Originaltitel: La Flor
Produktionsland: Argentinien 2019
Regie: Mariano Llinás
Darsteller: Elisa Carricajo, Valeria Correa, Pilar Gamboa, Laura Paredes, Mariano Llinás
Am Wochenende betrat ich um viertel vor zehn Uhr morgens ein kleines Programmkino in Hannover. Am Wochenende verließ ich am nächsten Tag eine halbe Stunde nach Mitternacht besagtes kleines Programmkino in Hannover. Was ist in den zwischenzeitlich vergangenen, immerhin fast fünfzehn Stunden geschehen? Nun, ich habe Mariano Llinás LA FLOR aus dem Jahre 2018 geschaut, und damit meinen bisherigen Rekord gebrochen: Der bis dato längste Film, den ich meinen armen Augen jemals zumutete, ist Jacques Rivettes OUT 1 gewesen; dessen 773 Minuten überbietet LA FLOR allerdings noch um deren exakt fünfzwanzig!
Zu Beginn von LA FLOR sitzt Regisseur Llinás an irgendeiner Landstraßenraststätte, und erklärt uns, ohne die Lippen zu bewegen, denn die Stimme stammt aus dem Off, auf was wir uns die nachfolgenden dreizehneinhalb Stunden gefasst machen müssen. Insgesamt sechs Episoden würden auf uns zukommen; von denen besäßen die ersten vier zwar einen Anfang, jedoch keinen Abschluss; die fünfte Episode indes sei so etwas wie eine in sich geschlossene Kurzgeschichte; die sechste Episode wiederum würde keinen Anfang besitzen, ihr Ende indes führe die vorherigen fünf Episoden dann allesamt zusammen. Während Llinás uns sein Konzept näherbringt, zeichnet er auf ein Blatt Papier genau jene Blume, nach der der Film benannt ist, und die auf jedem Plakat des Films prangt: Ihre Blüten sind die unvollendeten vier Episoden, ihr Mittelbau die in sich schlüssige fünfte, und ihr Stiel die sechste. So weit, so abstrakt: Was die Episoden zusätzlich einte, das sei, dass in jeder von ihnen die gleichen vier Hauptdarstellerinnen zu sehen seien. Sie heißen: Elisa Carricajo, Valerie Correa, Pilar Gamboa, Laura Paredes. Im Grunde ginge es in seinem Film, sagt Llinás aus dem Off, während der Llinás auf der Leinwand stoisch die Lippen versiegelt hält, also vor allem auch um diese vier Frauen, denen er LA FLOR dann folgerichtig auch widme.
Es sind, zusammen mit mir und meiner Begleitung, sieben zahlende Gäste erschienen: Zwei ältere Damen links von mir, zwei junge Männer im Ersemesteralter rechts von mir, ganz vorne ein älterer Herr. Sie werden alle bleiben, nur meine Begleitung springt kurz nach acht ab, und schreibt mir in der Nacht noch eine entgeisterte SMS: Ich musste nach Hause, um meine Aggressionen gegenüber des Films abbauen! Ich antworte, im Zug sitzend, und wie benommen davon, wieder in der sogenannten Realität zu sein, und ein Loch im Bauch, weil ich den ganzen Tag außer den Häppchen, die man uns gnädigerweise in den schmalbemessenen Pausen reichte, mit der besten Metapher, die mir bis heute eingefallen ist, um LA FLOR zu beschreiben: Denk doch mal an diese Doppel-LPs, die megalomanische Rockbands in den 70ern herausgebracht haben. Da ist zwar ein Drittel pures Füllmaterial, aber doch ebenso einige großartige Hits, und oft genug brillant zündende und innovative Ideen, für die es sich allein schon gelohnt hat, die Platte auf den Teller zu legen...
Episode 1 ist die zweitbeste von LA FLOR, eine Verbeugung sowohl vor mexikanischem Mumienhorror der 60er wie vor dem Schmutz und Dreck von 70er Exploitation, allerdings gefiltert durch eine dezidierte Arthouse-Brille. Inhaltlich rankt sie sich um eine Frauenmumie, die eines Tages in einer Forschungsstation irgendwo in der Wüste eingeht, und deren pure Präsenz sehr negative Auswirkungen zunächst auf die Laborkatzen zeitigt, denn eine von ihnen gebärdet sich plötzlich als Killerin, murkst alle übrigen ab, und verstirbt, nachdem sie phasenweise lethargisch vor sich hindämmerte oder in ungezügelter Aggression herumtobte. Auch eine Mitarbeiterin jedoch bemerkt bald verdächtige Symptome: Amoklauf heißt bald die Konsequenz des Mumienfluchs. Blutig ist diese Episode freilich zu keinem Zeitpunkt, stattdessen kann sie einen gerade durch ihre unterhaltsamen Genre-Affinitäten auf den Stil Llalinás einstimmen, der es liebt mit der Schärfe zu spielen – meist ist lediglich der Bildvordergrund direkt vor dem Objektiv klar umrissen, während alles dahinter unter einem trüben Schleier verschwimmt –, langen Einstellungen eher zugetan ist als Schnittgewittern – was normalerweise die Montage übernehmen würde, das wird in seinen Plansequenzen an die Schauspieler delegiert, die sich in präzisen Choreographien durch den filmischen Raum bewegen –, und dem die musikalische Untermalung außerordentlich am Herzen liegt: In vorliegender Episode dominiert ein bedrohlicher Orchesterscore, der nun wirklich keinem „richtigen“ Horrorfilm schlecht zu Gesicht stünde. Ansonsten ist dieser Mumienmumpitz, trotz oder gerade weil es sich um eine augenzwinkernd-charmante Hommage handelt, derart spannend umgesetzt, dass die Episode, obwohl ihr freilich, wie angekündigt, ein runder Schluss fehlt, durchaus auch aufgeschlosseneren Genre-Connoisseuren unterhaltsame eineinhalb Stunden bereiten könnte.
Episode 2 ist die beste von LA FLOR, eine überaus bewegende Geschichte um ein Popmusik-Pärchen, das nun, nach seiner Scheidung, erneut einen Song zusammen aufnehmen soll, wobei sowohl die neue Partnerin des männlichen Parts als auch eine junge Frau, die rätselhafte Obsessionen für die Sängerin entwickelt hat, für emotionalen Sprengstoff sorgen, - und die vollends ins Absurde kippt, als auch noch eine Geheimorganisation auftritt, die aus dem Gift seltener Skorpione das Elixier des Ewigen Lebens gewinnen möchte. Das hört sich zwar alles an wie ein ausufernder Kolportageroman, (und ist es wohl auch), aber die Art und Weise, wie Llinás die angespannten Gefühlen aller Beteiligten in endlosen Monologen und Dialogen zum Implodieren bringt, und wie er es schafft, trotz der Permanentbeschallung eines bewusst überorchestrierten Soundtracks und einiger wirklich bizarrer Momente, mich ehrlich für seine befremdlichen Figuren zu interessieren, und wie nicht als bloße Makulatur, sondern als handlungstragende Elemente einige wirklich hübsche Popsongs in die Geschichte eingefädelt werden, dafür gehört ihm größtes Lob. Begriffen habe ich zwar bis zuletzt nicht, was nun die Räuberpistole um die Skorpion-Sekte mit den amourösen Verwicklungen unserer eigentlichen Helden und Heldinnen zu tun haben soll, aber, sei’s drum, wenn mir das zerfaserte Ergebnis so sehr unter die Gänsehaut geht.
Waren Episode 1 und Episode 2 im Kontext der Gesamtlänge von LA FLOR prägnante Vignetten, so haben wir es bei Episode 3 mit einem auseinanderquellenden monströsen Hefeteig zu tun, der insgesamt fünf und sechs Stunden verschlingt, ohne dabei natürlich irgendwo anzukommen, sprich, einen genießbaren Kuchen zu ergeben. Es ist, wenn man so will, die Dekonstruktion einer Dekonstruktion: In den 60ern dekonstruiert Godard klassische Gangster-Narrative, um sein eigenes postmodernes Süppchen zu kochen; nun dekonstruiert Llinás Godard, (an dessen PIERROT LE FOU und WEEK END ich während Episode 3 tatsächlich andauernd denken musste), und präsentiert einen ausufernden Spionage-Thriller, der vier Geheimagentinnen in irgendeinem südamerikanischen Land eine Geisel befreien und dann auf einem Flugplatz auf vier weitere Agentinnen warten lässt, die wiederum sie töten und die Geisel an sich nehmen sollen. Dazwischen erzählt Llinás die Hintergrundgeschichten unseres Heldinnenkleeblatts, wobei jeder von ihnen eine eigene Episode zukommt: Die eine, taubstumm, ist Spitzel bei einem hochrangigen Politikvertrauten in London gewesen; die andere erlebte den Untergang der Sowjetunion in ihrer Funktion als bedeutendste Kreml-Spionin; eine weitere hat als Tochter eines Freiheitskämpfers Guerilla-Milizen im Dschungel befehligt; eine letzte war in ihrem früheren Leben kaltblütige Auftragskillerin. Uninteressant ist das sicher alles nicht, nur eben in einer Weise unnötig aufgebläht und verschachtelt, dass es einem erhebliches Sitzfleisch abverlangt, - zumal man ja schon ahnt, dass Llinás genau in dem Moment, als sich die beiden verfeindeten Gruppen endlich gegenüberstehen, die Klappe fallen lässt, und uns genau den Showdown vorenthält, auf den hin die gesamte Episode konstruiert ist. Im Prinzip wirkt Episode 3 wie einer dieser Fortsetzungsromane aus dem 19. Jahrhundert, die nicht lange und verworren genug sein konnten, lediglich mit dem Unterschied, dass diese irgendwann ihre vielen losen Fäden aufgreifen und zu einem Zopf flechten, während Llinás uns letztlich einfach mit einem Schoß voller Bruchstücke sitzenlässt. Irgendwie ist das gerade deshalb schade, weil der Regisseur sich gerade in diesem Segment als wunderbarer Erzähler outet: Gespannt wird nicht nur ein Bogen über mehrere Kontinente und Jahrzehnte und ein reichhaltiges Arsenal verschrobener Charaktere hinweg, sondern schlussendlich auch einer, der es irgendwie fast schon verdient hätte, dass er nicht einfach unvollendet in der Luft hängenbleibt.
In Episode 4 wird es selbstreflexiv – und zwar in einem Maße, dass ich die sich türmenden Meta-Ebenen nur annäherungsweise werde skizzieren können. Regisseur Llinás dreht einen Film, der „Die Spinne“ heißen soll, - und zwar seit sechs Jahren, weshalb seine vier Hauptdarstellerinnen Elisar, Valerie, Laura, Pilar ziemlich genervt sind. Erst recht spitzt sich der Konflikt wegen der Produzentin zu, die Llinás ohne Absprache mit den Schauspielerinnen ins Boot holt, und weil der Regisseur seit Neustem in einem kreativen Tief steckt. Statt den eigentlichen Film voranzutreiben, bereist er seit Wochen die Landstraßen Argentiniens, um einfach nur Bäume zu filmen. Sein Tagebuch, in dem es ebenfalls ausschließlich um Bäume und um sein Verhältnis zu den „Mädchen“ geht, die er gerne auch mal „Hexen“ nennt, gerät in die Hände eines Ermittlers, der herausfinden soll, weshalb ein PKW in einer Baumkrone endete, und im Umkreis der Unfallstelle mehrere offenkundig verrücktgewordene Personen aufgefunden wurden. Was wir wissen, jedoch nicht unser Held: Der PKW gehört Llinás und die umherirrenden Irren, das ist seine Filmcrew. Anhand des Tagebuchs versucht der Ermittler die Ereignisse zu rekonstruieren, und stößt dabei auf sich verdichtende Hinweise, dass tatsächliche Hexen ihre Finger im Spiel haben könnten. Wem das noch nicht alles kompliziert und komplex genug ist, dem sei gesagt: Dieser Plot – oder besser: dieser Bienenstock an Ideen – wird natürlich nicht linear erzählt, sondern springt in den Zeiten hin und her wie ein fliehendes Kaninchen. Und wem das noch immer nicht genug sein sollte, dem sei außerdem gesagt: Eingeschoben ist noch eine längeres Segment, das den historischen Verführer Casanova von seiner schwachen Seite zeigt, Exkurse über Okkultismus und Hexerei, Aufenthalte in einer Psychiatrie, in denen ein Italiener jede Frau verführt, die seinen Weg kreuzt, sowie Auszüge aus dem Film, den Llinás drehen wollte, und der, so scheint es, davon handelt, dass Bäume der Menschheit den Krieg erklären. Das Ganze ist natürlich wunderbar gefilmt, und tatsächlich kurzweilig, zusammenpassen mag indes wenig, wenn auch, wie bei meinem LP-Beispiel, einige wirklich große Momente in dem Tohuwabohu herumwirbeln: Dass Llinás einen Parforce-Ritt durch die Phantastische Literatur hinlegt, um bei Artur Machen zu enden, rechne ich ihm hoch an; die Streitereien am Set, bei denen Llinás sich offenkundig selbst auf die Schippe nimmt, haben mich sehr amüsiert; die letzten Minuten, in denen zu ergreifender klassischer Musik einfach nur die vier Hauptdarstellerinnen dabei beobachtet werden, wie sie durch die Landschaft streifen, sind wirklich großes Kino, das vor allem Llinás Faszination für seine Protagonistinnen unterstreicht. Ein erlösendes Finale allerdings ist auch bei dieser Episode Fehlanzeige.
Episode 5 allerdings ließ mich innerlich gleich mehrmals aufstöhnen. Dass die „Mädchen“ in ihr nicht zu sehen seien, erklärt Llinás uns, noch immer an seiner Raststätte sitzend, im Vorhinein, aber gut, er wollte sie trotzdem unbedingt in seinem Film haben, weil er dachte, sie sei interessant. Nein, sage ich, interessant ist es nun wirklich nicht, sondern entweder mutig oder bösartig, wenn man seinem Publikum nach immerhin bereits elf Stunden ein Segment zumutet, das im Stil eines Stummfilms gedreht ist und daher komplett ohne Ton auskommt, und zudem eigentlich nichts weiter darstellt als eine Art Remake von Jean Renoirs UNE PARTIE DE CAMPAGNE von 1936: Um das zu verdeutlichen, wird zu Beginn noch Maupassants zugrundeliegende Erzählung in Buchform eingeblendet. Aber, mal ehrlich: Ist Renoirs Kurzfilm nicht gut genug, dass man ihn einfach in Frieden ruhe lassen könnte? Einen Mehrwert fügt Llinás‘ Interpretation ihm jedenfalls nicht zu, und weshalb sein Picknick-Ausflug einer gutbürgerlichen Familie und zweier etwas slapstickhaften Gauchos nun unbedingt stumm sein muss, erschließt sich mir angesichts des sprechenden Originals nun auch nicht. Zwischendurch hält es der Regisseur außerdem für eine gute Idee, den Originalton aus Renoirs Film einzuspielen, und uns dazu Bilder einer Flugschau zu zeigen. Ich halte diese Episode indes für eine halbe Stunde verschwendete Lebenszeit.
Episode 6 ist sowohl die visuell extravaganteste wie auch kürzeste. Den versprochenen Zusammenstoß sämtlicher begonnener Geschichten hält sie uns jedoch vor. Was wir stattdessen zu sehen bekommen: Vier Frauen, die scheinbar im 19. Jahrhundert von einem Indianerstamm entführt worden sind, wie sie zurück in die Zivilisation wandern, unterlegt mit sphärischen Elektro-Klängen, erzählt per Zwischentiteln und gedreht offenbar auf Analog-Material, das nachträglich auf eine Leinwand projiziert und von dieser abgefilmt wurde, was den Bildern gleich zweimal eine besondere stoffliche, und ziemlich verwaschene Qualität gibt. Die Frauen schwimmen, sie lagern in der Pampa, sie laufen durch die Wildnis. Es wirkt wie ein Abenteuerfilm auf Sedativa, und es mündet darin, dass die Kamera auf den Kopf kippt, und uns die Leinwand irgendwo im Freien zeigt, auf die die Bilder geworfen worden sind, sowie Llalinás, sein Team und unsere vier Grazien, wie sie am Set umherwueseln. Der Abspann, den ich mir dann tatsächlich nicht mehr gegönnt habe, dürfte allein nochmals eine halbe Stunde beansprucht haben, denn immerhin wurde an dem Film satte zehn Jahre mit unterschiedlichen Teams in unterschiedlichen Ländern gedreht, und wenn da jeder einzelne Catering-Service aufgezählt werden soll, dann dauert das eben auch seine Zeit. Aber nein, ich stürme in die nieselnde Nacht, schnell zum Bahnhof, bevor ich gezwungen bin, auf dem Gleis zu schlafen, denkend/dankend, dass ich diesen Tag der Filmgeschichte geschenkt habe. Ich konnte keine narrative Kohärenz in LA FLOR erkennen, nicht mal eine nachvollziehbare Struktur, schon gar keine übergeordnete Botschaft, aber dieser eine Tag hat nicht stattgefunden außerhalb der Bilder, er hat sich bereitwillig in ihnen verkrümelt, wenn man so will, und ist dadurch untrennbar mit ihnen vernäht, irgendwie.
Kennt jemand von euch „Physical Graffiti“, Led Zeppelins erste Doppel-LP aus dem Jahre 1975? Ist „Down by the Seaside“ nicht eine der schönsten Balladen, die die Band jemals aufgenommen hat? Und „Kashmir“ hat ein derart memorables Riff, dass selbst P. Diddy es Jahrzehnte später noch einmal hervorkramen ließ, um damit Godzillas Zerstörungsorgie in New York zu unterlegen. Das Akustikstück „Bron-Yr-Au“ verneigt sich liebenswert vor der eigenen Folk-Vergangenheit. Aber, sind wir mal ehrlich: So genial „In My Time Of Dying“ auch sein mag, die letzten paar Minuten Gitarrensolo hätte man doch gerne etwas straffen können. Gleiches gilt für den schleppenden Anfang von „In The Light“: Da könnte man doch die ersten ein, zwei Minuten gut und gerne herausnehmen. Überhaupt, wie viele "Oooohs" von Robert Plant erträgt ein Song? Ein Track wie „Boogie With Stu“ wiederum, puh, muss der wirklich auf diesem Album sein? Überhaupt, die gesamte vierte LP-Seite: Die ist doch eigentlich recht verzichtbar, nicht? Aber, dennoch: "Down By The Seaside" mit seinen schimmernden, sonnigen Gitarrenwellen, hach ja.