Darsteller: Paolo Azzurri, Maria Bay, Oreste Grandi, Gigetta Morano, Fernanda Negri Pouget
An die Tür der ärmlichen Hütte einer treusorgenden Mutter klopft eines Tages ein langbärtiger Greis. Er scheint sich auf einer Wanderung zu befinden, bittet um eine kurze Rast, setzt sich an den Ofen. Als die gutherzige Frau ihm aber den Rücken zuwendet, um etwas Holz nachzulegen, macht er sich über ihren Säugling her und löst sich mitsamt diesem in Luft auf. Nun erst wird unserer Mutter klar, dass es der Gevatter Tod höchstpersönlich gewesen ist, den sie nichtsahnend über ihre Schwelle gelassen hat, und sie bricht neben der leeren Wiege ihres entführten Kindes in bittere Tränen aus. Da aber erscheint ihr der Todesengel, der Mitleid mit der gebrochenen Frau hat, und ihr den Weg zeigt, dem sie folgen muss, um ins Reich des Todes zu gelangen. Durch eine gefrorene Winterlandschaft kämpft die verzweifelte Frau sich bis sie endlich, im Innern eines Berges, jenen Raum findet, in dem die Uhren des Lebens ticken. Jeder Mensch hat seine eigene, und manche schlägt schneller, manche langsamer, manche ist längst stehengeblieben. Der Tod, umgeben von seinen Lakaien, minderjährigen Knaben mit kleinen Teufelshörnern im lockigen Haar, ist sichtlich überrascht vom Eintreffen unserer Mutter, die sofort vor ihm auf die Knie geht und ihn anfleht, ihr doch ihr geliebtes Kind zurückzugeben. Immerhin wird der Gevatter Tod davon so sehr erweicht, dass er sie hinausführt zur Quelle der Zukunft, deren klare Wasser unserer Mutter vorführen, was denn aus ihrem Sohn werden würde, würde der Tod ihren Bitten nachgeben und ihn wieder lebendig machen. In seiner Kindheit ist er schon ein ausgemachter Satansbraten, der seiner Mutter ihre Aufopferung damit dankt, dass er im Jähzorn Gegenstände durch die Küche wirft und mit den Fäusten auf dem Tisch herumtrommelt. In den Zwanzigern ist er ganz offensichtlich ein ausgemachter Rüpel geworden, lässt sich zu Hause kaum sehen, und wenn, dann dankt er seiner Mutter, dass sie ihn trotz allem bekocht, indem er die Suppenschüssel in die Ecke schmeißt. Im örtlichen Wirtshaus, wo der Trunkenbold Dauergast ist, kommt es dann zu einer Handgreiflichkeit zwischen ihm und einem Nebenbuhler, der es auf das gleiche Mädchen abgesehen hat. Sie endet mit dem Tod seines Gegners, dem kurzerhand ein Messer in die Brust gerammt worden ist. Der verlorene Sohn wird abgeurteilt, findet sich in einer Gefängniszelle wieder, und entgeht seiner Hinrichtung, indem er sich dort erhängt – nicht ohne vorher noch das Leben verflucht zu haben. Nachdem diese kleine Zukunftsschau vorbei ist, kann unsere Mutter nicht anders als den Tod erneut anzuflehen, diesmal aber, ihren Sohn ja bei sich zu behalten, denn tot zu sein, das sei immer noch besser als ein derart schändliches, ehrloses Leben zu führen wie das, das ihr von der Quelle gezeigt worden ist. Gesagt, getan: Zurück im Uhrensaal hält der Tod endgültig das Pendel derjenigen des Sohns an, und die Mutter bricht schluchzend zusammen. Fin.
Natürlich ist LA MADRE E LA MORTE zunächst einmal ein Lehrstück. Man muss den Tod als Teil der Realität akzeptieren, lautet der Grundtenor des knapp zehnminütigen Films von 1911. Manchmal ist es besser, tot zu sein, als ein langes, trauriges, unglückliches Leben zu führen. Nachdem die Mutter sich erst mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln dagegen zu wehren versucht, dass ihr ihr Kind noch im Wiegenalter entrissen worden ist, kommt sie am Ende zu der Einsicht, dass das, was ihr Schmerzen bereitet, letztendlich allen Beteiligten zum Besten gereicht. Mehr als die moralische Fabel begeistert mich bei LA MADRE E LA MORTE indes die visuellen Effekte, mit denen diese wie ein etwas ernsthafter und dennoch sacht verspielter Märchenfilm in Bilder übersetzt worden ist. Sei es nun der Thronsaal des Todes mit den zahllosen Standuhren und seinen gehörnten Höflingen, sei es das impressionistisch sich kräuselnde Wasser der Schicksalsquelle, die man als Folie stets im Hintergrund erahnen kann, wenn sich die weitere Lebensgeschichte des Sohns wie eine konsequente Abwärtsspirale vor ihr entrollt, seien es die frostigen Winterlandschaften unter freiem Himmel, durch die Mutter sich vorbei an gefrorenen Flüssen und über schmale Gebirgsbrücken kämpft – sozusagen jede einzelne Szene dieses Films spricht von dem erfolgreichen Versuch, die dem frühen Kino immanente Statik und Starre dadurch zu überwinden, dass man den Zuschauer einfach erschlägt mit einem zwar überschäumenden, jedoch nie aufdringlichen Stilwillen. Dem hauptsächlich als Drehbuchautor tätigen Arrigo Frusta ist mit LA MADRE E LA MORTE ein wirklich wundervoller, kleiner, symbolistischer Film gelungen, der so ziemlich alles ausschöpft, was man an Phantastik im frühen Kino ausschöpfen konnte. Unbedingt empfohlen!