Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen

Moderator: jogiwan

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Re: Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen

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„Tatort“: Axel Milberg kündigt Abschied als Borowski an
Kieler Ermittler ist seit 20 Jahren im Einsatz

Noch in diesem Jahr feiert er ein rundes Jubiläum: Seit nunmehr 20 Jahren ermittelt Axel Milberg als Kommissar Klaus Borowski am „Tatort“ in Kiel. Dennoch müssen sich die Zuschauer langsam, aber sicher auf den Abschied von dem wortkargen Ermittler einstellen. Wie der NDR heute bestätigte, wird Milberg noch bis 2025 in seiner Paraderolle zu sehen sein. Danach ist Schluss.

Quelle und weitere Infos:
:arrow: https://www.fernsehserien.de/news/tator ... orowski-an
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Beitrag von buxtebrawler »

Tatort: Schweigegeld

„Ich hab‘ kein gutes Gefühl, Klaus…“

Die Essener Kriminalkommissare Heinz Haferkamp (Hansjörg Felmy) und Willy Kreutzer (Willy Semmelrogge) ermitteln im „Tatort: Schweigegeld“ in ihrem achtzehnten Fall, der zugleich ihr vorvorletzter ist. Als Drehbuch niedergeschrieben hat ihn Herbert Lichtenfeld, während Hartmut Griesmayr mit der Inszenierung betraut wurde. Griesmayr hatte bereits beim vorausgegangenen Essener „Tatort: Ein Schuss zuviel“ die Regie geführt. „Schweigegeld“ wurde am 18. November 1975 erstausgestrahlt.

„Der Dieb muss ausgeraubt worden sein!“

Klaus Storck (Dieter Kirchlechner, „Alle Sünden dieser Erde“) beobachtet durchs Fenster einen Einbruch im Haus gegenüber, das sein Schwager Helmuth Klaven (Wolfgang Kieling, „Die Abenteuer des Kardinal Braun“) bewohnt. Er verfolgt den Einbrecher (Helmut Stange, „Wehe, wenn Schwarzenbeck kommt“), es kommt zu einem kurzen Kampf. Dabei stürzt der Einbrecher derart unglücklich, dass er an Ort und Stelle stirbt. Klaus steckt die Beute ein, geht wieder nach Hause und erzählt seiner Frau Ira (Hannelore Hoger, „Bella Block“) alles. Zudem wundert er sich darüber, dass der Einbrecher vor Verlassen des Tatorts noch ein Telefonat geführt hatte – und dass im Tresor lediglich ein Bündel Geldscheine lag. Als er kurze Zeit später in der Zeitung von vermeintlich gestohlenen Briefmarken liest, vermutet er Versicherungsbetrug. Dabei ist Klaven im Gegensatz zu Klaus bereits sehr vermögend. Da kommt ihm die Idee, seinen Schwager um Schweigegeld zu erpressen – anonym, versteht sich…

Klaus ist eigentlich gar kein Unsympathischer, das ist eher Klaven. Dieser steckt Klaus‘ Ehefrau Ira, also seiner Schwester, gern mal etwas Geld zu – um sie finanziell ein wenig zu unterstützen, wie er sagt. Es wirkt jedoch vielmehr so, als wolle er in diesen Momenten seine Schwester spüren lassen, welchen – aus seiner Sicht – Versager sie geheiratet hat. Dabei ist Klaus zwar arbeitslos, jedoch unverschuldet: Er ist chronisch krank, weshalb all seine Vorstellungsgespräche erfolglos enden. Nun hat Klaus, der gern gegen seinen Schachcomputer spielt, ziemlich freie Sicht aufs Nachbargrundstück, immer wieder beobachtet er die Geschehnisse von gegenüber (was mitunter ein wenig an Hitchcocks „Das Fenster zum Hof“ gemahnt). Gertrud (Liane Hielscher, „Cardillac“), die Frau des Einbrechers, und ihr Bruder Stefan (Erich Ludwig, „Titanic – Nachspiel einer Katastrophe“) machen sich Sorgen um Karl – so der Name des Toten Bauern in Klavens Spiel. Spätestens jetzt wird auch für die Zuschauerinnen und Zuschauer klar, dass hier etwas nicht stimmt.

Kurz nachdem Haferkamp & Co. den Toten finden, liest Klaus besagte Zeitungsmeldung. Als er von Klavens Zuwendungen an seine Frau erfährt, reift sein Entschluss, den mutmaßlichen Kriminellen mit kriminellen Methoden um ein wenig Geld zu erleichtern. Kommissar Kreutzer ermittelt unterdessen die Identität des Toten und kabbelt sich mit Haferkamp, der gar nicht gut drauf ist, weil seine Ex-Frau Ingrid (Karin Eickelbaum) einen Unfall erlitten hat und notoperiert werden musste. Dennoch sucht man gemeinsam Gertrud und Stefan auf – u.a. um die Todesnachricht zu überbringen, auf die Gertrud sehr aufgelöst reagiert. Stefan glaubt nun, Klaven habe Einbrecher Karl reingelegt, und will ihn nun ebenfalls erpressen. Nun hat Klaven also mehrere Leute gegen sich und keinen rechten Durchblick, was diesem „Tatort“ stärker zu seinem dramaturgischen Reiz verhilft als die polizeilichen Ermittlungen – wenngleich auch die Frage im Raum steht, wie Haferkamp und Kreutzer dieses Geflecht denn zu entwirren gedenken.

Ihnen gegenüber gibt Klaven zu Protokoll, dass er Stefan für des Einbruchs verdächtig hält – und als Klaus ihn um 200.000 DM erpresst, hält er ihn für Stefan, kommt aber irgendwann darauf, dass es auch Klaus sein könnte, und trickst diesen böse aus. Das ist ein bisschen jeder gegen jeden in einer komplizierten Gemengelage, zu der Haferkamp schließlich dennoch Zugang findet, bis er in ein spektakuläres Finale auf Bahnschienen verwickelt wird. Zuvor war er öfter im Krankenhaus, um Ingrid zu besuchen; für die Einbruchsermittlungen ist eigentlich Kollege Nägel (Holger Hildmann, „Die erste Polka“) zuständig.

Dieser „Tatort“ punktet mit einer gelungenen Charakterzeichnung seiner Figuren und seiner ungewöhnlichen Struktur, in der es keinen klassischen Mörder gibt, man anfangs zusammen mit Klaus rätselt, später aber einen Wissensvorsprung vor der Polizei hat und einer Mischung aus außer Kontrolle geratenem Betrugsversuch und Familiendrama beiwohnt. Immer mal wieder wird das Display des Schachcomputers eingeblendet, dafür verzichtet man aber auf echte Schauwerte. Nervenkitzel oder gar Action sind ebenso Fehlanzeige wie aus der Haut fahrende Soziopathen, stattdessen bewahrt man bis zum Ende - gemessen an den Umständen - die Contenance. Das Erzähltempo ist ein wenig gering, sodass „Schweigegeld“ eher ent- denn anspannt. Dazu passt dann auch die sehr zurückhaltende, leicht melancholische Filmmusik.

So will man seine Krimis heutzutage vermutlich nicht mehr sehen, ein bisschen mehr darf dann schon los sein. Nichtsdestotrotz ist diese Episode passabel gelöst. Freundinnen und Freunde des gediegenen, etwas biederen Fernsehkrimis vergangener Zeiten kommen hier auf ihre Kosten, weil Team und Ensemble daran gelegen war, eine schlüssige Geschichte seriös zu erzählen, nach der man mit stabilem Blutdrucklevel einschlafen kann.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Re: Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen

Beitrag von buxtebrawler »

Tatort: Maria im Elend

„Schalten Sie ein!“

Ende der 1970er neigte sich langsam, aber sicher auch der „Tatort“-Ast um den Münchner Kriminalhauptkommissar Melchior Veigl (Gustl Bayrhammer) seinem Ende entgegen. Der Titel seines 13. und somit vorvorletzten Falls bezieht sich auf eine gotische Madonnenfigur und wurde von Willy Purucker geschrieben, dessen Drehbuch Regisseur Wolf Dietrich, der zuvor bereits zwei Veigl-Episoden abgedreht hatte, inszenierte. Die Erstausstrahlung erfolgte am 16. Dezember 1979.

„Sie wissen doch, wie langsam die Polizei arbeitet…“

In der Nähe Münchens stiehlt die Aktionsgruppe zur Säkularisierung von Kirchenbesitz die titelgebende Madonnenfigur und verlangt 300.000 DM, damit sie sie wieder herausrückt – seltsamerweise nicht von der Kirche oder vom Staat, sondern von einer Boulevardpostille. Nach redaktionsinterner Debatte lässt man sich darauf hin, beauftragt aber Fotograf Lansky (Uwe Falkenbach, „Die rote Zora und ihre Bande“), Bilder von der Übergabe zu schießen. Das funktioniert alles reibungslos und „Maria im Elend“ wird zu „Maria im Bahnhofsschließfach“, doch plötzlich verschwindet Lansky. In seiner Tiefgarage befindet sich ein Blutfleck, der auf ein Gewaltverbrechen hindeutet. Kommissar Veigl übernimmt die Ermittlungen. Tatsächlich wird Lansky kurz darauf tot aufgefunden. Wer ist sein Mörder und was ist sein Motiv? Veigl & Co. versuchen, der „Aktionsgruppe“ auf die Spur zu kommen…

„Das kann der ganz große Knüller werden!“

Alles beginnt mit dem Einbruchdiebstahl in der Kirche, durchgeführt von einer Ganovenbande, die mit ihrem hochtrabenden Namen einen politisch motivierten Hintergrund lediglich vortäuscht – es geht ihnen schlicht um den schnöden Mammon. Da es noch keine(n) Tote(n) gibt, ermittelt zunächst Kommissar Breitner (Elert Bode, „Gefundenes Fressen“) vom LKA, bis Veigl nach Lanskys Verschwinden auf den Plan tritt. Die Zuschauerinnen und Zuschauer kennen die Kirchendiebe und erfahren auch recht früh, dass Lansky mit ihnen unter einer Decke steckt. Spannung versucht dieser „Tatort“ aus der Frage nach dem Mörder und dem Grund für Lanskys Tod zu generieren. Diese wird jedoch von einer nicht sonderlich aufregenden Inszenierung konterkariert, deren Mangel an Schauwerten man reichlich plump dadurch auszugleichen versucht, dass im Zuge der polizeilichen Ermittlungen von Lansky angefertigte Erotikfotos herumgezeigt werden.

„Die Gentlemen bitten zur Kasse!“

Leider ist die Sprachbarriere auch in dieser Münchner „Tatort“-Episode wieder recht dominant und erweist sich außerhalb des Freistaats als störend, weil wahrlich nicht jedem Dialog gefolgt werden kann. Die Auflösung ist dafür recht stimmig und gegen Ende fallen sogar ein paar Schüsse und wird die Spannungsschraube endlich einmal angezogen. Der Epilog zeigt einen nachdenklichen Veigl, als sinniere Bayrhammer in diesem Moment darüber, ob man nicht auch aus diesem Fall viel mehr hätte herausholen können – z.B. kritisch die Rolle der Sensationspresse in Bezug auf spektakuläre Straftaten herauszuarbeiten, die „Säkularisierung von Kirchenbesitz“ zu diskutieren oder wenigstens mehr für die Dramaturgie zu tun. So bleibt unterm Strich durchschnittliche, oberflächliche Krimikost für ein katholisches süddeutsches Publikum, das sich darüber freuen darf, dass „Maria im Elend“ wohlauf ist. Zefix!
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karlAbundzu
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Re: Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen

Beitrag von karlAbundzu »

O, da muss ich ja noch nachtragen
Polizeiruf 110 Magdeburg: Ronny
Kommissarin Brasch sucht vermissten Jungen.
Sozialdrama zwischen Kinderheim, Mutter, Schwiegervater, verrohte Jugend. In der anhaltinischen Provinz. Mal schrammt es am Klischee vorbei, mal taucht es leider in sie ein.
Aber durch Michelsens gute Leistung gut guckbar.

Tatort Köln: Abbruchkante
Beinahe ganz Alt-Bützenich ist verlassen und verrammelt. Nachts schaut hier ein Sicherheitsdienst nach dem Rechten. Es war beschlossene Sache, dass die Häuser und die Kirche dem Tagebau weichen müssen. Dann bringt die Klimawende neue Hoffnung: Das alte Dorf darf bleiben.
Politisch hochaktuell. Ballauf und Schenk auch konzentriert am Start, für Ballauf alles auch eine Spiegelung des eigenen Lebens. Schöne Auflösung Agathe Christie Style in einer Kirche. Guckbar.

Tatort Bremen: Donut
In der Autoraser Szene nennt man einen Gummiantriebkreis, der durch Rumheizen in engem Wendekreis entsteht, Donut. Wieder was gelernt.
Mord auf dem Autoverladeplatz in Bremerhaven. Und die Racer Szene hat etwas damit zu tun. Mittendrin Marie Moormann, die Schwester der Kommissarin Liv. Die auch beinahe alleine ist, Selb nur zu Beginn mit dabei, Andersen nur im Chatfenster. Und Liv Moormann hat in ihrer Heimat auch allerhand zu tun, neben der Schwester die Mutter, ein fähiger Ex und Wieder Kollege, ein unfähiger Bremerhavener Vorgesetzter.
Auch hier schrammt es wieder nah am Unterschichtenklischee entlang, bleibt aber auf Seite Glaubwürdig.
Besonders stark die beiden Schwestern : Jasna Fritzi Bauer eben als Kommissarin eh eine Bank, und Luisa Böse als Marie als ihre Mit - und Gegenspielerin. Stark
Dazu endlich mal Bremerhaven in Szene gesetzt, obwohl so auch keine Touris angelockt werden.
jogiwan hat geschrieben: solange derartige Filme gedreht werden, ist die Welt noch nicht verloren.
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CamperVan.Helsing
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Re: Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen

Beitrag von CamperVan.Helsing »

karlAbundzu hat geschrieben: Di 4. Apr 2023, 16:19
Dazu endlich mal Bremerhaven in Szene gesetzt, obwohl so auch keine Touris angelockt werden.
Touris nach Bremerhaven? Dass wäre ja so, als wenn man die Bremer Tourismuszentrale in Gröpelingen einrichten würde... :pfeif:
My conscience is clear

(Fred Olen Ray)
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karlAbundzu
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Re: Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen

Beitrag von karlAbundzu »

ugo-piazza hat geschrieben: Di 4. Apr 2023, 16:26
karlAbundzu hat geschrieben: Di 4. Apr 2023, 16:19
Dazu endlich mal Bremerhaven in Szene gesetzt, obwohl so auch keine Touris angelockt werden.
Touris nach Bremerhaven? Dass wäre ja so, als wenn man die Bremer Tourismuszentrale in Gröpelingen einrichten würde... :pfeif:
An der Weserkante, die sogenannte Havenwelten und im Fenster Fischereihafen hat es sich ganz schön gemausert und die Pendler, die ich so kenne, sind tendenziell genervt über die Amateur mit Fahrrad Bahnfahrer.
jogiwan hat geschrieben: solange derartige Filme gedreht werden, ist die Welt noch nicht verloren.
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Beitrag von buxtebrawler »

Tatort: Kein Kinderspiel

„Is dis ä Kreuz mit de Kinder heutzutag‘!“

Fall Nummer 10 des schwäbischen Kriminalhauptkommissars Lutz (Werner Schumacher) entpuppt sich als Kriminaldrama, das innerhalb einer dysfunktionalen Familie angesiedelt wurde. Wie fast alle Lutz-Episoden der öffentlich-rechtlichen Krimireihe wurde auch dieser „Tatort“ von Regisseur Theo Mezger inszeniert, der ein Drehbuch Peter Scheiblers vorliegen hatte. „Kein Kinderspiel“ wurde am 13. Januar 1980 erstausgestrahlt, ist demnach noch im Jahre 1979 entstanden.

„Ich befürchte immer das Schlimmste und meistens trifft es ja auch ein.“

Die zehnjährige Stefanie Wolf (Julia Hainzl) lebt mit ihrem Vater Rainer (Karl-Heinz von Hassel, der spätere „Tatort“-Kommissar Brinkmann) und ihrer Stiefmutter Roswitha (Angelika Bender, „Die Halde“) zusammen, hat aber den Tod ihrer leiblichen Mutter nie verkraftet. Sie schlägt aus der Art, was sich in problematischem Sozialverhalten, Schulschwänzen und Herumtreiberei ausdrückt. Roswitha lehnt sie als neue Mutterfigur ab, was deshalb delikat ist, weil Rainer Wolf sie vornehmlich geheiratet hat, damit sie eben diese Rolle ausfüllt. Als Stefanie eines Tages verschwindet, verständigt Rainer Wolf am Abend die Polizei. Diese schaltet eine Vermisstenmeldung im Rundfunk, in deren Folge Stadtstreicher Manfred Aulich (Werner Schulze-Erdel, „Tatort: Schlussverkauf“) verhaftet wird, der in dringendem Tatverdacht steht, weil er Stefanies Schulranzen mit sich führt. Doch er behauptet, das Mädchen gar nicht zu kennen und den Ranzen auf einer Müllkippe gefunden zu haben. Kurz darauf wird Stefanies Leichnam gefunden. Die Ermittlungen Kommissar Lutz‘ und seines Assistenten Wagner (Frank Strecker) fördern zwei weitere verdächtige Personen zutage…

Dieser in Heilbronn spielende „Tatort“ beginnt wie ein Kinderfilm, da er sich zunächst auf Stefanie fokussiert. Diese ist ein aufgewecktes, freches Kind, von dessen familiären Problemen man erst nach und nach erfährt. Aus Abenteuerlust springt sie bei einem Müllwagen auf und fährt ein Stück mit, was einige Aufregung in der Innenstadt verursacht und wobei der Fahrer des Wagens auf sie aufmerksam wird. Als nach ihrem Verschwinden einmal mehr der spätere Fernsehmoderator Werner Schulze-Erdel auf der Bildfläche erscheint, kratzt dieser in seiner Rolle als Verdächtiger am Overacting, bekommt aber bald zwei weitere Tatverdächtige zur Seite gestellt, zu denen auch der Müllwerker zählt. Daraus bezieht diese Episode zum einen ihre (leidliche) Spannung, zum anderen nutzt sie diesen Umstand aber auch, um falsche Verdächtigungen – insbesondere in einem derart pikanten Fall – zu problematisieren.

Eine erste Wendung ist die Frage, ob es sich statt um Mord möglicherweise um einen Suizid des Mädchens gehandelt haben könnte. Und eine weitere Wendung folgt etwas später, was sich jedoch aufregender liest, als es ist, denn „Kein Kinderspiel“ ist unheimlich langatmig erzählt. Nach diversen Einblicken in Stefanies Familie, insbesondere tiefergehende Erkenntnisse das Leben ihrer Stiefmutter betreffend, bietet ein Tagebucheintrag Stefanies Aufschluss – womit dieser Fall auf etwas arg simple Weise gelöst wird. Werner Schumacher als Kommissar Lutz bemüht sich diesmal, etwas weniger unterkühlt, dafür einfühlsam zu wirken. Das klappt eher mittelprächtig, Lutz bleibt eine recht distanzierte Kommissarsfigur. Noch unterkühlter wirkt indes tatsächlich die medikamentenabhängige Stiefmutter Roswitha, die von Angelika Bender insofern gut gespielt wird, als sie einem tatsächlich latent narkotisiert erscheint.

Schade nur, dass dieser ganze „Tatort“ mit seinen mehreren vielversprechenden Ansätzen wie auf Morphium wirkt und daher nicht wirklich für einen spannenden Krimiabend geeignet ist – zumal die schwäbische Erwachsenenwelt, die nach Stefanies Verschwinden den Fall dominiert, unfreiwillig trist und bedrückt erscheint – sodass sich fast die Frage stellt, weshalb man hier überhaupt erwachsen werden wollte…
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Re: Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen

Beitrag von buxtebrawler »

Tatort: Donuts

„Wenn er zu Menschen so nett gewesen wäre wie zu Motoren, hätt‘ er auch ‘ne Frau gehabt…“

Unter der Regie Sebastian Kos, der mit „Donuts“ bereits seinen sechsten „Tatort“ inszenierte, verschlägt es das Bremer Ermittlerinnen-Duo Liv Moormann (Jasna Fritzi Bauer) und Linda Selb (Luise Wolfram) nach Bremerhaven. Die Mischung aus Krimi und Familien-/Beziehungsdrama wurde von Ko zusammen mit Mathias Schnelting geschrieben und am 2. April 2023 erstausgestrahlt.

„Die Heimat umarmt mich wie ein böser Tiger…“

Im Bremerhavener Autoumschlaghafen wird die Leiche des Bereichsleiters gefunden, Mörder und Motiv sind unbekannt. Die Bremer Kommissarinnen Liv Moormann und Linda Selb nehmen die Ermittlungen auf und müssen sich wohl oder übel mit den örtlichen Kollegen arrangieren, wobei sich Selb alsbald zu einem Termin nach Brüssel verabschiedet. Dafür stößt der Bremerhavener Kollege Robert Petersen (Patrick Güldenberg, „Sonnenallee“) dazu, der Moormann bei ihren Ermittlungen konstruktiv zu unterstützen versucht. Sie kennt ihn ebenso noch von früher wie eine verdächtige junge Frau (Luisa Böse – wat’n Name!), die der örtlichen Auto-Tuning-Szene angehört und mit einem der Neffen des Toten, dem vorbestraften Autoschrauber Gheorghe (Adrian But), liiert ist: Es handelt sich um ihre Halbschwester Marie…

Ein blutiger Leichenfund in Bremerhaven, die Polizei ermittelt an einem für Bremer „Tatort“-Verhältnisse ungewöhnlichen Ort. Parallel dazu zeigt Ko die Neffen Gheorghe und Oleg (Jonas Halbfas) des Toten, von denen Oleg das Down-Syndrom hat, aber liebevoll von seinem knasttränentätowierten Bruder umsorgt wird. Dies ist ein erster Hinweis darauf, dass dieser vorbestrafte, drahtige junge Autonarr doch eigentlich so verkehrt gar nicht sein kann. Zusammen mit Marie halten sie sich gern in ihrer Werkstatt auf, denn für neue, schnelle Autos interessieren sich alle drei – und „leihen“ sich nachts gern mal unbemerkt das eine oder andere Modell aus, um es „probezufahren“, worum sich eine kleine Szene gebildet hat. Diese fährt gern mal den titelgebenden „Donut“, also einen Kreis mit quietschenden Reifen. Auto-Poser-Klischees von sich in Innenstädten an den Ampeln waghalsige, gemeingefährliche Rennen liefernde Idioten werden dabei interessanterweise eher ausgespart, während die Kamera sich um die Ästhetisierung der Fahrzeuge bemüht. Relativ früh wird eine (ob des Sujets auf der Hand liegende) Verfolgungsjagd in die Handlung integriert.

Zum Rätsel um den Mörder und dessen Motiv gesellt sich bald die Frage, ob Moormann ihre Halbschwester schützt. Wurde in den vorausgegangenen Episoden Moormanns soziale Herkunft aus der Unterschicht bereits angesprochen und thematisiert, geht man diesbezüglich hier in die Vollen: Nicht nur ihre Halbschwester, auch ihre Mutter (Angelika Richter, „Stromberg“), eine offenbar alkoholkranke Frau, der es schwerfällt, Verantwortung zu übernehmen, lernt man kennen. Das muss man in so einem Krimi nicht mögen, scheint aber fester Bestandteil des aktuellen Bremer „Tatort“-Zweigs zu sein und ist aufgrund des Schauspiels aller Beteiligten nicht schlecht gemacht – wenngleich es zwischenzeitlich angesichts schnelle Autos fahrender Jugendlicher und einer feiernden und vögelnden Mutter auf der einen und der genervten, angestrengten Liv auf der anderen Seite unfreiwillig so aussieht, als hätten die einen Spaß und seien die anderen eben bei den Bullen. Tatsächlich werden diese nicht sonderlich sympathisch dargestellt: Das Kompetenzgerangel in Bremerhaven nervt nicht nur Moormann, die sich daraufhin gerademacht.

Diversität wird hier großgeschrieben, was im Falle Olegs gut funktioniert, im Falle Petersens aber sehr erzwungen wirkt: Dass er homosexuell ist, erfährt man, als der schlimmste Arschlochbulle Bremerhavens ihn beschimpft und spielt ansonsten keine Rolle. Ein Dialog für die Checkliste? Über solche Details lange nachzudenken bleibt aber keine Zeit, denn eine ebenso überraschende wie krasse Wendung hat einen weiteren Toten zur Folge. Dies verleiht diesem „Tatort“ weiteren Sprengstoff, spitzt ihn weiter zu, hätte es für den eigentlichen Fall aber nicht gebraucht. Dieser war ohnehin weitgehend in den Hintergrund gerückt und fand (Achtung, Spoiler!) seine Auflösung im Industriespionagebereich statt unter kleinkriminellen Autofreaks, für die dieser „Tatort“ seine Sympathie nicht verhehlt. Zumindest kurzzeitig mit fabrikneuen Bonzenkarren seinen Spaß zu haben ist schließlich auch eine Art von Klassenkampf. Die melancholischen Momente gegen Ende wissen zu gefallen, wenngleich „Donuts“ unterm Strich mit seiner Krimi/Drama-Melange, die auf eine persönliche Ermittlerinnen-Ebene zugeschnitten wurde, eine reichlich unwahrscheinliche Geschichte erzählt – dies jedoch mit einigem Stilwillen, (geschmacklich fragwürdigem) modernem Hip-Hop und überzeugenden schauspielerischen Leistungen. Da verzeiht man es auch, dass zunächst ein PS-Action-Thriller angetäuscht wird, der „Donuts“ nun wiederum wirklich nicht ist.

Einen Gruß lässt übrigens Mads Andersen (Dar Salim) da, der sich kurz per Video mit Selb aus deren Auto meldet. Ein Hinweis auf eine Rückkehr zum Bremer „Tatort“-Zweig?
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Tatort: Schussfahrt

Szenen einer Ehe

„Ich kann’s Ihnen erklären…“

Mit der 1970er-Dekade neigte sich auch der Essener „Tatort“-Zweig seinem Ende entgegen: Der von Wolfgang Staudte („Die Mörder sind unter uns“) nach einem Drehbuch Peter Hemmers inszenierte Fall „Schussfahrt“ ist der neunzehnte und somit vorletzte der Essener Kriminalkommissare Heinz Haferkamp (Hansjörg Felmy) und Willy Kreutzer (Willy Semmelrogge). Es ist die fünfte von insgesamt sieben Regiearbeiten Staudtes für die öffentlich-rechtliche Krimireihe. „Schussfahrt“ wurde im Mai und Juni 1979 gedreht und am 1. Juni 1980 – also rund ein Jahr später – erstausgestrahlt.

„Kennen Sie Herrn Zehle?“ – „Ich kenn‘ mich kaum selber…“

Der 47-jährige Manager Kurt Wiedemann (Heinz Baumann, „Das Spukschloss im Spessart“) hadert seit dem Konkurs seines Arbeitgebers nicht nur mit Arbeitslosigkeit und erfolgloser Suche nach einer neuen Anstellung, sondern auch damit, dass seine jüngere Frau Karin (Doris Kunstmann, „7 Tote in den Augen der Katze“) ihm durch eine Affäre mit Christian Zehle (Volkert Kraeft, „Die Buddenbrooks“) regelmäßig Hörner aufsetzt. Karin glaubt, ihr Mann wisse nichts davon, doch dieser plant längst, seinen Nebenbuhler um die Ecke zu bringen. Hierfür geht er derart gerissen vor, dass er glaubt, niemand – nicht einmal seine Frau – könne ihm auf die Schliche kommen: Er suggeriert durchaus glaubwürdig, dass sich Zehle zusammen mit einem Komplizen am Tresor der Wiedemanns zu schaffen gemacht und er ihn dabei ertappt und in Notwehr erschossen habe, während der Komplize (den es nie gab) entkommen konnte. Dass er durch den vermeintlichen Einbruchdiebstahl auch ein hübsches Sümmchen von der Versicherung kassiert, kommt Kurt dabei mehr als gelegen. Doch Kommissar Haferkamps Ermittlungen bringen in Zehles arbeitslosem Kumpel Herbert Rull (Burkhard Driest, „Steiner – Das Eiserne Kreuz“) tatsächlich einen möglichen Komplizen hervor. Dieser verschlagene Tunichtgut durchschaut bald darauf den Mörder und versucht, selbst Kapital aus dem Mord zu schlagen: Er erpresst Kurt Wiedemann…

„Die schicken uns von einer Kneipe in die andere…“

Die 1970er gehen zu Ende und die erste Hälfte des Jahrzehnts scheint länger zurückzuliegen, als es tatsächlich der Fall ist. Arbeitslosigkeit ergreift nicht nur Menschen vom Kaliber Herbert Rull, sondern auch die hier von Kurt Wiedemann verkörperte Mittelschicht. „Freie Liebe“ bzw. das, was man darunter verstand, ist wieder verpönt, der Rückzug ins Private wurde angetreten – wenn es sein muss mit Gewalt. In seiner Melange aus klassischem Krimi, Thriller-Anleihen und Ehedrama setzt Staudte Schauspielerin Doris Kunstmann sehr attraktiv in Szene und lässt sie zunächst auf die Mordkonstruktion ihres Mannes hereinfallen, gesteht ihr im weiteren Verlauf jedoch eine Entwicklung zu, die sie keineswegs als eindimensionale naive Blondine dastehen lässt.

„Du scheinheiliger Lügner!“

Nachdem das „Tatort“-Publikum Zeuge all dessen wurde, Täter und Motiv also von vornherein kennt, verbringt Kommissar Haferkamp harmonische Zeit mit seiner Ex-Frau Ingrid (Karin Eickelbaum), was wie ein Gegenentwurf zur kaputten Ehe der Wiedemanns wirkt. Anschließend ermittelt er vor Ort und verhört zusammen mit Kreutzer den herrlich verkaterten vermeintlichen Komplizen Rull. Dieser fällt aus allen Wolken, als er von Christians Tod erfährt, lässt sich aber bald darauf von seiner Bauernschläue, gepaart mit krimineller Energie und einem eher ungesunden Drang nach inoffiziellen „Schmerzensgeldzahlungen“ leiten. Interessanterweise gerät auch Karin Wiedemann kurzzeitig in den Kreis der Verdächtigen, woraus jedoch Haferkamps erster großer Ermittlungserfolg innerhalb dieser Episode resultiert: Er ahnt alsbald, welche Art Verhältnis Karin zum Toten pflegte, was zum Schlüsselmoment für die Lösung des dennoch nicht trivialen Falls gerät.

„Wenn wir uns ‘n bisschen Mühe geben, wird vielleicht alles wieder gut!“

Die jüngste Entwicklung nimmt Karin zum Anlass für den Versuch einer offenen Aussprache, doch Kurt bleibt konsequent in seiner Rolle. Um der Handlung mehr Schärfe zu verleihen und ihr Eskalationspotenzial weiter auszuschöpfen, muss trotz der ersten Ermittlungserfolge eine weitere Person ihr Leben lassen. „Schussfahrt“ avanciert zum Duell zwischen zwei ähnlich intelligenten Gegnern auf Augenhöhe, in dessen Zuge Haferkamp seinerseits in die Trickkiste greift. Gegen Ende resultiert eine Kfz-Verfolgungsjagd daraus, die jedoch wie der ganze Fall unspektakulär und mit viel Respekt für die Beteiligten inszeniert wurde – und endet. Dies bedeutet indes nicht, dass es nicht befriedigend wäre, zuzusehen, wie hier ein vermeintlich perfekter Mord nach und nach dekonstruiert wird. Staudte-typische soziale Kommentare finden sich dabei zwischen den Zeilen, wobei der erschreckende Umstand, dass seinerzeit ein 47-Jähriger als zu alt für den Arbeitsmarkt galt, durchaus laut ausgesprochen wird.

„Wer ist denn hier das größere Schwein?“

Im Gegensatz zum vorausgegangenen Fall weist dieser vorletzte Haferkamp-„Tatort“ keinerlei Abnutzungserscheinungen auf, nur Kreutzer wirkt vielleicht noch etwas grummeliger als sonst. Auch ohne viel Spektakel ist „Schussfahrt“ ein gelungener, niveauvoll und sauber inszenierter Beitrag, der zu gleichen Teilen von persönlichem Drama und smarter Ermittlungsarbeit getragen wird und ein aus genannten Gründen sehenswertes Zeitdokument darstellt. Lediglich der rote Hering, den Ingrid anfänglich im Dialog mit ihrem Ex-Mann auswirft, hat sich mir nicht erschlossen. Wahrscheinlich sollte er das auch gar nicht.
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Re: Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen

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Tatort: Verborgen

„Wir können niemandem in diesem Land trauen!“

Mit der Episode „Verborgen“ feierte Wotan Wilke Möhring in seiner Rolle als Hamburger BKA-Ermittler Thorsten Falke sein zehnjähriges „Tatort“-Jubiläum. Ich gratuliere! Damit kommt er auf bereits 18 Einsätze, für Falkes Kollegin Julia Grosz (Franziska Weisz) sind es derer zwölf. Ganz neu dabei ist hingegen Regisseurin Neelesha Barthel („Marry Me! Aber bitte auf Indisch“), die mit der Inszenierung des Drehbuchs Julia Draches und Sophia Ayissi Nsegues innerhalb der öffentlich-rechtlichen Krimireihe debütiert. Gedreht wurde der Film bereits im ausklingenden Jahr 2021, am 10. Juni 2022 wurde das Ergebnis auf dem Internationalen Filmfest Emden-Norderney erstmals der Öffentlichkeit präsentiert. Die TV-Erstausstrahlung musste bis zum 16. April 2023 warten.

„Du bist kein Deutscher!“

Die Eheleute Jon (Alois Moyo, „Tatort: Verbrannt“) Hope Makoni (Sheri Hagen, „Deutschlandspiel“) suchen verzweifelt nach ihrem 17-jährigen Sohn Noah, haben jedoch Skrupel, die Polizei einzuschalten, da sich die Schwarzafrikaner illegal in Deutschland aufhalten. Gegen den Widerstand seiner Frau sucht Jon schließlich dennoch die Polizei auf. Die aufgrund des Todes eines Flüchtlings im Palettenkasten eines Lkws in Hannover ermittelnden BKA-Leute Falke und Grosz nehmen sich Jons Ersuchen an und tauchen damit in ein ihnen bisher wenig bekanntes Milieu ein, in dem sich die Hoffnung auf ein besseres Leben und die Angst, von den Behörden entdeckt und drangsaliert zu werden, die Waage halten, Geschäftemacherinnen und Geschäftemacher vom illegalen Aufenthaltsstatus dieser Menschen profitieren – und die Polizei keinen allzu guten Leumund besitzt…

„Sie sind ‘n Bulle – das sieht man!“

Einmal mehr beweist der BKA-Hamburg-Zweig des „Tatort“ sein soziales Gewissen, indem er die Probleme marginalisierter Gruppen aufgreift und ihnen damit massenwirksam Gehör verschafft. Flüchtlinge fliehen aus besagtem Lkw, der Fahrer ist überrascht – und einer bleibt leblos daliegend zurück. Als Falke und Grosz hinzustoßen, ist der Fahrer verschwunden. Parallel wird der Handlungsstrang um die Makonis etabliert, die ihren Sohn suchen – womit die Frage aufgeworfen wird, ob es sich beim toten Jungen um eben jenen handelt. Dass Jon, bevor er zur Polizei ging, in einer Gastronomieküche nach seinem Sohn fragte, ist die erste von mehreren Stationen in diesem „Tatort“, in denen Arbeitgeber(innen) von der Schwarzarbeit der „Illegalen“ profitieren (was so deutlich indes nie ausgesprochen wird). Die Dialoge sind zum Teil untertitelt, was dem ohnehin in weiten Teilen realistisch anmutenden Fall weitere Authentizität verleiht.

„Wir sind unsichtbar!“

„Verborgen“ ist mehr ein Sozialdrama denn ein klassischer Krimi, das ein Gespür für die Sorgen, Probleme und Hoffnungen seiner Klientel erfolgreich entwickelt und vermittelt. Ein Teil dieser Sorgen mündet verständlicherweise in Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen, das auch Falke und Grosz entgegenschlägt und sich insbesondere im Verhalten Hope Makonis äußert, die die Zusammenarbeit ihres Mannes mit der Polizei überaus kritisch beäugt. Natürlich ist – so viel sei verraten – der Tote nicht der gesuchte Sohn, das wäre zu einfach gewesen. Jedoch ist im letzten Drittel ein weiteres Todesopfer zu beklagen. Regisseurin Barthel erzählt diesen Fall sensibel, was derart weit reicht, dass sie sich davor scheut, jemanden zu verurteilen – weder die Flüchtlinge noch Schleuser(innen) oder per se Schwarzarbeiter(innen) beschäftigende Unternehmer(innen). Offenbar möchte man mit „Verborgen“ nicht moralisieren, sondern sensibilisieren und Fragen aufwerfen.

Dieses hehre Unterfangen gelingt grundsätzlich, wenngleich der Krimianteil ein wenig seltsam in den Hintergrund gerückt wirkt und auf dramaturgischer Ebene einiges – zu viel – an Struktur und Tempo verlorengeht. Während einer Verfolgung („Verfolgungsjagd“ wäre übertrieben) klingt die eingesetzte Musik nach dem „Stranger Things“-Score, wobei es sich um ein eher unfreiwilliges Zitat handeln dürfte. Ansonsten hält man sich mit Reminiszenzen ans andere deutsche Migrantendramen zurück und emanzipiert sich ein gutes Stück weit von ihnen, indem diverse mittlerweile als Klischees geltende Topoi unbedient bleiben. Was jedoch bleibt, ist die Verbindung von Migration und gefährlicher Knochenarbeit, die innerhalb der Reihe schon früh aufgegriffen wurde.

Ein Film also über die mitunter tödlichen Herausforderungen, die mit der gezeigten Art illegalen Aufenthalts in Deutschland einhergehen. Doch auch, wenn ich so etwas in meinen TV-Krimi-Besprechungen nicht oft erwähne und natürlich medienkompetent genug bin, fiktionale bzw. fiktionalisierte Stoffe von der Realität zu unterscheiden: Vielleicht wäre es sinnvoller gewesen, diesen Themenkomplex außerhalb des „Tatort“-Sujets zu verarbeiten, denn anders als hier herbeifabuliert kann es mit Sicherheit keinem „Illegalen“ empfohlen werden, sich hilfesuchend an die Polizei zu wenden – so sehr Falke auch in Aussicht stellt, sich für Duldungen einzusetzen. Dass dessen jeweilige Gegenüber darauf pfeifen, ist zwar ein starkes Statement – angesichts der Realität wäre eine ausdrückliche Warnung vor der Polizei aber vermutlich angebrachter gewesen.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
Ein-Mann-Geschmacks-Armee gegen die eingefahrene Italo-Front (4/10 u. 9+)
Diese Filme sind züchisch krank!
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