Der Mann mit der Kamera - Dziga Vertov (1929)
Verfasst: Mo 30. Mai 2022, 19:08
Originaltitel: Tschelowek S Kinoapparatom
Produktionsland: UdSSR 1929
Regie: Dziga Vertov
Cast: Einwohner und Einwohnerinnen der Städte Kiew, Odessa, Moskau
Zum ersten Mal sehe ich Dziva Vertovs Meilenstein des Experimentalfilms TSCHELOWEK S KINOAPPARATOM aus dem Jahre 1929 irgendwann zu Teeanger-Zeiten, als ich beginne, mich für jedwedes Kino zu interessieren, das abseitig, abwegig und, ja, manchmal auch abartig ist. Die Fassung, die mir ein Freund aus dem Netz saugte, ist in jedweder Hinsicht suboptimal, jedoch freilich trotzdem feinstes Futter für die begierigen fünfzehn-, sechzehn- oder siebzehnjährigen Augen: Wie Vertov und seine beiden Mistreiter – sein Bruder Mihail Kaufman an der Kamera; seine Ehefrau Jelisaweta Swilowa am Schneidetisch – das pulsierende Großstadtleben gierig mit dem Aufnahmeapparat aufsaugen, um es anschließend höchst virtuos per Montage in eine visuelle Symphonie zu verwandeln: Der betriebsame Innenstadtverkehr; Sportler und Sportlerinnen beim Reckturnen, beim Ballspiel, beim Weitsprung; alltägliche Menschen bei alltäglichen Verrichtungen wie Spaziergehen, beim Markteinkauf, beim Werfen irritierter Blicke direkt in die Kameralinse…
Worauf es Vertov & Co. ankommt, legen bereits die Texttafeln zu Beginn freimütig offen: TSCHELOWEK S KINOAPPARATOM möchte ein Film ohne Theaterallüren sein, ohne aus der Literatur überkommene Trivialplots, ein Film ohne Handlung, ein Film ohne Zwischentitel, ein Film, der sich selbst erklärt, ein Film, für den allein seine Bilder sprechen. Bereits im Manifest „Wir“ von 1924 heißt es: „Wir säubern die Filmsache von allem, was sich einschleicht, von der Musik, der Literatur und dem Theater; wir suchen ihren nirgendwo gestohlenen Rhythmus und finden ihn in den Bewegungen der Dinge.“ Film ist Rhythmus, und TSCHELOWEK S KINOAPPARATOM hat mehr mit einem Gedicht zu tun als mit einem Spielfilm von der Strange, mehr mit einem Stück Neuer Musik, mehr mit dem Stampfen einer Maschine, mit einem Feuerwerk, mit dem Puls der Großstadt, deren unterschiedlichsten Facetten Vertov & Co. für knapp eine Stunde vor uns ausbreiten: Frauen in Schönheitssalons; Badegäste am Strand; hart schuftende Arbeiter; ein Ehepaar auf dem Standesamt zu seiner Trauung, ein Ehepaar auf dem Standesamt zur Besiegelung der Scheidung; ein Leichenzug, der kontrapunktisch gegenmontiert wird mit einer Geburtsszene. Von daher ist es eigentlich nicht ganz richtig, wenn ich schreibe, TSCHELOWEK S KINOAPPARATOM sei ein Film, der sich allein über seine Bilder definiert. Diese Bilder wären tatsächlich tote Materie, bloße positivistische Partikel, ein kaltes Konstatieren, wenn sie nicht in einem zweiten Schritt mittels innovativster Schnitttechniken in Beziehung zueinander gesetzt werden würden. Film ist Rhythmus, und in jeder einzelnen Sekunde beweist TSCHELOWEK S KINOAPPARATOM, wie sehr seine Schöpfer dieses Diktum verinnerlicht haben: Mal plätschern die Szenen unaufgeregt vor sich hin, dann ergreift plötzlich ein Wirbelwind die Bilder, schleudert sie maschinengewehrsalvenartig durcheinander, dass sie fast vor mir verschwimmen; es gibt Momente der Stille, es gibt Momente, die einen förmlich anbrüllen, wenn der titelgebende Kameramann durch die Straßen Odessas, Moskaus, Kiews eilt, um heranrollende Züge, in die Fabrik schlurfende Lohnangestellte, den heraufdämmernden Tag, die hereinbrechende Nacht zu filmen, - ein regelrecht mit seinem Apparat verwachsener Mensch, dessen hauptsächliches Sinnesorgan, das Kino-Auge, längst eine Symbiose mit seinem Aufzeichnungswerkzeug eingegangen zu sein scheint.
Zum intensivsten Mal sehe ich Dziga Vertovs Meisterwerk des Experimentalfilms TSCHELOWEK S KINOAPPARTOM aus dem Jahre 1929 während des Braunschweiger Filmfests Anno 2014 in einer obskuren Nachmittagsreihe, für die ich liebend gerne die Uni schwänze, und die, wenn ich mich recht entsinne, unter dem Etikett „Alltag im Stummfilm“ läuft: Nahezu ausnahmslos werden Analogkopien zur Aufführung gebracht, und Vertovs KAMERAMANN gleich zweimal, - einmal, wenn ich mich recht entsinne, ohne Ton auf 16mm; einmal mit Ton auf 35mm. Bei der ersten Vorstellung sind wir zu zweit: Ein Neuankömmling, der zum Studieren in die Löwenstadt zog, leistet mir im ansonsten leeren Saal Gesellschaft; er wisse gar nicht, was für ein Film ihn erwarte; er habe zur Einbürgerung in Braunschweig ein paar Freikarten fürs Filmfest erhalten, da dachte er sich: Wieso nicht den Erstbesten mitnehmen? Bei der zweiten Vorstellung sind wir zu dritt: Ich habe eine Philosophieprofessorin der TU eingeladen, und sie bringt eine Freundin mit, die in etwa so alt ist wie ich, und wir sind uns so sympathisch, dass wir uns zu einem Date™ für den nächsten Abend verabreden, - und da ich die Arme dort dann völlig unvorbereitet in eine Nachtvorstellung von Zulawskis POSSESSION mitnehme, bei der zudem Jörg Buttgereit direkt neben uns sitzt, wird aus der ganzen Geschichte nichts weiter als ein enttäuschter Traum…
Amos Vogel schreibt in „Film as Subversive Art“, dass die Frühzeit der Sowjetunion die einzige Epoche innerhalb der Filmgeschichte gewesen sei, in der Avantgarde und Mainstream zusammenfielen, in dem das, was Experimentatoren an Innovationen auf den Weg brachten identisch gewesen sei mit der Staatdoktrin, in der die vorherrschende Ideologie ihren Ausdruck in einem künstlerisch motivierten Kino gefunden habe, das nicht mit abgeschmackten Erzählungen einlullen, sondern mit wuchtigen Bildfolgen aufrütteln wollte. In dem Sinne wirkt TSCHELOWEK S KINOAPPARATOM noch heute, wo man die wildesten Videoeffekte per Tastendruck vom eigenen Smartphone geliefert bekommt, wie ein unerschöpflicher Steinbruch an piktoralen Ideen, Effekten, Techniken, aus dem bis heute Werbeindustrie und Konfektionskino kostbares Blut abzapfen: Zeitraffer und Zeitlupe bis hin zur Stagnation des Bildflusses im Freeze Frame; Mehrfachbelichtung und Split-Screen-Sequenzen, in denen der Kameramann riesengroß mit seinem Stativ über der schlafenden Metropole thront oder in denen die Aufnahmen von Fahrzeugen nahezu kaleidoskopartig nebeneinandergestellt werden; Kamerafahrten, für die der schwerfällige Apparat auf bewegliche Objekte wie Karren oder Autos geschnallt wird; Jump Cuts und Schock-Montagen, wenn scheinbar beliebig bestimmte Aufnahmen mit welchen zusammengerührt werden, die auf den ersten Blick nach menschlicher Logik entweder nichts mit ihnen zu tun haben oder sogar ihr direktes Gegenteil darstellen; extreme Detailaufnahmen und schräge Kameraperspektiven, als würde der Operator kurz davor stehen, das Bewusstsein zu verlieren. Dazwischen, immer wieder: Die Portraits von Lenin und Marx an öffentlichen Plätzen, in öffentlichen Institutionen. Dazwischen, einmal kurz: Hitler als Schießbudenfigur auf dem Rummel, (wohlgemerkt im Jahre 1929!) Und am Ende das Große Metareflexive Finale: Schon zuvor hat Vertov uns mehrfach darauf hingewiesen, dass wir gerade im Begriff sind, einen Film zu schauen, - er hat uns in den Schneideraum seiner Frau mitgenommen und uns gezeigt, was das eigentlich bedeutet, einen Filmstreifen an einen andern zu heften; er hat uns ins Innere der Kamera blicken lassen, uns gezeigt, was da eigentlich in dem Kasten vor sich geht, wenn man unablässig die Kurbel dreht; er hat die Kamera, nicht zuletzt, in einer unglaublich komischen Stop-Motion-Sequenz auf ihrem Stativ für uns tanzen lassen. Zuletzt sind wir in einem Kinosaal voller Menschen, - und diese sind gekommen, um sich TSCHELOWEK S KINOAPPARATOM zu Gemüte zu führen: Auf der Leinwand defilieren zu guter Letzt die beeindruckendsten Szenen des zurückliegenden Films an uns vorbei.
Zum bislang letzten Mal sehe ich Dziga Vertovs Opus Magnum des Experimentalfilms TSCHELOWEK S KINOAPPARATOM aus dem Jahre 1929 letztes Wochenende im Brauhauskeller des Goethe-Theater Bremens, wo er im Rahmen eines inklusiven Theaterfestivals von einer teilweise aus Sehbehinderten bestehenden Band live vertont wird. Die Musik ist teilweise so laut, dass sich meine Begleiterin die Ohren zuhalten muss, und überhaupt wirkt es mehr wie ein Konzert mit Film statt ein Filmkonzert: Heftige Krautrock-Jams; Psychedelische Gitarren-Drones; flirrende Elektronik, - manchmal passt es zur Vertov’schen Bilderflut wie die Faust aufs Auge; manchmal scheint der Score sich vom im Hintergrund flimmernden Films loszukoppeln, und sein ganz eigenes Ding durchzuziehen. Die letzte Bahn ins warme Bett wird knapp verpasst; im Regen ein Sühnekreuz aus dem 15. Jahrhundert suchend ziehen die Stunden dahin; ich bin einmal mehr schlicht sprachlos von der visuellen Wucht, die TSCHELOWEK S KINOAPPARATOM immer wieder für mich entfacht: Im Herz des Kinos zu sein, so fühlt es sich an, diesen Film zu erleben, und es schlägt wie das eines galoppierenden Pferdes…