Originaltitel: L'ultima neve di primavera
Produktionsland: Italien 1973
Regie: Raimondo Del Balzo
Darsteller: Bekim Fehmiu, Agostina Belli, Renato Cestiè, Nino Segurini, Margherita Horowitz
Zwar steht sowohl in QUESTO SI CHE È AMORE als auch in L’ULTIMA NEVE DI PRIMAVERA ein blondschöpfiger Bub im Handlungsfokus, der unter der permanenten physischen wie emotionalen Absenz des Vaters leidet, und den im Finale ein früher krankheitsbedingter Tod ereilt, eine signifikante Differenz lässt sich allerdings bereits darin ausmachen, dass Lucca, wie die Rotznase bei Del Balzo heißt, weit über zwei Drittel der Handlung körperlich putzmunter ist: Dass der Bengel an Blutkrebs leidet, stellt man erst etwa zwanzig Minuten vor Zapfenstreich fest, als es natürlich schon zu spät für irgendeine Behandlung ist, und man ihm nur noch ein angenehmes Ableben zu verschaffen vermag: Die Konsequenz, mit der diese Heuler ein prinizipiell unausweichliches Schicksal zelebrieren, hat echt etwas von Fatalismus. Zuvor hat sich aber freilich auch Lucca mit den gleichen Problemen herumschlagen müssen wie sein späterer Schicksalsgenosse Tommy in Ottonis Film: Die tote Mama existiert für ihn bloß noch in der Erinnerung oder auf nostalgischen Photos und Urlaubsvideos; er empfindet seine Unterbringung im Internat als Abschiebehaft; der Papa ist eine Katastrophe des Zeitmanagements und Meister darin, Versprechen zu brechen und Verabredungen nicht einzuhalten; außerdem hat er Agostina Belli als neue Freundin und Ersatz-Mama vorgesetzt bekommen, die der Papa kurzerhand mit in den eigentlich als Vater-Sohn-Ding gedachten Sommerurlaub mitnimmt. Doch anders als Tommy in QUESTO SI CHE È AMORE, der schon in der ersten Szene von einer unheilbaren Immunkrankheit an einen sämtliche externen Einflüsse auf Distanz haltenden Glaskäfig gefesselt ist, führt Lucca über weite Strecken der Laufzeit ein Leben, über dem sich der Schatten seines baldigen Todes nicht einmal vage abzeichnet. Während sich daher im Szenario des späteren Films aufgrund seiner unausweichlichen Ausgangssituation immer mal wieder Gelegenheit für eine über die Wange kullernde Träne bietet, ballt L’ULTIMA NEVE DI PRIMAVERA seinen Tränenausstoß nahezu vollständig in der Schlussszene zusammen, (wenn auch diese durch den Prolog zart antizipiert wird, wo Luccas Vater inmitten eines Regenguss in Erinnerungen schwelgt, aus denen der nachfolgende Film dann quasi als Rückblende zusammengesetzt ist): Lucca äußert dem Sterben nahe nur noch einen Wunsch, nämlich einen bereits geschlossenen Vergnügungspark zu besuchen, worauf sein Papa, vom Saulus zum Paulus geläutert, alle Hebel in Bewegung setzt, den dahinsiechenden Jungen in Kontakt mit Autoscooters und Riesenrädern zu bringen, und ihn mit einem Lächeln auf den Lippen in seinen Armen und inmitten eines Meers bunter Lichter seinen Atem aushauchen zu lassen. Wenn der streichergesättigte Score von Franco Milacizzi dazu auch noch seine letzten tragischen Trümpfe ausspielt, muss man wohl ein Herz aus Stein haben, um nicht loszuflennen.
So packend dieser Kulminationspunkt des Films aber auch sein mag, wirklich berührt haben mich die vorangehenden neunzig Minuten nur wenig, sondern stattdessen mit eher betuchten, wenn nicht gar im höchsten Maße irritierenden Gefühlen beschlagen. Betucht deshalb, weil man L’ULTIMA NEVE DI PRIMAVERA nun wirklich keine besonders packende Dramaturgie unterstellen kann. Zu süßlicher Musik beobachten wir den von Renato Cestiè recht glaubhaft verkörperten Tommy, wie er minutenlang Tretboot fährt, vergebens auf den Papa wartet, sich sein einsames Abendessen zubereitet, und wirklich aufregend sind die zahlreichen Zwiegespräche mit der nimmersatten besten Freundin Angela, die Tommy schon mal kurzerhand den Kühlschrank leerspachtelt, oder seine Versuche, dem Papa etwas mehr Zeit zu zweit abzutrotzen, indem er ihn beispielweise auf dem Gericht überfällt, wo er als Anwalt engagiert ist, nun ebenfalls nicht ausgefallen. Gerade weil über weite Strecken der Handlung nichts darauf hindeutet, dass wir Tommy bei seinen letzten Erdentagen zuschauen, hätten vor allem die Sommerurlaubskatalog-Impressionen inklusive dressiertem Schimpansen dann doch ein wenig, sagen wir, aufwühlender inszeniert werden können als wie sie unter Del Balzos zwar kompetenter, aber doch reichlich glattgeschliffener Regie ausfallen. Die irritierenden Spitzen demgegenüber hielten eine Handvoll Szenen für mich parat, die ich einem Film wie vorliegendem nun wirklich nicht zugetraut hätte, und bei denen ich mich ernsthaft frage, wie sie die Verantwortlichen denn verstanden wissen wollten. Einmal folgt die Kamera einerseits Luccas Vater und andererseits seiner neuen Freundin in Parallelmontage, nachdem sie sich von einem gemeinsamen Stelldichein verabschiedet haben; aus dem Off vermittelt uns jeder für sich seine Gedanken; sie fühlt sich beispielweise davon überfordert, auf einmal die Mutter eines zehnjährigen Knaben sein zu sollen; er wiederum findet es furchtbar, vor Lucca andauernd Ausreden vorbringen zu müssen, um seine Geliebte zu treffen; an einer Stelle monologisiert Luccas Vater aber auch davon, wie sehr er sich wünsche, seine Freundin würde sich nach dem gemeinsamen Sex im Spiegel sehen, so wie er sie sehe: Zerzaust, wehrlos, in totaler Hingabe. Wem das für einen familienfreundlichen Film noch nicht Stirnrunzeln genug bereitet, für den bietet das auf einer Idee von Mario Gariazzo (!) basierende Drehbuch noch Vater-Sohn-Dialoge wie folgende: Lucca weckt den Papa nach durchzechter Nacht, und bemängelt, dass er so sehr nach Whiskey und Kippen stinke; darauf der Vater: Es wird eine Zeit kommen, mein Sohn, da riechst auch Du nach Whiskey und Kippen!; der neunmalkluge Lucca: Oh nein, ich werde es mit Wodka probieren! Kurz darauf will der Bub vor Angela den starken Mann markieren, stopft sich eine von Papas Kippen in den Mund, und verlangt im Park von einem Passanten Feuer; der jedoch schlägt ihm den Glimmstängel wortlos aus dem Mund; dass Lucca sich darauf die linke Wange reibt, soll wohl suggerieren, dass ihm der Fremde tatsächlich eine Ohrfeige versetzt hat. Sicher, das sind nun keine himmelschreiende Exzesse, wie sie andere zeitgleich virulente Italo-Genres so gerne praktizieren, aber in einem Herzschmerz-Streifen für die ganze Familie...!?
Alles in allem mag L’ULTIMA NEVE DI PRIMAVERA für die angepeilte Zielgruppe sicherlich solida Ware sein, (und möglicherweise hilft für die positive Bewertung auch, dass einen gerade die letzten fünf bis zehn Minuten mitten in einen Ozean aus Tränen schmeißen wollen.) Ich für meinen Teil habe, obwohl ich Renato Cestiès Lucca weitaus vielschichtiger und psychologisch interessanter modelliert fand als sein Konterpart Tommy in Ottonis Film, und sich die Inszenierung spürbar um einen Realismus bemüht, der dem vergleichbaren QUESTO SI CHE É AMORE zunehmend abgeht, nicht einmal geschnieft, dafür aber mehr als einmal einen verstohlenen Seitenblick auf die Wanduhr geworfen.