Kameramann und Regisseur, der zur Produktionszeit vorliegenden Films bereits über sechzig Lenze zählte, nicht am Ende doch eine Art Meta-Mondo habe schaffen wollen, eine Genre-Demontage, ein subversives Spiel, dessen Sinn es ist, uns unsere eigene Schaulust vorzuführen? Nein, wenigstens diesmal werde ich mich bremsen und NUDO E CRUDELE als das benennen, was er ist: Ein wertloses, billig heruntergekurbeltes, schamlos plagiierendes, ästhetisch, technisch und inhaltlich schlicht nicht vorhandenes Stück Zelluloid, um das jeder einen weiten Bogen machen sollte, der sich nicht wirklich ALLES geben möchte. Bei dem Gedanken, dass Albertini danach noch zwei weitere Mondos gedreht hat – nämlich MONDO SENZA VELI und, oh Graus!, NUDO E CRUDELE 2 -, läuft es mir eiskalt den Rücken runter…
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Originaltitel: L'acqua miracolosa

Produktionsland: Italien 1914

Regie: Eleuterio Rodolfi

Darsteller: Eleuterio Rodolfi, Gigetta Morano
Chevalier Cornelio könnte der glücklichste Mensch der Welt sein. Er wohnt nicht schlecht, hat eine hübsche Frau, seine Kassen sind gefüllt – bloß mit dem Kindersegen will es nicht so recht klappen. Dr. Rodolfi, sein Untermieter, schlägt deshalb vor, die Angetraute doch zur Kur in ein bestimmtes Heilbad zu schicken, das noch jeden von seinen Mängeln befreit hat. Was Cornelio nicht ahnt: Schon lange tauschen Rodolfi und Madame heimlich Liebesbriefe über ein Seil aus, das von seinem Balkon hinab zu ihrem verläuft. Deshalb schöpft er auch nicht den geringsten Verdacht, als der Doktor seine Patientin in den Kurort begleiten, und es dort sicher nicht bei ausgiebigen Spaziergängen durch die Lustgärten bewenden lässt. Kaum ist Cornelios Frau zurück, beginnt ihr Bauch schon dick zu werden. Zwei süße Kinder sind das Ergebnis, Cornelios ganzer Stolz. Aber dass es weniger die Zauberkräfte des Wunderwassers gewesen sind, die Madame so gebärfreudig haben werden lassen, sondern ein ganz andere magische Flüssigkeit, nämlich Rodolfis Sperma, dürfte zu diesem Zeitpunkt jedem klar sein, außer dem Chevalier selbst…

L’ACQUA MIRACOLOSA ist einer dieser knapp zehnminütigen frühen narrativen Filme, die derart voller kreativer Ideen stecken, dass man das banale Drehbuch über ihnen liebend gerne vergisst. Produziert wurde die luftig-leichte Ehebruchskomödie von der Turiner Ambrosio Film, geschrieben von Arrigo Frusta, dessen LA MADRE E LA MORTE ich kürzlich ziemlich abgefeiert habe, und in Szene gesetzt von dem äußerst umtriebigen Eleuterio Rodolfi, auf dessen Konto bis in die 20er Jahre hinein weit über hundert Werke als Regisseur, Drehbuchautor und Schauspieler gehen. Interessanterweise tritt Rodolfi auch in L’AQUA MIRACOLOSA auf, und zwar unter seinem eigenen Namen, lediglich den Doktortitel scheint er sich angedichtet zu haben. Er ist dann auch Dreh- und Angelpunkt des Geschehens, ein schürzenjagender Frauenarzt, der listig genug ist, einen vermeintlich harmlosen Kuraufenthalt zum Verteilen des eigenen Samens auf eine Weise zu nutzen, dass am Ende alle involvierten Parteien glücklich sind: Don Cornelio hat seine ersehnten Erben und seine Frau wenigstens einmal ungestört ihren Liebhaber genießen können. Den eigentlichen Ehebruch verhandelt L’AQUA MIRACOLOSA mit putziger Subversion und einem Augenzwinkern nach dem Motto: Nur was jemand weiß, macht jemanden heiß.

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Neben dem frivolen, ungezwungenen Treiben auf der Inhaltsebene versteht es L’AQUA MIRACOLOSA aber vor allem, all das auch auf die visuelle zu übersetzen. Schon der Eröffnungsshot ist ein Traum: Im Querschnitt wird uns dort das Haus gezeigt, in dem, unter anderem, Rodolfi und die Cornelios wohnen. Rechts unten scheint sich Madame in ihrem Eheleben und in ihren Alltagspflichten ziemlich zu langweilen. Direkt darüber ist der Doktor dabei, irgendwelche Essenzen zusammenzumixen, die diesmal noch nichts mit seinen eigenen Körperflüssigkeiten zu tun haben. In der Mitte verläuft die Treppe, die diese beiden Parteien auf der rechten Seite von denen der linken separiert, wo, unten, ein verwaistes Kinderbettchen steht, und darüber eine Gruppe ungezogener Bengel dabei ist, ihre Spielsachen zu zertrümmen und irgendwann das halbe Zimmer auseinanderzunehmen. Die gesamte Komposition erinnert sowohl an ein Puppenhaus als auch an eine archaische Form des split-screens, wie ihn zum Beispiel Andy Warhol in seinem Experimentalfilmklassiker CHELSEA GIRLS eingesetzt hat. Jede der vier Wohnungen bildet ein eigenes Segment, einen eigenen Bildkader oder –schirm, deren Inhalte zwar synchron zueinander verlaufen, die unserem Auge aber dennoch die Wahlmöglichkeit geben, ob es nun lieber bei Rodolfi, bei Madame Cornelio oder bei den randalierenden Gören verweilen möchte.

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Das ist nicht die einzige hübsche Idee in L’AQUA MIRACOLOSA. Es gibt außerdem eine witzige Traumszene, in der Cornelio, während seine Gattin schon in den Armen von Rodolfi im Kurbad liegt, sich eine Bande Kinder imaginiert, die sein Bett stürmen, auf ihm herumturnen, ihn mit Küsschen herzen. Dass Rodolfi und Madame intim miteinander werden, veranschaulicht der Film, indem er sie beim Flanieren in erotisch knisternder Natur zeigt. Zum ersten und einzigen Mal bewegt sich hierbei die sonst statische Kamera: Eine Anspielung darauf, dass, sobald unsere Helden hinter der nächsten Wegkreuzung verschwunden sind, auch bei ihnen die starren Floskeln und Gesten endlich enden werden? Dem Fass endgültig den Boden schlägt jedoch die allerletzte Szene aus. Für alle, die es noch nicht verstanden haben, dass keine Heilige Quelle die Lenden von Frau Cornelio befruchtet hat, unterstreicht Rodolfi die aktive Partizipation des Arztes noch einmal mit einem Spezialeffekt. Madame ist allein in ihrer Stube, neben sich ein Glas mit dem angeblichen Wunderwasser. In diesem erscheint nun der Doktor als kleines Männchen und lässt keinen Zweifel mehr daran, wo besagte Heilige Quelle in Wirklichkeit zu finden ist. L’AQUA MIRACOLOSA unterstreicht für mich einmal mehr vor allem eins: Früher war nicht alles besser oder schlechter, sondern einfach anders.

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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Originaltitel: Love

Produktionsland: Frankreich / Belgien 2015

Regie: Gaspar Noé

Darsteller: Aomi Muyock, Karl Glusman, Klara Kristin, Gaspar Noé
Vier sich teilweise ergänzende, sich teilweise widersprechende Thesen zu Gaspar Noés Film LOVE:

1. Gaspar Noés LOVE ist ein bescheidener Film.
Schön in ihrer Schlichtheit und schlicht in ihrer Schönheit ist die Eröffnungsszene. Ein Mann und eine Frau liegen gemeinsam auf einem Bett. Er stimuliert langsam ihre Klitoris, sie hat die Hand an seinem Penis, den sie genauso langsam reibt. Irgendwann ejakuliert er, unspektakulär, still und leise. Die Kamera fängt diese gegenseitige Masturbation von einem fixen Standpunkt aus ein. Sie urteilt nicht, überdramatisiert nicht. Das sind einfach nur zwei Menschen, die Sex miteinander haben.
Sie heißt Electra, er heißt Murphy. Kennengelernt haben sie sich in Paris, wo sie lebt und er hingezogen ist. Sie hat irgendwas mit Kunst zu tun, er ist Austauschstudent aus Amerika und möchte Filme aus Blut, Tränen und Sperma drehen, wie er ihr bei einem ihrer zahlreichen Spaziergänge erklärt. Sie leben in einer Blase, scheint es, und müssen weder einkaufen gehen noch irgendwie Geld verdienen, nicht mal in Hörsälen sieht man ihn. Stattdessen haben sie oft und ausgiebig Sex, und hängen in Clubs ab, und nehmen Drogen von Blunts bis zu Kokain. Über ihre familiären und sozialen Hintergründe wird sich ebenfalls ausgeschwiegen. Wichtiger ist Murphys Lieblingsfilm. Er ist ziemlich entsetzt, als Electra ihm gesteht, Kubricks 2001 nie gesehen zu haben. Sein Appartement ist ein Museum von Filmpostern. Alles, was Rang und Namen hat, blickt uns von den Wänden mit großen Augen an: Tod Brownings FREAKS, und Fritz Langs M, und Pasolinis SALÓ. Auch dabei ist, was keinen Rang und einen schlechten Namen hat, zum Beispiel D’Amatos EMANUELLE IN AMERICA oder Morrisseys FLESH FOR FRANKENSTEIN.
Die Tage, Wochen, Monate ziehen dahin. Electra und Murphy lieben sich, streiten sich, vertragen sich wieder, lieben sich umso mehr. Was ist Deine ultimative Sex-Phantasie?, fragt er sie. Ihre Antwort ist so schlicht und schön wie ihr gesamtes Liebesleben, das sich durch kaum Extreme, nur durch extreme Leidenschaft auszeichnet: Einmal mit einem anderen Mädchen ins Bett springen. Murphy erwidert: Im Ernst? Das ist auch meine ultimative Sex-Phantasie! Schnell ist ein Opfer gefunden: Die neue Nachbarin Omi, die die Beiden unten bei den Briefkästen im Hausflur ansprechen und spontan zum Essen einladen. Die Gespräche, die sie führen, sind schlicht und schön. Ja, ich bin gegen Abtreibung, sagt Omi, als Murphy sie fragt, denn ihre eigene Mutter habe sie nicht bekommen wollen, und hätte sie abgetrieben, säße sie jetzt nicht hier bei ihnen. Aber wie kann man gegen Abtreibung sein, wenn man, wie wir, Fleisch isst?, fragt Murphy und verweist auf ihre vollen Teller. Kurz darauf wird schon wieder geschwiegen. Man liegt auf Murphys Bett, kifft elegisch, beginnt sich allmählich anzunähern, erst ein Kuss, dann zwei, und irgendwann sind sie alle drei nackt und Murphy streift sich ein Kondom über, und Electra liebkost Omis Brüste, und Omi liebkost Murphys Hintern.
Der Sex in LOVE ist echt wie er nur sein kann. Jede Vagina wird tatsächlich penetriert, jedes Glied tatsächlich zum Ejakulieren gebracht. Trotzdem unterscheidet sich Noés Vision der Sexualität weit von den Bildern handelsüblicher Pornofilme vom Anbeginn der Kinematographie bis zu Youporn. Der Sex in LOVE ist echt wie er nur sein kann. Da wird nicht übertrieben gestöhnt, da werden keine verrückten Posen ausprobiert, da fehlt die SM-Gerte genauso wie irgendwelche Monster-Dildos. Es sind einfach nur Körper, die sich vereinigen, so wie in jedem Schlafzimmer. Die Kamera urteilt nicht, überdramatisiert nicht. Trotzdem ist das Ganze natürlich überaus ästhetisch eingefangen. Die Körper entsprechen den gängigen westlichen Schönheitsidealen, das stimmt. Aber die Ästhetik entspricht Schlichtheitsidealen, wie sie die westliche Pornographie schon lange vergessen hat. Noé bringt es immer wieder in Interviews auf den Punkt: Für mich ist ein Penis genauso ein Körperteil wie eine Hand. Wieso sollte ich ihn nicht genauso filmen wie diese?
Electra verreist, Murphy bleibt zurück, und hat am gegenüberliegenden Fenster dauernd Omi vor der Nase. Es kommt wie es kommen muss, zu Sex, zu einem gerissenen Kondom, zu einer Schwangerschaft, zur Trennung zwischen Electra und Murphy, die ihm seinen Treuebruch nicht verzeihen kann oder will. Omi bringt einen kleinen Jungen zur Welt, zieht bei Murphy ein, und der, der Electra nie aus dem Kopf bekommt, lebt sich hinein in ein Familienleben, das er in seinem Innersten ablehnt. Alles, was ihm bleibt: Etwas Gras, versteckt in einer VHS-Hülle von Noés erstem Langfilm SEUL CONTRE TOUS.
LOVE ist klassisches narratives Kino. Nicht mehr möchte dieser Film als uns Charaktere nahebringen, eine Geschichte erzählen, über die ewigen Themen Liebe, Lust und Leiden. Seine expliziten Sexszenen sind nicht so sehr Selbstzweck – und nehmen sowieso höchstens eine Viertelstunde von über zwei Stunden Laufzeit ein -, sondern fügen sich harmonisch in die Handlung ein. LOVE ist unspektakulär, still und leise. Falls sich jemand wirklich von seinen Sexszenen vor den Kopf gestoßen fühlt, hat er wohl noch nie ein Liebesnest von innen gesehen.

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2. Gaspar Noés LOVE ist ein effekthascherischer Film.
Immer diese Gimmicks. Man könnte fast meinen, Noé wolle mit ihnen einen substantiellen Mangel seiner Filme überspielen. Die linear-invertierte Struktur und der vermeintlich fehlende Schnitt von IRRÉVERSIBLE. Die Überlänge und die Tatsache, dass er im Grunde fast nur aus endlosen Kamerafahrten durchs Lichtermeer Tokios besteht, von ENTER THE VOID. Nun nicht nur LOVE, sondern LOVE in 3D. Noé ist wohl der einzige Regisseur, der bei dieser Technik als Erstes daran denkt, sein Publikum mit cum-shots direkt in die Kameralinse zu beglücken – und, wenn ich meine 3D-Brille trage, über die Linse hinaus mitten in mein Gesicht hinein.
Diese Ejakulationen stehen symptomatisch für einen Film, der sich auf einer technischen Idee ausruht, und denkt, mehr Inhalt bräuchte es nicht, den Zuschauer zu befriedigen. Offensichtlich ist nämlich: Jedes Bild in LOVE ist ganz darauf hin komponiert, dass es für den dreidimensionalen Blick am effektivsten wirken soll. Stets befinden sich die Protagonisten im Bildvordergrund, fast wie bei einer Theatersituation, und dahinter eröffnen sich Hintergründe in unterschiedlichen Abstufungen, in unterschiedlichen Farben, alle dazu da, um dem Auge zu schmeicheln. LOVE wird, wenn diese Ästhetik natürlich ihre Wirkung in vollstem Maße erzielt und wohl jeder sich nach der oben erwähnten full-frontal Ejakulation erstmal reflexartig über die Wange wischt, dadurch aber zu einem Film, dessen Substanz komplett seinen Formalitäten zum Opfer fällt.
Noé war noch nie ein Regisseur, der glaubhafte Figuren konstruiert hat. Stets sind seine Helden blass, schablonenhaft. Am meisten erfahren wir noch darüber, wie sie gern mit wem ins Bett hüpfen. Auch komplexe Geschichten liegen dem Mann nicht. Das, was in den drei Stunden von ENTER THE VOID passiert, hätte man auch in einer Viertelstunde erzählen können. Im Vordergrund steht deshalb stets sein unbedingter Stilwillen. Manche Dinge müssen bei Noé einfach in einem Film drin sein: Ein paar Anspielungen auf seine Lieblingsfilme, Großaufnahmen von flirrenden Lampen, Sperma, Blut und Tränen. Im Falle von LOVE hat sich das Repertoire jedoch mittlerweile ziemlich erschöpft: Über weite Strecke dokumentiert der Film eine völlig belanglose Alltagsliebesbeziehung zwischen jungen, hippen Leuten, die scheinbar mehr mit ihren Geschlechtsteilen als mit Herz oder Kopf denken. Prätentiös wirken die gefühlten tausend Filmposter in Murphys Appartement, die uns mit Titeln wie Fritz Langs M oder Griffiths BIRTH OF A NATION oder Scorseses TAXI DRIVER einen Anspruch entgegenschreien, von dem es in LOVE weitgehend mangelt. Prätentiös, oft unbeholfen, manchmal peinlich sind die Dialoge. Themen wie Vegetarismus oder Pro/Contra-Abortion sind da noch das Tiefgründigste, was herumkommt. Sowieso scheint Noé, wenn er nicht gerade seine Darsteller zu echten sexuellen Handlungen dirigiert hat, vor allem damit beschäftigt gewesen sein, seine Plattensammlung zu durchforsten. Die Tonspur wirkt fast wie ein Tarantino-Mixtape. Da ist viel aus Filmen – das Kinderlied aus Argentos PROFONDO ROSSO zum Beispiel, oder die pathetische Finalmusik aus Angers LUCIFER RISING -, und ein paar Disco-Beats, und John Frusciante, und was von Bach und Satie. Das schmeichelt dem Ohr, und die Bilder schmeicheln den Augen, sicher. Aber seine inhärente Leere kann LOVE nicht über zwei Stunden hinter einer ansprechenden Fassade verstecken.
Es scheint überhaupt zu sein, dass Noés überbordende Persönlichkeit ihm selbst dabei im Wege steht, endlich mal einen Film zu drehen, der von mehr handelt als von Drogen, Sex und Filmen. Nicht nur, dass das Kind, das Murphy und Omi bekommen, unbedingt Gaspar getauft werden muss, oder dass eine VHS-Hülle seines ersten Langfilms SEUL CONTRE TOUS als Versteck für Murphys Marihuana herhält, Noé höchstpersönlich beehrt den Film zweimal mit seiner physischen Anwesenheit, wenn er Electras Ex-Lover spielt. Der ist ein Künstler wie aus dem Klischee-Bilderbuch: Voller blöder Exzentrik, mit Händen, die magnetisch von jedem Frauenarsch angezogen werden, und Toupet auf dem eigentlich kahlen Kopf. Wenn der eifersüchtige und betrunkene Murphy ihm eins mit der Flasche überzieht, ist das nicht als Selbstkritik gemeint. Gaspar Noé feiert sich selbst am meisten, und zwar so sehr, dass LOVE im Rückblick beinahe mehr wie ein Werk der Autoerotik wirkt. Da hat sich jemand einen auf sich selbst runtergeholt, und zwar in exquisiten 3D-Bildern.

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3. Gaspar Noés LOVE ist ein irrelevanter Film.
Banal und plakativ ist die Eröffnungsszene. Ein Mann und eine Frau liegen gemeinsam auf einem Bett. Er stimuliert langsam ihre Klitoris, sie hat die Hand an seinem Penis, den sie genauso langsam reibt. Irgendwann ejakuliert er, unspektakulär, still und leise. Die Kamera fängt diese gegenseitige Masturbation von einem fixen Standpunkt aus ein. Sie urteilt nicht, überdramatisiert nicht. Das sind einfach nur zwei Menschen, die Sex miteinander haben.
Gaspar Noé war noch nie, mit Ausnahme vielleicht, wenn man ganz viel Gnade walten lassen will, von CARNE und SEUL CONTRE TOUS, ein besonders politischer Regisseur. Sein Themenfeld ist eng umsteckt: Drogen, Sex, Filme. Natürlich sei es ihm gegönnt, seit nunmehr zwei Dekaden seinen persönlichen Präferenzen kinematographische Denkmäler setzen zu dürfen. Zu sagen hat er mit diesen trotzdem nichts – und während IRRÉVERSIBLE oder ENTER THE VOID, wenn auch weitgehend substanzlos, immerhin noch formell und ästhetisch ihre Momente hatten, so gerät LOVE zum völligen Leerlauf auf allen Ebenen. Das heißt nicht, dass er ein schlechter Film ist, oder ein Film, der wehtut. Genau das aber ist sein Problem: LOVE ist ein Film, den niemand braucht, weil es ihn schon gibt, tausendfach, seit Beginn der Filmgeschichte.
Murphy ist fünfundzwanzig und Amerikaner. Er will Regisseur werden. Natürlich muss er hierfür nach Paris, wo die Wiege der Nouvelle Vague steht. Dort trifft er, gutaussehend und gutbestückt, auf Elektra. Sie haben Sex, nehmen Drogen, quatschen über Filme. Dass Murphy sich mit Mitte Zwanzig in Paris ein eigenes Appartement leisten kann, zeugt dabei genauso von Noés offensichtlicher Realitätsferne wie, dass man seine Protagonisten Elektra, Murphy und später Omi, die zu beiden ins Bett steigt, niemals außerhalb der Kiste oder Wohnungen voller selbstzweckhafter Filmplakate zeigt. Noés Helden müssen keiner Arbeit nachgehen, sich nicht irgendwo mühsam ihre Miete verdienen, ihr Kühlschrank füllt sich von selbst, und wenn überhaupt, dann hängen sie auf elitären Kunstausstellungen oder in angesagten Clubs herum. Es ist eine reine Kunstwelt, die LOVE da um seine blassen, belanglosen Figuren herum aufbaut, eine Welt wie aus einem Modemagazin, bestehend aus einer Oberfläche, an der man nicht mal zu kratzen braucht, und schon lässt sie ihre Leere klaffen. In einer Zeit, in der die Fronten sich verhärten und Europa, je nach Perspektive, seinem Untergang oder seiner Befreiung entgegenkippt, auf jeden Fall aber eine schwere Krise erlebt, hat Noé noch immer nichts weiter zu erzählen als dass da Schwänze sind, die in Muschis versinken, und Gras, das in VHS-Hüllen seines Langspielfilmdebuts versteckt wird, und Kondome platzen und irgendwer irgendwen verlässt und irgendwer mit irgendwem Kinder kriegt.
Aber das ist symptomatisch für eine sogenannte Arthouse-Filmindustrie, die sich lange von ihren Wurzeln entfernt hat. Wo in den 60ern, als es aus der Wiege der Nouvelle Vague noch schrie und plärrte, Regisseure offen gegen den Vietnamkrieg protestierten oder soziale Themen lang und breit in ihren Filmen thematisierten oder sich gleich marxistischen Kollektiven anschlossen, um die kinematographische Infrastruktur der sogenannten Dritten Welt aufzubauen, da ist der Autorenfilm im Jahre 2015 stehengeblieben bei Ejakulationen in Kameralinsen und pubertären Liebesproblemchen von ungebildeten, unsympathischen, unpolitischen Leuten, deren Horizont beim nächsten One-Stand-Night, bei der nächsten Party-Cocktail und beim nächsten Marihuana-Kauf endet.
Wo nun eigentlich die Provokation ist?, fragt man sich nach zweieinhalb Stunden Gesprächen, Geschlechtsverkehr und Ganja. LOVE tut nicht weh. LOVE erregt nicht. LOVE erzählt eine blöde Geschichte in zugebenermaßen hüb-schen Bildern und unsimuliertem Leinwand-Sex. Die wahre Provokation wäre gewesen, hätte Noé auch außerhalb der Balzereien seiner Protagonisten einmal Stellung bezogen – zu Themen, die heute mehr als je wirklich relevant sind.

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4. Gaspar Noés LOVE ist ein Liebesfilm.
Das frühe Kino ist exhibitionistisch, noch nicht voyeuristisch. Das sagt zumindest Tom Gunning in seinem berühmten Essay zum Jahrmarktskino der Attraktionen, das alles, was es an Reizen hat, seinem Publikum unverblümt vor die Füße wirft. Erst ab den 1910er Jahren beginnt das Kino allmählich damit, uns zu Voyeuren zu machen, uns vergessen zu lassen, dass wir gerade eine Illusion anschauen, uns mit unsichtbaren Schnitten, fiktiven Problemen und hübschen Dekors einzulullen. ENTER THE VOID, Gaspar Noés letzter Film, stand, meine ich, vollkommen in der Tradition dieses Attraktionskinos. Ohne falsche Scham hat er seinen Schauwerten von Anfang an alles andere untergeordnet – seine Figuren, seine Geschichte, seine Plausibilität – und genau damit den Teil des Publikums, der sich darauf einlassen konnte oder wollte, von Anfang an verzaubert. Staunend konnte man den wilden Kamerafahrten durch die Clubs, die Straßen, die verranzten Wohnungen Tokios folgen, sich in einer Vagina von einem ejakulierenden Penis bespritzen lassen, im Finale in einer Hyper-Rausch-Vision des Finales von Antonionis ZABRISKIE POINT zahllosen kopulierenden Paaren zeitgleich in einem Miniatur-Hotel namens LOVE zuschauen können.
Genau diese Hotel-Miniatur taucht auch in Noés neustem Film auf. Sie steht im Zimmer von Murphy, unserem Helden. Er kommt aus den USA, will in Paris studieren, irgendwann Filme aus Blut, Tränen und Schweiß drehen, so wie Noé selbst. Im Fokus von LOVE steht aber, anders als in ENTER THE VOID, eine recht simple, nahezu lineare Geschichte wie sie alltäglicher nicht sein könnte: Murphy verliebt sich in Electra und Electra verliebt sich in Murphy und irgendwann beschließen beide, Nachbarin Omi in ihr oft frequentiertes Bett zu holen, und Murphy schwängert Omi, und Electra trennt sich von Murphy, und der verkraftet das nie – denn, wie es in einer Texttafel zu Beginn heißt, Murphys Law bedeutet, dass alles schiefgeht, was nur schiefgehen kann. Den Unterschied zu LOVE kann man schon hier leicht erkennen: Wo dieser eben gar kein narrativer Film sein wollte, sondern ein affizierender Film, der über Emotionen, Bilder, Momente funktioniert und nicht über Figuren, psychologisch aufeinander aufbauenden Handlungen oder eine nacherzählbare Geschichte, da ist LOVE in gewisser Weise das genaue Gegenteil – so, als habe Noé, nachdem er mit dem Vorgänger dem frühen Kino der Jahrmärkte, der Varietés und der Nickelodeons seine Reminiszenz erwiesen hat, nun das Gleiche mit dem frühen Erzählkino machen wollen.
Die Themen von LOVE sind universell. Dieser Film handelt von der Menschheit immanenten Dingen: von gebrochenen Herzen, Fehlentscheidungen im falschen Moment, Leidenschaft, die zu groß wird, und von einer Liebe, von der man einfach nicht lassen kann, wider alle Vernunft. Deshalb siedelt Noé die Handlung auch in seinem ganz eigenen Paralleluniversum an, in dem jede Zimmerwand geschmückt ist von Filmpostern, in denen die Figuren keinem geregelten Leben nachgehen, sondern ausschließlich Sex haben, Drogen nehmen und über ihre Gefühle reden, und in dem eine bis zum Extrem getriebene 3D-Ästhetik zusätzlich den Eindruck erweckt, man würde einem Remake von Kubricks 2001 in einem Nouvelle-Vague-Kontext zuschauen. Zärtlich und ehrlich wie nie zeichnet Noé die Liebesverstrickungen seiner drei Protagonisten. Es stimmt, die reine Fabel könnte einem Hollywood-Melodram der 20er, 30er entlehnt sein, die Umsetzung aber räumt auf mit jeder Melodramatik, und behält stets die Bodenhaftung – so wie Noés Kamera selbst, die, müde von den Rasereien in ENTER THE VOID, die Schauspieler fast ausnahmslos frontal beäugt. Ihr Blick ist dabei ein milder, nie verurteilender, selbst in den unsimulierten Sexszenen nie obszöner. Es scheint, als sei Noé auf seine alten Tage beinahe altersmilde geworden.
Altersmilde möglicherweise wie Michael Haneke, dessen letzter Film AMOUR nicht nur Titelähnlichkeit mit LOVE besitzt, sondern auch sonst die eine oder andere Gemeinsamkeit aufweist. Beide Filme spielen in Pariser Wohnungen, beide Filme sind Kammerspiele, die auf konzentriertem Raum über die tiefste menschliche Bindung sprechen, beide Filme blenden soziale, politische, ökonomische Probleme vollkommen aus. Zumindest bei Haneke weiß man, dass das ein Kunstgriff ist, um die Essenz seines Themas – das menschliche Alter, Krankheit, Tod und wie ein Mensch damit umgeht, wenn all das einem Geliebten widerfährt – herausarbeiten zu können. In gewisser Weise sind AMOUR und LOVE damit wie zwei Teile eines Diptychons, von dem der eine Seitenflügel auf die Liebe unter dem Zeichen der Vergänglichkeit verweist und der andere auf die Liebe in Zeiten, als sie sich unsterblich glaubt. AMOUR ist nüchtern, kühl, weise. LOVE ist lebhaft, leuchtend rot, juvenil bis zum Exzess.
Wenn Gaspar Noé so weitermacht, den richtigen Spagat zwischen Subversion, Narration und visuellem Overkill zu finden, stehen uns noch einige Großtaten bevor. Sein selbstironischer Auftritt als abgehobener Künstler und Electras Ex-Freund mit grauer Perücke und auf Frauenhintern fixierten Händen ist übrigens allein schon einen amüsierten Blick wert.

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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

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Die Zentralregion

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Originaltitel: La région centrale

Produktionsland: Kanada 1971

Regie: Michael Snow
Was wir sehen: Felsgestein, Hochgebirgszüge, Wolken, den Himmel. Die Kamera steht auf einem Plateau. Langsam, fast zögerlich erhebt sie sich vom Anblick des vegetationslosen Bodens, und gleitet immer höher, während sie anfängt, sich um sich selbst zu drehen, wie bei einer elegischen Pirouette. Langsam, fast zögerlich tritt der Horizont ins Bild, ferne Seen, das karge Umland. Der sich bewegende, irgendwie unheimliche Schatten auf dem Untergrund gehört wohl zu dem Apparat, der die Kamera überhaupt erst dazu befähigt, in gleichmäßigen Bewegungen ihre steten Kreise zu ziehen. Diese Landschaft wirkt verlassen, unentdeckt von Menschen. Wir sind allein mit ihr, den Felsen, schließlich dem Firmament, an dem die Kamerafahrt endet. Dann erfolgt ein erster Schnitt. LA RÉGION CENTRALE ist auf 16mm gedreht. Die Filmrolle muss gewechselt werden. Ein Kreuz erscheint auf der Leinwand – vielleicht um dem inzwischen eingeschlafenen Projektor zu signalisieren, dass es etwas zu tun gibt. Bis dahin sind bereits dreißig Minuten der insgesamt einhundertdreiundneunzig vergangen, die der Film dauern wird.

Was wir hören: Elektrisches Fiepen, Summen, Brummen. Teilweise stimmt es mit den Bewegungen der Kamera, die im Laufe des Films immer abenteuerlicher werden, überein, wirkt, als seien das akustische Signale, die ihre Fahrtrichtung steuern. Doch selbst wenn die Kreuze für den Projektoren erscheinen, sind die Sounds zu hören. Teilweise stimmen sie überhaupt nicht überein mit den Bewegungen der Kamera, die im Laufe des Films jede erdenklichen Winkel zu der gleichgültigen Landschaft einnimmt, auf dem Kopf steht, horizontal, vertikal umherwirbelt, präzise auf Details zoomt, so dicht über den Boden gleitet, dass er in Unschärfe verschwimmt. Manchmal haben sie etwas von einem konstanten, monotonen Herzschlag, diese Sounds. Oft überlagern sie die Bilder, werden zu den eigentlichen Akteuren des Films. Sie sind, obwohl mechanisch erzeugt, in gewisser Weise das Lebendigste in dieser Sammlung toter Materie. Nach über drei Stunden fällt es schwer, sie wieder aus dem Kopf zu bekommen. Sie sind zum eigenen Herzschlag geworden, diese Sounds.

Was wir nicht sehen: Experimentalfilmer Michael Snow begibt sich Anfang der 70er auf ein entlegenes Gebirgsplateau in der kanadischen Wildnis. Mit sich trägt er einen Apparat, extra für den Film konstruiert, der dort oben, in der winterlichen Einöde, entstehen soll. Es handelt sich um einen Tripod, an dem eine Art Roboterarm befestigt ist, der wiederum in einer Kamera ausläuft. Durch die absolute Beweglichkeit ihres mechanischen Arms ist es ihr möglich, sich in jede Richtung zu bewegen, sich in jeden beliebigen Winkel zu versetzen, jedes Tempo anzunehmen. Hinter einem großen Felsen überwacht Snow das Treiben seines Apparatus. Immer wieder, über mehrere Tage hinweg, programmiert er die Parameter, denen sie unterworfen ist, neu, schreibt sie dem Magnetband ein, das dafür sorgt, dass jedes Segment einer ihm immanenten Routine folgt. Nachträglich wird die Tonspur hinzugefügt: Schrille Synthesizer-Sounds, die den stummen Landschaftsbilder Struktur und Rhythmus geben. LA RÉGION CENTRALE ist wohl einer der schwierigsten und schönsten Filme, die jemals gedreht worden sind.

Was ich sehe: Nach einer Stunde werde ich unruhig. Vor meinen Augen wirbelt seit Minuten schon derselbe Ausschnitt der Landschaft. Der Himmel kippt dorthin, wo der Boden sein sollte. Dann ist der Boden wieder unten, und die Wolken sind oben. Ich halte es nicht mehr aus, konzentriere mich auf einen Fussel, der unten am Filmband klebt. Ich werde ruhiger – solange jedenfalls bis der Fussel plötzlich verweht ist und mich der Wirbel wieder hat. Das ist ein Derwisch-Tanz, denke ich, ein Schamanen-Ritual. Das ist wie ein Spaziergang, denke ich. Mit Höhepunkten und Langweiligkeiten, denke ich, als wenig später minutenlang einfach nur der blanke Himmel im Bild ist, und man nicht weiß: Bewegt die Kamera sich überhaupt noch? So müssen sich irdische Sonden fühlen, die auf fremden Planeten gestrandet sind. So würden möglicherweise Außerirdische die Erde sehen, wenn sie zufällig auf Snows Plateau gelandet wären. Das ist die Magie des Kinos: Meine Augen allein wären dazu nie in der Lage gewesen. Ich muss lächeln, denn es ist Nacht geworden, und nichts zu sehen außer dem Mond über den Bergen, und die Kamera lässt ihn kreisen wie einen Lampion bei einem Martinsumzug. Das ist die Magie des Kinos: Als Kind vielleicht wären meine Auge dazu in der Lage gewesen.
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Der Killer von Wien
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Originaltitel: Lo Strano vizio della Signora Wardh

Herstellungsland: Italien / Spanien / 1971

Regie: Sergio Martino

Darsteller: George Hilton, Edwige Fenech, Conchita Airoldi, Manuel Gil, Carlo Alighiero, Ivan Rassimov, Alberto de Mendoza, Bruno Corazzari u. A.
Prolog

Anfang der 70er hat der italienische Regisseur Sergio Martino, der zuvor, wenn überhaupt, einzig durch drittklassige Mondo-Filme wie AMERICA COSÌ NUDA, COSÌ VIOLENTA (1970) und einen unterhaltsamen, aber nicht wirklich nachhaltigen Western namens ARIZONA SI SCATENO…E LI FECE FUORI TUTTI (1970) aufgefallen war, eine Reihe von insgesamt fünf Gialli gedreht, die heute zurecht zu den großen Klassikern und Meilensteinen des Genres gezählt werden dürfen. LO STRANO VIZIO DELLA SIGNORA WARDH von 1971 ist sein Genre-Debut, produziert von seinem Bruder Luciano, in den Hauptrollen mit seiner Schwägerin, Edwige Fenech, sowie Ivan Rassimov, George Hilton, Alberto de Mendoza und Conchita Airoldi besetzt, allesamt Namen und Nasen, die einem in Martinos Gelber Periode regelmäßig wiederbegegnen werden. Das Drehbuch stammt, unter Zusammenarbeit mit Vittorio Caronia und Eduardo Manzanos Brochero, von Ernesto Gastaldi. Gedreht wurde die italienisch-spanische Co-Produktion in Wien und in Katalonien. Im Folgenden sollen die ersten beiden Minuten von LO STRANO VIZIO DELLA SIGNORA WARDH, quasi sein Vorspann, in fünf Schritten einer kritischen Analyse unterzogen werden.

1. Selbstreferenz am Straßenstrich

LO STRANO VIZIO DELLA SIGNORA WARDH beginnt mit einer selbstreferentiellen Szene par excellene. Wir befinden uns im Innern eines Autos, das von seinem Fahrer in gemächlichem Tempo an einem Straßenstrich entlanggesteuert wird. Starr schaut die Kamera in der ersten Szene vom Rücksitz aus zwischen den beiden vorderen Sitzen durch die Windschutzscheibe und die fast von völliger Dunkelheit verschluckte und wenigen künstlichen Lichtern erhellte Fahrbahn entlang. Links im Bild erahnen wir die Silhouette des Fahrers, rechts sind die Prostituierten zu sehen, die sich den, für uns unsichtbaren, Blicken des schattenhaften Mannes präsentieren. Während die Namen des Produzenten und der Hauptdarsteller auf der Leinwand erscheinen, ertönt von der Tonspur ein Klangbrei, aus dem man die leicht jazzige, von Nora Orlandi komponierte Titelmelodie des Films bloß dumpf heraushören kann. Zum gleichen Zeitpunkt, als der Films uns seinen Titel nennt, hat unser gesichts- und namenloser Fahrer eine Entscheidung getroffen. Er drosselt die Geschwindigkeit, hält bei einer jungen Blondie. Parallel dazu verschwistert sich die Kamera mit seinem Blick, schwenkt sacht nach rechts, um die Dame, soweit das bei dem vorherrschenden Zwielicht möglich ist, näher in Augenschein zu nehmen.

Bis hierhin ist die Kamera einem faszinierenden Paradoxon ausgesetzt gewesen. Einerseits unbeweglich, nämlich ohne Eigeninitiative dem Killer über die Schulter linsend, bewegt sie sich doch, nämlich dadurch, dass der Ort, an dem sie sich befindet, nicht stillsteht. Die Kamera kann man somit von Anfang an eindeutig als Komplizin des Frauenschlächters entlarven, denn immerhin hält sie sich nicht nur in seinem Fahrzeug auf, sondern hat zudem ihre Mobilität an ihn abgetreten: der Killer hinterm Lenkrad bestimmt, worauf der Blick der Kamera fällt, indem er es ist, der ihre Fahrten steuert und nicht umgekehrt ihre Fahrten ihm diktieren, wo er langzufahren hat. Ebenso fällt es leicht, die langsam an dem Auto vorbeiziehenden Prostituierten als offenkundigen Versuch zu begreifen, den Betrachter des Films auf sich selbst zurückzuwerfen. Der Straßenstrich wirkt wie ein eigenständiger Sexfilm, eine Porno-Revue, die außerhalb des hermetisch abgeriegelten Fahrzeugraums abläuft, während wir uns, gemeinsam mit Kamera und Killer, in dessen Innern aufhalten, und durch die Scheiben wie durch Leinwände auf die symmetrische Reihe an kurzen Röcken, wogenden Busen und verführerisch geschürzten Oberlippen schauen.

Dabei ist diese Metapher sicherlich keine, die Martino erfunden hätte, sie begleitet das Kino vielmehr seit dem Anfang seiner Geschichte. Wie eine Legende ist die Aufführung eines der ersten Filme überhaupt, L’ARRIVÉE D’UN TRAIN EN GARE DE LA CIOTAT der Gebrüder Lumiére, später ausgeschmückt worden. Das Publikum, das diesen knapp einminütigen Film, der im Grunde lediglich zeigt wie ein Zug in den titelgebenden Bahnhof der südfranzösischen Hafenstadt La Ciotat einfährt, seine Passagiere ihm entsteigen und mitsamt ihres Gepäcks aus dem Bild laufen, am 6. Januar 1895 in einem Pariser Café gesehen hat, soll zu großen Teilen panisch davongelaufen sein, im Glauben, der Zug würde gleich die Leinwand durchstoßen und sie unaufhaltsam überrollen. Aber auch sonst erscheint mir die Verbindung zwischen Kino und Fahrzeugen - sei es nun ein Zug, ein Auto oder ein Flugzeug - ziemlich sinnfällig. Bei jeder Reise mit einem solchen Vehikel ist man selbst an einem Platz fixiert, so wie auf einem Kinosessel, während vor einem Bilder vorbeiziehen, auf die man keinen Einfluss hat, denen man ausgeliefert ist. Selbst die äußere Gestalt von Leinwand und Zugabteilfenster oder Windschutzscheibe weist frappierende Ähnlichkeiten auf. Natürlich greift der Vergleich nur bis zu einem gewissen Punkt. Sobald es im Zug dunkel zu werden droht wie in einem Kinosaal, gehen die Lichter an und man sieht in der Scheibe keine schönen oder hässlichen Landschaften mehr, sondern sein eigenes schönes oder hässliches Gesicht. Auch sind diese Landschaften in keiner Weise einer ihnen immanenten Narration unterworfen. Wenn schon, muss man sich selbst eine Geschichte zu ihnen ausdenken. Wo man in einem Kinosaal passiv die genialen oder grottigen Geistesblitze der Filmschaffenden zu ertragen hat, hat man in einem Zug oder Auto oder Flugzeug die wesentlich aktivere Rolle, sich selbst seine Gedanken zu dem zu machen, was einem ins Blickfeld gerät.

Indem LO STRANO VIZIO DELLA SIGNORA WARDH gleich zu Beginn, in seiner ersten halben Minute, all diese Diskurse aufgreift, die, wie gezeigt, innerhalb der Filmgeschichte so weit wie möglich, nämlich bis zu ihrem Anbeginn, zurückreichen, markiert er sich selbst von vornherein als inszeniertes Spektakel und weist jegliche Möglichkeit von sich, eine rein mimetische Abbildung der Realität zu sein. Dass er ein Spielfilm ist, ein Kunstprodukt, darauf verweist er unmissverständlich und mit Nachdruck. Wenn dann die Kamera sich zu regen beginnt, ändert das nichts mehr daran, dass wir sie längst als eins zu eins gekoppelt mit dem verbrecherischen Treiben des Wiener Killers identifiziert haben. Selbst wenn es im weiteren Verlauf des Films nicht allzu oft mehr, wie jetzt, der Fall sein sollte, dass Kamerablick und Killerblick nahezu kongruent sind, dürfen wir nicht darauf hoffen, von der Kamera irgendetwas gezeigt zu bekommen, das etwas anderes ist als ein weiteres Mosaiksteinchen zum Bau eines großangelegten Theaters der Illusionen. Indem LO STRANO VIZIO DELLA SIGNORA WARDH all seine Karten gleich unverblümt und offen auf den Tisch legt, fängt, da wir nun wissen, dass wir in den folgenden neunzig Minuten nichts und niemandem vertrauen sollten, sofort ein großes Rätsel an zu wachsen.

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2. Prostitution und Abstraktion

Das Aufeinandertreffen von Täter und Opfer ist gefilmt wie eine klassische Dialogszene. Die Prostituierte beugt sich über die heruntergekurbelte Scheibe ins Wageninnere hinein, den Kopf haltend wie jemand, der eine sondierende Frage stellt. Zum ersten Mal erfolgt nun ein Schnitt: wir sehen links im Bild das undeutliche Seitenprofil des Killers, so, als würde er der Fragenden eine Antwort erteilen. Einen weiteren Schnitt später steigt die Prostituierte auf den Beifahrersitz. Von vorne wird das Fahrzeug in einer kurzen Einstellung gezeigt, dann von hinten, beim Wegfahren, während die nicht auserwählten Strichmädchen weiter am Bordstein flanieren. Die bereits erwähnte, unterschwellig in ein sonisches Chaos eingepackte Musik spielt unablässig.

Auffällig ist das Fehlen jeglicher verbaler Kommunikation zwischen dem Mörder und seinem späteren Opfer. Gerade bei einer Zusammenkunft an einem Straßenstrich sollte man doch erwarten, dass eine ihre Dienste anbietende Dame von demjenigen, dem sie ihre Dienste anbietet, zumindest ein paar Basisinformationen verlangen würde, beispielweise, was er mit ihr anstellen möchte, wie lange er dieses vorhat, wo er mit ihr überhaupt hinfährt. Dass der Täter, der ja, wie wir wissen, nichts im Sinne hat, außer das arme Mädchen vom Leben in den Tod zu befördern, nichts über ihren Preistarif und ihre Spezialitäten in Erfahrung bringen möchte, erscheint zwar logisch, doch macht er sich bei seinem Opfer nicht dadurch verdächtig, dass er überhaupt nicht danach gefragt, wie ihre Dienstleistung später denn entlohnt werden soll? Noch irritierender wird die Szene dadurch, dass sie ja eben, wie gesagt, durchaus dem stereotypen Schuss-Gegenschuss-Schema entspricht, das die Kinokonvention generell für Zwiegespräch vorsieht. Der erste, abrupte Schnitt, mit dem wir von dem Gesicht der Prostituierten zu dem des Killers geworfen werden, unterstreicht, meiner Meinung nach, die Abstinenz jedweden gesprochenen Wortes nur noch.

Allerdings scheint mir pure Absicht darin zu liegen, dass die Verständigung zwischen den beiden einzig und allein über Blicke funktioniert. Weder der Wiener Killer noch sein Wiener Opfer sind ausgefeilte Charaktere, mit denen wir in irgendeiner Weise mitfühlen würden. Sie besitzen keine Namen, keine Geschichte, keine Psychologie, sind im Grunde austauschbar, und, aufgrund der in der Anfangsszene von LO STRANO VIZIO DELLA SIGNORA WARDH dominierenden Schattenwelt, zudem kaum sichtbar. Dass wir den Killer nicht sehen, ist freilich dem Genre geschuldet. Seine Identität dürfen wir noch nicht kennen, um der Spannung nicht in den Karren zu fahren. Sein Opfer ist jedoch nicht weniger identitätslos. Sie ist eine von vielen – das hohe Angebot an Prostituierten hat der Film uns ja zuvor anschaulich vor Augen geführt. Sie hat keine besonderen Attribute, kein Detail sticht an ihr hervor, wir wissen eigentlich nur, dass sie raucht und ihren Körper verkauft, und das wohl, da sie es an einem Straßenstrich tut, wohl nicht unbedingt aus Freude daran, sondern aus einer Notwendigkeit heraus. Das extreme, superbe Chiaroscuro tut das seinige dazu, die beiden Figuren an den Rande der Abstraktion zu bringen, dorthin, wo sie zu bloßen Hüllen werden, zu Kleiderständern, denen man Schildern mit den Aufschriften Opfer und Killer umgehängt hat, Marionetten ohne Stimmen, die von dem Film willenlos in einem Schema bewegt werden, das den Tod der einen und die Befriedigung der anderen zur Folge hat.

In gewisser Weise kann man dieses abstrakte Verständnis von Charakteren, die oftmals jenseits der menschlichen Logik agieren und deren Psychologie sich ebenso oft allein darauf beschränkt, auf bestimmte Situationen zu reagieren, als dem Giallo-Genre grundlegend eingeschrieben erachten. Wie der weitere Verlauf von LO STRANO VIZIO DELLA SIGNORA WARDH unter Beweis stellen wird, verfügt keine der Figuren über ein komplexes Innenleben, das irgendwie zu der uns bekannten Realität in Bezug stehen würde. Signora Wardh ist ein hilf- und wehrloses Frauenzimmer, den Becircungs- und Mordversuchen der Männer um sie herum ausgeliefert wie ein Hundewelpe. Diese Männer wiederum, ihr Ex-Mann Jean, ihr jetziger Mann Neil, ihr Liebhaber George, sind festgelegt auf bestimmte Charaktereigenschaften, die ihnen von Filmbeginn an wie ein Schildchen umgeknüpft werden: der eine der misantrophe Sadist, der andere der geschäftstüchtige, eher kalte Gatte, der dritte der leidenschaftliche Macho-Lover. Dass diese Schildchen mit diesen plakativen, klischeetriefenden Attributen indes kein Makel eines hinkenden Drehbuchs sind, zeigt das Finale, wenn all diese Männer ihre wahren Gesichter entblößen und wir begreifen, dass der Film uns über eineinhalb Stunden weg von einer Glatteisscholle zur nächsten gelotst hat. Das ändert indes nichts an der offenbar gewollten Flachheit einer Figur wie Julies bester Freundin, der Millionenerbin Carol, die es im wunderschönen Schönbrunnpark erwischt, und die keine weiterführenden Interessen als Geldausgeben, Männer aufreißen und unangebrachtes Sprücheklopfen zu haben scheint. In wenigen Gialli, so meine These, treffen wir auf Personen aus Fleisch und Blut. Es ist eine Kunstwelt, die vor uns aufgebaut wird, nicht das vermeintlich naturalistische Einfahren des La-Ciotat-Zuges wie es ihn die Lumiére-Brüder, gemeinhin als die Väter des filmischen Realismus geltend, bebildert haben, sondern, um nach Vorläufern in der Frühgeschichte des Kinos zu tasten, eher ein tiefes Eintauchen in die vernunftlosen, phan-tasieüberladenen Zaubermärchen eines Georges Méliès. Der erste Mord bringt diese Tendenz so sehr auf den Punkt wie man sie nur auf den Punkt bringen kann: Killer und Prostituierte sind reine Staffage, konventionelle Formen, die sich auf konventionelle Weise aufeinander zubewegen, abstrakt, losgelöst von jedem narrativen Kor-sett. Wenn es so etwas geben sollte, dann ist der erste Mord in LO STRANO VIZIO DELLA SIGNORA WARDH so etwas wie die Urszene des Giallos. Wollen wir hoffen, dass sie kein Kind durch ein Schlüsselloch beobachtet hat.

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3. Der Penis mit der scharfen Spitze

Ja, wollen wir das wirklich hoffen, denn was nun folgt, ist nicht für Kinderaugen gedacht. Der Killer fährt, nunmehr mit erhöhtem Tempo, scheinbar in noch abgelegeneres Terrain – genau erkennen wir es wegen der dichten Nacht freilich nicht. Aus weiter Ferne sehen wir wie die Prostituierte ihre aufgerauchte Zigarette aus dem Beifahrerfenster wirft. Das Bild ist bedeckt von undurchdringlicher Dunkelheit, einzig das Quadrat der Scheibe ist deutlich auszumachen, und in ihm der Kopf des Mädchens, dem die letzte Rauchwolke aus Mund und Nase strömt. Sie wendet sich ihrem Kunden zu, noch immer, der Logik von Martinos Meta-Kommentierung gehorchend, ohne ein Wort zu sagen. Unausgesprochener Konsens zwischen ihr und ihrem Freier ist, dass sie sich die Bluse öffnet. Die Kamera ist jetzt wieder an ihrer vorherigen Stelle, als stiller Voyeur auf der Rückbank. Ebenso vertraut ist uns das Schuss-Gegenschuss-Muster, das erneut angewendet wird, um eine Kommunikation zwischen den Figuren deutlich zu machen, die auf rein visueller Ebene abläuft. Das Seitenprofil des Killers trägt, soweit wir das erkennen können, ein Pokerface. Er betrachtet, was sein Opfer freilegt: zwei Paar nackte Brüste, von denen sie im wahrsten Sinne des Wortes geschäftsmäßig den Kleidungsstoff beiseite streift. Was indes neu ist: die Tonspur lässt nicht mehr ihr vorheriges Klangchaos hören, sondern ist, nach Momenten der erwartungsvollen Stille, zu einem zunächst recht leisen, dann immer weiter anschwellenden, schließlich ohrenbetäubendem Lärmen gewechselt, über das sich für uns bis dahin nur eines sagen lässt: die Quelle der Dissonanzen liegt eindeutig nicht in den Bildern vor unseren Augen, und somit nicht im Innern des Mördervehikels, sondern dringt von draußen, aus dem Off, zu uns her.

Als die Prostituierte sich zur Seite wendet – wohl, um sich die Bluse vom rechten Arm zu zupfen -, nutzt ihr Kunde die Gelegenheit, sich nun selbst zu entkleiden. Statt eines Penis legen seine schwarzbehandschuhten Finger jedoch ein Messer frei, dessen Klinge für Sekundenbruchteile funkelt, als würde es sich freuen, endlich aus den Weiten seines Mantels befreit worden zu sein und nun endlich zur Tat schreiten können. Der nun folgende Mord ist schnell, hektisch geschnitten, und beherzigt sämtliche Ratschläge, die Hitchcock in der berühmt-berüchtigten PSYCHO-Duschszene seinen Regiekollegen exemplarisch mit auf den Weg gegeben hat und denen in modernen Genrefilmen leider weniger und weniger Aufmerksamkeit geschenkt wird. Das Sterben unseres Strichmädchens ist im eigentlichen Sinne nicht graphisch – das ihren Brustkorb sprenkelnde und in Fontänen gegen die Innenscheiben der Fenster schießende Blut lässt allein aufgrund seiner übertrieben roten Farbe keinen Zweifel daran, dass es überallher stammt, nur nicht aus den Adern eines menschlichen Schlachtopfers -, indes aber derart kunstvoll aus vielen kurzen und kürzesten Einstellungen zusammenmontiert, dass ihm eine Härte innewohnt, die nicht die Bilder per se liefern, sondern ihr Zusammenschluss im Kopf des Rezipienten. Wir sehen den Killer mit grimmigem Gesicht und erhobenem Arm, dann eine Nahaufnahme des nackten Frauenkörpers, anschließend Blut, das gegen das Plexiglas spritzt, und, einmal mehr, ist die Illusion zu perfekt, als dass man nicht von ihr überwältigt werden würde.

Nicht weniger perfekt versteht es Martino, in dieser vergleichsweise flüchtigen, überhaupt nicht ausgewalzten Mordsequenz aus einem Minimum an Mitteln ein Maximum an Effekten zu zielen. Beschränkt wird sich auf das Wesentliche: eine schreiende Frau, ein wütender Mann, ein, zwei Blutspringquellen, ästhetisiert durch die alles einrahmende Nacht. Den Anfangsmord von LO STRANO VIZIO DELLA SIGNORA WARDH als einen auf absoluten Minimalismus reduzierten prototypischen Giallo-Mord zu bezeichnen, verfängt schon deshalb, weil Martino die wichtigsten Genre-Ingredienzien sozusagen beispielhaft vorführt. Da haben wir die obligatorischen schwarzen Handschuhe, da haben wir die Mordwaffe, die einem Phallus gleicht und statt eines Phallus gezückt wird, da haben wir die unterwürfige Frau, die über sich ergehen lassen muss, was dieser Phallus mit ihr anstellt. Auch in den kommenden eineinhalb Stunden wird LO STRANO VIZIO DELLA SIGNORA WARDH fast ausschließlich weibliche Opfer anführen, die unter männlichen Aggressionen ihr Leben lassen müssen – sei es nun splitterfasernackt in einer wiederum erneut überdeutlich an PSYCHO erinnernden Dusche oder bekleidet, aber als gehetzte Jagdbeute vorm Palmenhaus von Schönbrunn, von Signora Julie Wardh ganz zu schweigen, die, könnte man argumentieren, das exakte Kehrbild einer selbstbestimmten, emanzipierten Frau abgibt, so sehr wie sie von den Männern abhängig ist, die ihr Leben und ihre Sexualität diktieren (selbst im Finale, als man meinen könnte, Julie sei als vermeintlich von den Toten Auferstandene jetzt endlich, ihrer intriganten verflossenen und gegenwärtigen Liebhaber ledig, selbstbewusste Siegerin, wartet schon die starke Schulter des nächsten Herrn, ein offenbar einem Groschenroman entstiegener Landarzt mit himmelblauen Augen, darauf, dass sie ihr schwaches Köpfchen gegen sie bettet.) Die einzige wirklich starke Frauenrolle in LO STRANO VIZIO DELLA SIGNORA WARDH verdankt ihre Stärke bezeichnenderweise einem Zufall. Es ist eine Stewardess, die, von einem anstrengenden Übermeeresflug heimgekehrt, beim nächtlichen Telefonat mit ihrem Freund plötzlich den Killer von Wien vor sich stehen sieht, sich aber nicht von ihm abstechen lässt, sondern stattdessen ihn mit einem ihr zufälligerweise in die Finger geratenden Messer niedersticht. Der Prostituiertenmord destilliert unter diesem Gesichtspunkt somit die dem Giallo-Genre eigenen laienpsychologischen, geschlechterspezifischen und gewaltästhetisierenden Motive in einer Reinheit, dass die Vermutung nur naheliegt, Martino habe seinem allerersten Giallo einen weiteren Giallo, quasi die Stenographiefassung des Folgenden, voranstellen wollen – mit all dem, was dazugehört.

Aber was hat es nun eigentlich mit dem infernalischen Off-Dröhnen auf sich, das die Tonspur und unsere Ohren zermartert?

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4. Dr. Freud über Tod und Krieg

Aber stellen wir diese Frage erstmal zurück, denn nun, wo das arme Mädchen niedergemetzelt worden ist und das akustische Toben kaum noch lauter werden kann, geschieht etwas Seltsames: das Bild, schwarz mit irgendwelchen Lichtpunkten, friert ein, das Dröhnen bricht ab, Stille umfängt uns, während Wort für Wort ein Text auf der Leinwand erscheint, im Original auf Italienisch, in der deutschen Kinofassung wie folgt lautend: „Allein die Tatsache, dass das Gebot uns sagt: „Du sollst nicht töten“, lässt uns bewusst werden, dass wir einer ununterbrochenen Generationskette von Mördern abstammen, in deren Blut die Lust zum Morden steckt, wie vielleicht auch in unserem Blut.“ Unterzeichnet ist dieser provokative Satz mit Sigmund Freud, der, was für eine hübsche Analoge, einen Großteil seiner Lebensjahre, genau wie unser Killer, ebenfalls in Wien zugebracht hat.

Leider entspricht die Behauptung, in irgendeinem Werk des berühmten Entdeckers der Psychoanalyse, ohne dessen seinerzeit revolutionäre Theorien über Kastrationsängste und Zwangsneurosen nicht wenigen Genrefilmen ein theoretisches Fundament unter den wackligen Stelzen fehlen würde, sei dieser Satz zu finden, nur halb der Wahrheit. Offenbar haben sich die Synchronisateure der deutschen Fassung nicht die Mühe gemacht, nach dem Originalzitat Freuds zu blättern, sondern lediglich den italienischen Text eins zu eins ins Deutsche übertragen. In ZEITGEMÄSSES ÜBER KRIEG UND TOD, einem kurzen, lesenswerten Essay von 1915, den Freud unter dem Eindruck des tobenden Ersten Weltkriegs verfasst hat, stößt man nämlich auf diesen Wortlaut: „Gerade die Betonung des Gebotes: Du sollst nicht töten, macht uns sicher, daß wir von einer unendlich langen Generationsreihe von Mördern abstammen, denen die Mordlust, wie vielleicht noch uns selbst, im Blute lag.“

(Eine dritte Variante ein und desselben Satz kann man auf der deutschen DVD-Fassung von Koch Media lesen, bei der, auf der Bildebene, der italienische Text erscheint, die Untertitel diesen aber wiederum noch ein bisschen, und, zugegebenermaßen, noch ein bisschen holpriger übersetzen: „Die Tatsache selbst, dass das Gebot uns sagt: „Du sollst nicht töten“, macht uns bewusst und sicher, dass wir von einer ununterbrochenen Kette von Generationen von Mördern abstammen.“)

Schon der Titel von Freuds Aufsatz macht klar: für ihn sind Mord und Krieg dasselbe, ein Soldat kein ordenverdienender Held, sondern, schlicht gesagt, ein Mörder. Ein signifikanter Unterschied jedoch besteht zwischen dem modernen, im Jahre 1915 sein Vaterland verteidigenden, nach Ruhm und Ehre strebenden Kämpfer und dem Ur-, Vor- oder Affenmenschen, der sich, ob nun auf reinen Beute- oder Rachefeldzügen, ins Feld gegen einen feindlichen Stamm wirft. Letzterer verfügt, behauptet Freud, über gewisse religiöse, magische, archaische Ritual, um die Kriegsschuld, mit der er sich beim Töten unweigerlich wie mit einem physischen Makel befleckt hat, wieder von sich zu waschen. Komplizierte Riten sind vonnöten, um dem Krieger seine Unschuld zurückzugeben, ihn zu versöhnen mit den Geistern der von ihm Erschlagenen, ihn zurück in Einklang mit sich selbst und dem Kosmos zu bringen, aus dem er durch den Akt des Tötens gewaltsam herausgerissen wurde. Der moderne Soldat indes kennt solche Riten nicht mehr: er kehrt vom Schlachtfeld heim als Held, wie jemand, der für eine gerechtfertigte, gesellschaftlich akzeptierte und sogar entlohnte Aufgabe getötet hat. Die Folge davon sind Neurosen, internalisierte Schuldgefühle, ein schlechtes Gewissen, und, damit einhergehend, ein stetig distanzierter werdendes Verhältnis zum Tod, sei es nun der eigene oder der der anderen. Was den modernen Soldaten und den halbaffenhaften Vorfahren des Menschengeschlechts aber trotzdem eint, das ist ein von Freud postulierter Ur-Mord, der in jedem Mensch, ob dieser es nun will oder nicht, als in der heutigen Gesellschaft zumeist erfolgreich unterdrückter bzw. sublimierter Tötungstrieb fortwirkt. Dieser Ur-Mord, das, übrigens großartig in Kubricks 2001 illustrierte, allererste Mal, dass ein Affenmensch gegen einen andern den Arm erhob – in Freuds Welt wird der ermordete Affe mit einer (symbolischen) Vaterfigur gleichgesetzt, sodass wir uns für etwaige ödipale Komplexe ebenfalls bei diesem ersten Mörder der Menschheitsgeschichte bedanken dürfen -, weht wie eine nie abgetragene Schuld durch unser Blut: mal unkontrolliert ausbrechend wie bei unserem Wiener Triebkiller, sich mal in Heilsreligionen wie dem Christentum mit dem glorifizierten Mord, dem heiliggesprochenen Tod niederschlagend, auf jeden Fall aber nicht ultimativ, für alle Zeiten, gestillt werden könnend. Warum stellt nun aber Martino seinem Film dieses Zitat wie ein Motto voran? Will er uns damit mehr sagen, als dass er ein gebildeter Mensch ist, der, wo er schon mal zu Dreharbeiten nach Wien reist, die Gelegenheit gleich nutzt, noch einmal seine Nase in die Gesammelten Schriften des berühmtesten Arztes der Stadt zu stecken?

Meine These wäre: in gewisser Weise „erklärt“ das Freud-Zitat mit seiner endlosen Generationskette aus Mördern die vorangegangene Szene – zwar natürlich nicht in dem Sinne, dass es uns sagt, wer der irre Schlächter ist oder sein unglückliches Opfer, und warum letzteres hat sterben müssen, vielmehr bleibt Martino, indem er ausgerechnet ein Zitat aus einem dann doch eher an ein Fachpublikum gerichtetem Text in den Vorspann fädelt, der Abstraktionsebene treu, die schon die bereits vergangenen eineinhalb Minuten bestimmt hat. Dadurch, dass er Dr. Freud zu einem wenig erbaulichen, nahezu pessimistischen Wort kommen lässt – so wie ZEITGEMÄSSES ÜBER KRIEG UND TOD an sich schon in seiner schonungslosen Ehrlichkeit für den einen oder andern reichlich ernüchternd, wenn nicht sogar betrüblich wirken kann -, bettet er den eben geschilderten Mord in einen Kontext, der größer ist als der des Spielfilms, in dem er stattfindet. Unser Wiener Rasiermesserschlitzer ist nur ein weiteres Glied in besagter Blutlinie aus Mördern, die die Menschheit durchzieht, und seine Tat im Grunde genommen eine, die zu jeder Zeit, an jedem Ort verübt worden ist und verübt wird. Der Prostituiertenmord erweist sich nicht als ein einem Drehbuch verpflichteten Spektakel – wie sich herausstellen wird, ist der Prolog für die eigentliche Geschichte, die LO STRANO VIZIO DELLA SIGNORA WARDH erzählt, von höchstgeringer Bedeutung -, sondern stellt vielmehr einen archetypischen, gleichsam allegorischen Mord dar, ein Mord, der für alle anderen Morde steht. Gerade deshalb auch der hohe Grad an Abstraktionen: der Mörder ist jeder Mörder in jeder Epoche und das Opfer ist jedes Opfer zu jeder Sekunde. Hätten beide, Mörder wie Opfer, mehr Persönlichkeit als in diesen Bezeichnungen, Mörder und Opfer, zum Ausdruck kommt, würde Martinos Anfangssequenz sofort ihren Parabelcharakter einbüßen.

Wichtig ist das Freud-Zitat jedoch genauso für den weiteren Verlauf des Films, führt uns Martino doch in diesem genauso exemplarisch unterschiedliche Motive und Möglichkeiten vor, jemandem ums Leben zu bringen. Wir haben: einen triebgesteuerten Lustmörder, der – näher erklärt wird das an keiner Stelle – scheinbar allein deshalb jungen Wiener Mädchen nachstellt, da er dadurch seine sexuelle Befriedigung erfährt (ein Fall für Dr. Freud, definitiv) – außerdem zwei Männer, die jeweils auf die Erbschaft ihrer Gemahlin bzw. die opulente Lebensversicherung ihrer Schwester schielen und deren mörderische Intrige sich allein aus pekuniären Motiven speist, sowie einen Handlanger, der für besagte Intrige benutzt und anschließend, nachdem er sein Soll erfüllt hat, als lästiger Zeuge aus dem Weg geräumt wird – nicht zu vergessen abschließend einen als Selbstmord getarnten Mordversuch, einen vorgetäuschten Selbstmord und einen echten on-screen-Mord, nämlich die Tötung eines kleinen Haifisches mit einer Harpune im Meer vor der spanischen Küste. In Anbetracht des Freud-Zitats möchte man fast zu dem Schluss kommen, dass wir nicht nur eine endlose Ahnengalerie aus Mördern unser eigen nennen, sondern dass wir, zumindest bezogen auf den Filmkosmos Sergio Martinos, oder generell den des italienischen Giallos, in einer Welt leben, die übervölkert ist von ebensolchen.

Dabei fällt nicht besonders in Gewicht, dass die meisten Mörder, mit denen sich Martino in seinen insgesamt fünf Gialli befasst, aus wirtschaftlichen Interessen heraus handeln. Bis auf den sowieso ein bisschen aus der Reihe tan-zenden, weil vor allem in seiner zweiten Hälfte den US-amerikanischen Slasher antizipierenden I CORPI PRESENTANO TRACCE DI VIOLENZA CARNALE (1973), dessen Killer sich wenig darum schert, seine Börse zu füllen, sondern vielmehr durch das Töten von Frauen ein in ihm gärendes Kindheitstrauma abzuarbeiten versucht, sind die Haupttriebfedern sowohl in LA CODA DELLO SCORPIONE (1971) wie auch in TUTTI I COLORI DEL BUIO (1972) und erst recht in IL TUO VIZIO É UNA STANZA CHIUSA E SOLO IO NE HO LA CHIAVE (1972) die finanziellen Gelüste einer als übersättigt, dekadent und degeneriert konnotierten High-Society-Kaste, die vor lauter Geldgier gar nicht weiß, wohin mit ihrer kriminellen Energie. Trotz dieser Bereicherungsabsichten verhehlen die einzelnen Mörder und Drahtzieher der Morde nur wenig, dass ihnen das Morden oder Drahtziehen eine gewisse sadistische Lust bereitet. Allein die Schlussszene von LO STRANO VIZIO DELLA SIGNORA WARDH spricht da Bände, wenn George und Neil in irres Gelächter ausbrechen, mit dem sie das Glücken ihres Plans und die Raffinesse, mit der sie diesen ausgeheckt haben, am Rande zum Wahnsinn feiern. Ob nun unter dem Deckmantel der Kontoaufbesserung oder aufgrund einer derangierten Psyche – Martino unterstreicht, indem er die Autorität Freuds konsultiert: dies ist lediglich ein gradueller Unterschied, denn zum Mörder kann unter den richtigen bzw. falschen Umständen jeder von uns werden.

Aber was hat es nun eigentlich mit dem infernalischen Off-Dröhnen auf sich, das die Tonspur und unsere Ohren zermartert?

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5. Entmystifizierende Flugzeuge

Die Antwort ist so banal wie unerwartet: dieses Dröhnen, das den Tötungsakt durch seine Begleitung für uns wohl noch verstörender gemacht hat als es die reinen Bilder hätten tun können, gehört zum eigentlichen Film, zu dem, der nun, wo der Vorspann vorbei ist, beginnt, zu dem Flugzeug, mit dem Signora Wardh von London nach Wien gebracht wird. Wir sehen es, kaum dass das Freud-Zitat verschwindet und der Film ordnungsgemäß weiterläuft, wie es den Nachthimmel durchschneidet, im Landeflug den Wiener Flughafen anvisierend. Ein weiteres, das letzte, Rätsel ist gelöst: natürlich haben Killer und Prostituierte das Turbinensausen so viele Kilometer unterhalb des Flugzeugbauchs in ihrem Wagen, schon allein wegen ihrer schrillen Todesschreie, nicht vernehmen können, doch erklärt bekommen wir es trotzdem, sodass kein einziger arkaner Winkel in den ersten beiden Minuten von LO STRANO VIZIO DELLA SIGNORA WARDH übrigbleiben würde, auf den nicht die ratio ihren entschleiernden Taschenlampenkegel richtet.

Nachdem die abstrakten Bilder ihre erläuternde Auflösung gefunden haben, indem sie von Dr. Freud in einen akademischen Kontext gebettet worden sind, geschieht das Gleiche nunmehr mit der bis dahin irritierenden Tonspur, auf der, in ganz surrealem Gestus, zusammengebracht wurde, was laut der Menschenlogik nicht zusammengehört: ein Mord im Innern eines Fahrzeugs und das Geräusch eines Flugzeugs, so nahe, als würden wir die Ohren gegen seine Flanke pressen. Diese Vorgehensweise scheint mir, erneut, symptomatisch für das Genre zu sein, dem vorliegender Film zuzurechnen ist. Genau wie der Vorspann von LO STRANO VIZIO DELLA SIGNORA WARDH kein Mysterium behalten darf – und uns damit jede Unsicherheit genommen wird -, bleiben beim Abspann im Grunde keine offenen Fragen übrig, die logisch und vernünftig der Film zu beantworten nicht zumindest versucht hätte. LO STRANO VIZIO DELLA SIGNORA WARDH ist, wie die meisten Gialli, ein wunderliches Gerüst, das sich aus vielen, manchmal sogar disparaten Einheiten zusammensetzt, die sich zuweilen harmonisch miteinander verbinden, einander zuweilen aber auch schon mal vehement widersprechen. Die Traumszenen bzw. Flashbacks, in denen Julie sich an ihre sadomasochistische Zeit mit Jean erinnert bzw. sie sich imaginär herbeisehnt, die überaus verkitschten Liebesseufzer, die George und Julie sich in dem Subplot ihrer vermeintlichen Liebe zusäuseln, die Szene, in der Julie und Neil das Wohnhaus Jeans erkunden und dabei auf allerlei lebendes Exotengetier stoßen, das ihnen erfolgreich einen Schrecken nach dem andern einjagt, die reichlich nebensächlichen Polizeiermittlungsarbeiten, schließlich der jähe Bruch zwischen der ersten in Wien spielenden Hälfte des Films und der zweiten, die an spanischen Sonnenstränden angesiedelt ist, oder die vielleicht wirkungsvollste Sequenz des gesamten Films, der Mord an Carol im Schönbrunner Schlosspark: das alles sind, meine ich, in sich durchaus schlüssige Einzelabteilungen, die zwar freilich durch die Narration mehr oder minder sinnvoll mit dem Restfilm verknüpft sind, aber genauso gut, mit einigen zarten Veränderungen, problemlos für sich hätten stehen können – so wie die berühmte Szene in Hitchcocks NORTH BY NORTHWEST, wenn Cary Grant auf offenem Feld von einem Flugzeug verfolgt wird, als eine Art (Kurz-)Film im (größeren Spiel-)Film verstanden werden kann. Obwohl es in LO STRANO VIZIO DELLA SIGNORA WARDH auf der Handlungs-ebene mitunter drunter und drüber geht – da sterben Leute, um danach quicklebendig wieder aufzutauchen, da handeln Figuren, allen voran die überhaupt kein Identifikationspotential anbietende Julie Wardh, völlig fern ihrer psychologischen Glaubwürdigkeit, da greift der Zufall immer wieder ein, um das Drehbuch nicht auseinanderfasern zu lassen -, fügt sich am Ende doch alles derart zusammen, dass für den Zuschauer das aus seinen Fugen geratene Weltbild zurück in die Verlässlichkeit geschubst wird. In so ziemlich jedem Giallo bedeutet die finale Auflösung, wer denn der Killer gewesen ist und warum er gekillt hat, einen Triumph der Logik über das Irrationale. Zum Schluss haben wir klare Fakten, Namen, Daten, Gründe, und vor allem wenn die so ordinär sein mögen wie in vorliegendem Film – gibt es denn einen ordinären Grund, jemanden zu töten, als um an seine Kohlen zu kommen? -, schrumpft die gesamte zuvor aufgebaute surreale Phantastik wie von selbst in sich zusammen.

Interessant bei LO STRANO VIZIO DELLA SIGNORA WARDH ist aber, dass er das, was er in seinem Vorspann zelebriert, nämlich ein schrittweises logisches Aufschlüsseln zuerst der Bild- und dann der Tonebene, sozusagen ähnlich in seiner narrativen Struktur verwirklicht. Für mich verläuft der Film, grob gesagt, in drei Etappen, von denen jede etwas mehr Licht ins Dunkel bringt und den Film mehr seiner Rätsel entkleidet. Die gesamte erste Hälfte, die in Wien spielt, lässt noch kaum eine Ahnung zu, wohin sich das Ganze entwickeln wird. Der unheimliche Mörder könnte Julies verflossener Liebhaber sein, ein triebgesteuertes Monstrum, das sich, aus welchen Gründen auch immer, auf die junge Frau fixiert hat, oder vielleicht sogar so etwas wie das ultimative Böse, eine Art Teufel in Menschengestalt. Zu diesem Zeitpunkt ist der Film in seinen besten Szenen, denen, in denen gemordet und Angst geschürt wird, blanker Horror, voller düsterer Vorahnungen und nur einer Gewissheit: dass der Killer im Prinzip jeder sein könnte, und zwar zu jeder Zeit und an jedem Ort. Nachdem der „echte“ Wiener Killer, wie gesagt, eher zufällig durch eins seiner Opfer erfahren hat, wie sich das anfühlt, wenn man aufgespießt wird, ist die erste Maske des Films gefallen. Es gibt einen rabiaten Schnitt, und Julie nebst Lover George sind nach Spanien gereist, um, wie es heißt, das Grausen in Wien zu vergessen. Der Film ist nun lichterfüllt, kaum noch schattig: die Aufklärung dämmert bereits. Trotzdem sind da natürlich noch viele rätselhafte, unaufgelöste Stränge, nun wird der Schrecken aber mehr und mehr in Julies Psyche verlegt. Sie glaubt, Blumen von einem Toten zu erhalten, ihre Nervosität steigert sich zum halben Delirium, sie hält eine Pfütze aus Rost mit Wasser für eine Blutlache, wird letztendlich zum Nervenbündel und ohnmächtig. Das in Wien noch äußere Grauen ist von Martino geschickt in Julies Innere verrückt worden. Wir glauben, nun einem Psychothriller beizuwohnen, in dem das Übernatürliche nur insoweit Platz hat, wie wir es selbst mit uns herumtragen. Dass die menschliche Logik zunehmend an Macht gewinnt, zeigt mir allein schon die kühl-rationale Art und Weise wie der freilich nicht wiederauferstandene, sondern gar nicht erst gestorbene Jean versucht, Julies vorgeblichen Suizid zu inszenieren. Dass er einen Eiswürfel nimmt, dessen Schmelzen den Riegel der Küchentür nach unten klappen lassen soll, sodass es später so aussieht, als habe Julie sich von innen eingeschlossen, und sei nicht von außen eingesperrt worden, ist eine derart raffinierte Idee, dass man sie fast zur Nachahmung empfehlen möchte. Die Vollendung des Logikeinbruchs in LO STRANO VIZIO DELLA SIGNORA WARDH erfolgt im Finale, als George und Neil die totgeglaubte Julie am Rand einer österreichischen Landstraße erblicken, in eine Polizeifalle geraten, sich im Affekt mit ihrem Auto in einen Fluss zu Tode stürzen, und die Polizei, bisher bloßes Ornament am Rand, ihren großen Auftritt hat, um uns die letzten Zweifel daran zu nehmen, dass sämtliche zunächst seltsam erscheinenden Ereignisse im vergangenen Film Teil eines ausgeklügelten Plans gewesen sind, und dass wir sie nur deshalb für seltsam gehalten haben, weil wir nicht in diesen Plan eingeweiht waren.

Am Ende findet noch (fast) jeder Giallo aus seinen delirierenden Bildern in die handfeste Wirklichkeit zurück. Darin liegt letztlich der große Unterschied zwischen einem Film wie LO STRANO VIZIO DELLA SIGNORA WARDH und, beispielweise, den Horrorfilmen eines Lucio Fulci oder Dario Argento. Letztere verweigern in Filmen wie SUSPIRIA oder L’ALDILÁ jedwede rationale Erklärung, lassen ihre bluttriefenden Märchenreiche der Imagination unangetastet. Sergio Martino indes braucht in seinen Gialli einen entschleiernden Schlussakkord, der uns mit dem Gefühl aus dem Film entlässt, ihn verstanden und durchdrungen zu haben.

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Epilog

In den ersten beiden Minuten seines allerersten Ausflugs in Giallo-Genre stellt Sergio Martino seinem Film einen Giallo in Miniatur-Form voran, eine aufs Wesentlichste beschränkte Vignette, die bereits die wichtigsten Grundparameter in sich vereint, die konstituierend für das gesamte Genre sind. Ob nun auf der Bild-, der Ton- oder der Textebene: der Vorspann von LO STRANO VIZIO DELLA SIGNORA WARDH wirkt wie ein außerordentlich hintersinniges Destillat aus all dem, woraus ein Giallo sich gemeinhin zusammensetzt. Der Eindruck, es könne sich bei dem Vorspann um so etwas wie ein Gründungsmanifest des Giallos handeln, wird noch dadurch verstärkt, dass Martino dezidiert auf Techniken und Ästhetiken des frühen Kinos rekurriert: er benutzt eine Texttafel, verzichtet auf das gesprochene Wort, zeigt nur die elementarsten Bestandteile der Handlung. Wollte man jemandem in zwei kurzweiligen Minuten zeigen, was das denn sei, ein Giallo, wäre man mit dem Vorspann von LO STRANO VIZIO DELLA SIGNORA WARDH wohl besser beraten als mit jedem ausufernden Textessay, so wie diesem hier.
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Salvatore Baccaro
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Re: Salvatores Skizzen zu einer Studie der absoluten Kontingenz

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Thirsty for Love, Sex and Murder

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Originaltitel: Aska susayanlar (Seks ve cinayet)

Herstellungsland: Türkei / 1972

Regie: Mehmet Aslan

Darsteller: Kadir Inanir, Meral Zeren, Yildirim Gencer, Eva Bender, Nihat Ziyalan, u.a.
Dass sich die türkischen Filmproduzenten der 70er und 80er mit Vorliebe auf zumeist US-amerikanische Blockbuster einschossen und diese dann kostengünstig in ihrem Heimatland, und vermutlich ohne sich die Rechte hierfür zu sichern, einfach noch einmal drehten, ist, glaube ich, allseits bekannt, und Werke wie DÜNYAYI KURTARAN ADAM (1982), die türkische Variante von STAR WARS, oder TURIST ÖMER UZAY YOLU’NDA (1973), die türkische Variante von STAR TREK, oder SÜPERMEN DÖNÜYOR (1979), die türkische Variante von SUPERMAN, dürfen, finde ich, in keiner gutsortierten Sammlung kinematographischer Kuriositäten fehlen. Bislang völlig an mir vorbeigegangen ist allerdings der Umstand, dass die irgendwo zwischen absolutem Trash und hoher Avantgarde hin und her pendelnden, und manchmal sogar beides spielerisch mit einer Klappe schlagenden, Filmschaffenden des Bosporus sich nicht bloß an seinerzeit international erfolgreichen Kinohits vergriffen, sondern ihre Fühler ebenfalls nach etwas unbekannteren Nischenerzeugnissen ausstreckten, die heute eher für ein bestimmtes Genre-Klientel als Klassiker gelten. ASKA SUSAYANLAR: SEKS VE CINAYET von 1972 jedenfalls ist, man mag es glauben oder nicht, ein reichlich schamloses Remake (oder Rip-Off?) des ein Jahr zuvor in die italienischen Lichtspielhäuser gelangten Meister-Giallos LO STRANO VIZIO DELLA SIGNORA WARDH von Sergio Martino.

Das Konzept ist so ökonomisch wie brillant: statt die eigene Kreativität wenigstens ein bisschen ins Spiel zu bringen – wie das beispielweise bei DÜNYAYI KURTARAN ADAM oder TURIST ÖMER UZAY YOLU’NDA der Fall gewesen ist, die ihre US-amerikanischen Vorbilder zwar nicht verhehlen, trotzdem aber durchaus eigene, mitunter sehr originelle Akzente setzen können -, kopiert Regisseur Mehmet Aslan den ihm vorliegenden Film nahezu 1:1. Im Grunde alles, was einem in LO STRANO VIZIO DELLA SIGNORA WARDH begegnet, findet sich in ASKA SUSAYANLAR: SEKS VE CINAYT in der einen oder anderen Form wieder. Edwige Fenechs und George Hiltons Sightseeing-Motorradfahrt durch Wien ist, wenn auch in Istanbul gedreht und auch wenn die Charaktere nun nicht mehr Julie und George heißen, sondern Mine und Yilmaz, ebenso vorhanden wie eine mörderische Duschszene, eine atemberaubende Verfolgungsjagd in einer Tiefgarage, die Photokamera, die Alberto de Mendoza im Original in Ivan Rassimovs Appartement findet und auf der sich angeblich nur ein einziges, den vermeintlichen Killer zeigendes Bild befindet – nur eben, dass die Charaktere hier nicht auf die Namen Neil und Jean hören, sondern auf Metin und Tarik usw.

Da diese Reihe endlos fortgeführt werden könnte, weise ich vielleicht besser auf die Differenzen beider Filme hin. Zunächst ist der Schauplatz, wie gesagt, nicht wie ein Martinos Film Wien, sondern Istanbul – und zwar ein Istanbul vor winterlicher Kulisse, mit Schneehaufen an den Straßenrändern und vielen entlaubten Bäumen, die dem Film, gerade im Vergleich mit den prachtvollen Wien-Aufnahmen des italienischen Originals, einen wesentlich trostloseren Anstrich verleihen. Auch sticht die Laufzeit ins Auge: bei LO STRANO VIZIO DELLA SIGNORA WARDH immerhin weit über eineinhalb Stunden, während ASKA SUSAYANLAR: SEKS VE CINAYT Mühe hat, überhaupt die volle Stunde zu erreichen. Letzteres führt dann freilich dazu, dass die türkische Kopie kaum Zeit für Feinheiten und ausschweifende Nebenschauplätze hat. Um Ernesto Gastaldis Drehbuch in knapp achtundfünfzig Minuten unterzubringen, muss gestrafft werden, was gestrafft werden kann: das Tempo ist somit ein wesentlich höheres, die Dialogpassgen aufs Wesentliche zusammengestutzt, Außenaufnahmen bekommen so gut wie gar keinen Raum – und wenn, bestehen sie aus den bereits erwähnten kahlen Bäumen. Storytechnisch wurde das Ende ein bisschen gnädiger gestaltet – es ist nur Mines Mann, Metin, der es auf ihre Lebensversicherung abgesehen hat, ihr Lover, Tarik, gehört nicht zum Komplott, steht auf ihrer Seite und rettet sie in einer völlig übertriebenen Finalschießer- und schlägerei vor einer ganzen Bande verbrecherischer Gesellen -, der Subplot um, im Original, Julies millionenschwere Freundin Carol wurde gänzlich fallengelassen – sie betritt als Oya zwar den sogenannten Belgrad Park, ein bemitleidenswerter Ersatz für den des Schönbrunner Schlosses, um dort Mines Erpresser zu treffen, kann diesem aber bis zum Abspann lebend entkommen -, und schließlich hat man die Figur des ermittelnden Inspektors etwas stärker gewichtet – wo er in LO STRANO VIZIO DELLA SIGNORA WARDH eigentlich erst gegen Ende überhaupt nennenswert in Erscheinung tritt, darf er in ASKA SUSAYANLAR: SEKS VE CINAYT ab etwa Filmmitte ein Verhör nach dem andern führen.

Dieser Inspektor führt uns nun zu den wenigen Eigenheiten der türkischen Adaption. Ich weiß nicht, ob Herr Aslan und sein Team dies intendiert haben, doch schaffte diese überzogene Figur es permanent, mich zum Lachen zu bringen. Seine völlig verrückte Masche, um aus seinen Gästen die Wahrheit hervor zu kitzeln, ist, ihnen so viele Fragen wie möglich so schnell wie möglich hintereinander in der Hoffnung zu stellen, sie verhaspeln sich, versprechen sich, verwechseln ein Ja mit einem Nein. Dass er damit, von meinem hüpfenden Bauch abgesehen, kaum weiterkommt, versteht sich fast von selbst. Ebenso eigen, weil nicht von LO STRANO VIZIO DELLA SIGNORA WARDH herrührend, ist die Eröffnungsszene. Was in den ersten beiden Minuten bei Martino passiert, kann man in diesem Forum an entsprechender Stelle nachlesen, in vorliegendem Film wird die Begegnung einer Anhalterin (wohlgemerkt: keiner Prostituierten!) mit dem Istanbuler Rasiermesserschlitzer ausgedehnt zu einer dem Wahnsinn verpflichteten Hetzjagd über Stock und Stein. Meine liebste Szene: das arme Opfer steht mitten auf einer Lichtung, hat freie Sicht in alle Richtungen. Trotzdem springt der Killer plötzlich wie ein Frosch von links in Bild und packt sie sich, so, als hätte es dort irgendwelche Büsche geben, um sich dahinter zu verstecken. Das Finale nimmt dieses Delirieren bereitwillig auf und stellt Hauptheld Tarik, um seine Liebste Mine zu befreien, gleich einem halben Dutzend schwerbewaffneter Feinde gegenüber, von denen sich zumindest mir nicht ganz erschlossen hat, wer diese denn nun sind und in welcher Beziehung sie zu Hauptbösewicht Metin stehen sollen. Ebenfalls idiosynkratisch bis zum Anschlag gebiert sich die Tonspur, auf der vertraute Morricone-Melodien - hauptsächlich aus Sergio Sollimas CITTÁ VIOLENTA – mit nervenzerreibendem Elektro-Gefiepse und sonstigem Klangchaos wechseln, und das manchmal mehrmals in einer einzigen Szene.

Es fällt mir schwer, meine Begeisterung zu unterdrücken. So sehr sich ASKA SUSAYANLAR: SEKS VE CINAYT darin mit Dreistigkeit hervortut, einen großartigen Film zu plündern und daraus einen, objektiv betrachtet, eher miserablen Film zu machen, so unterhaltsam ist das Endergebnis. Dieser Film schaut einen mit naiven, großen, unschuldigen Säuglingsaugen an, und ich kann nicht anders, als ihn in mein Herz zu schließen. Ein perfekter Film: mit Verfolgungsjagden, Schießereien, Prügeleien, Brüsten, Blutfontänen gegen Duschvorhänge, geklautem Score, geklauten Ideen en masse, einem Inspektor zum Verlieben, viel Schnee, einer besonders betrunkenen Tanzszene und dem nicht genug zu würdigenden Potential, ihn, zum Intensivvergleich, in einer Doppelvorstellung mit LO STRANO VIZIO DELLA SIGNORA WARDH zu zeigen. Nein, es fällt mir wirklich schwer, meine Begeisterung zu unterdrücken.
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