Poe im (frühen) Kino, Folge 2:
Manche Bilder vergisst man wirklich nie. Roderick Usher hat sich mit der vermeintlichen Tatsache abfinden müssen, dass seine geliebte Gattin Madeleine verstorben ist. Nun muss er den Sarg, der ihre sterblichen Überreste birgt, zur Ruhestätte des Adelsgeschlechtes tragen, dessen letzter männlicher Spross er ist. Bei ihm sind der Arzt, der ihren Tod festgestellt hat, ein Priester sowie der namenlose Erzähler, der wenige Tage zuvor anreiste, um einige Tage bei seinem Jugendfreund zu verbringen, nicht ahnend, dass er in eine wahre Familientragödie verstrickt werden wird. Die Reise wird zunächst mit einem Boot bewerkstelligt, das durch die Gewässer eines trüben Sees gleitet, sodann schleppt man den Sarg quer über eine Wiese in ein nahes Wäldchen, wo sich, einer natürlich gewachsenen Grotte gleich, die Familiengruft versteckt. Erst in deren einzig von Kerzen erhellten Finsternis scheint Roderick zu begreifen, dass der Abschied, den er nun nehmen muss, ein endgültiger sein wird. Er will hinzueilen, verhindern, dass die Nägel mittels finaler Hammerschläge in das Holz des Sarges getrieben werden, und wird von seinem Freund zurückgehalten. Verzweifelt schaut er vom Eingang der Gruft her zu wie man Madeleines Kiste versiegelt und wie man sie zu Grabe lässt. In diesem Moment tut Jean Epstein, der Regisseur des Films, dessen vielleicht eindrucksvollste Szene ich bis hierhin paraphrasiert habe, etwas, das mich damals, vor zehn Jahren vielleicht, als ich LA CHUTE DE LA MAISON USHER zum allerersten Mal sah, regelrecht überwältigt haben muss. Epstein schneidet Bilder in den Beerdigungsvorgang, die zumindest ich nicht erwartet hatte. Neben nächtlichen Waldimpressionen sind das vor allem eine regungslos auf einem bereits leicht unter dem Eindruck eines heraufziehenden Sturms schwankenden Ast sitzende Eule, von der ich mir bis heute nicht sicher bin, ob das eine echte sein soll oder doch nur eine ausgestopfte, und – kopulierende Kröten. Gleich mehrmals zeigt Epstein uns in Großaufnahme die beiden Tiere, die unmissverständlich Sex miteinander haben. Die eine Kröte sitzt auf dem Rücken der anderen, die wiederum sich in äußerst langsamen Bewegungen durchs Unterholz fortbewegt. Ich weiß noch genau, dass mich diese für meine unschuldigen Augen außerordentlich gewagte Montage nicht nur einigermaßen verwirrte, sondern dass ich im gleichen Atemzug zu verstehen gemeint habe, was Epstein mir mit einer solchen, beinahe surrealen Kombination disparater Ele-mente sagen möchte. Dass das Leben ein Kreislauf ist, und dass dort, wo gestorben wird, in nächster Nähe womöglich gerade irgendwer alle Weichen dafür stellt, dass etwas Neues entstehen kann, um früher oder später ebenfalls zu sterben, sprich: das Leben in seiner ganzen Sinnlosigkeit und Schönheit. Auf dem Papier klingen solche Weisheiten banal. Man hat sie schon auf zu vielen Beerdigungen selbst geäußert, sie in zu vielen schlechten Filmen gehört, in zu vielen schlechten Romanen gelesen. Aber in LA CHUTE DE LA MAISON USHER bekommt das, was im normalen Leben ein blöder Spruch wäre, um Menschen, die ihr Liebstes verloren haben, über die Leerstelle hinwegzuhelfen, als gingen sie über Glasscherben, plötzlich eine Qualität, die außer- und oberhalb jeglicher Sprache angesiedelt ist. Da ist Madeleine Usher, die es dahingerafft hat, da ist Roderick Usher, der vor Schmerz fast vergeht, und da sind zwei Kröten, die es miteinander treiben. Mehr hat es wirklich nicht bedurft, meinem früheren, pubertierenden Selbst den allumfassenden Zauber der Filmmontage klarzumachen.
Man möge mir verzeihen, wenn ich die restliche knappe Stunde von LA CHUTE DE LA MAISON USHER nicht so sehr in die Himmel preise wie diese vielleicht fünfminütige Szene, die ich persönlich als das Herzstück des Filmes empfinde – obwohl Jean Epstein freilich ein Werk gelungen ist, das womöglich allein dafür gelobt werden sollte, dass es, wie kein zweites, den Impressionismus auf die Leinwand zieht. Ein steter Nebel scheint von Anfang an über der tristen, grauen, melancholischen, nicht wirklich unheimlichen, sondern eher schwermütigen Welt zu liegen, die Epstein aus der Vorlage Poes extrahiert und in verwaschene, verschwommene, verwunschene Bilder gekleidet hat, denen es nicht so sehr darauf ankommt, eine großartige Geschichte zu erzählen, sondern primär darum geht, Stimmungen zu evozieren. Damit liegt der Film völlig auf einer Linie mit den Intentionen Poes, der für mich – das kann man in meiner Kurzkritik zu THE FALL OF THE HOUSE OF USHER nachlesen, der zweiten, unabhängig von Epstein im Jahre 1928 gedrehten Verfilmung der gleichnamigen short story von 1840 – einer jener Schriftsteller ist, die, obwohl sie zu Lebzeiten nie eine Kinovorstellung haben miterleben können, dennoch bereits ausgiebig Mechanismen bedienen wie sie später im neuentdeckten Spiel- und Experimentalfilm virulent werden sollten.
Im direkten Vergleich mit dem dreizehnminütigen Werk von James Sibley Watson und Melville Webber muss LA CHUTE DE LA MAISON USHER sicherlich als der konventionellere der beiden Filme gelten – was im Falle von Jean Epstein indes nur so viel heißt als dass seine Poe-Adaption das Publikum ein bisschen mehr bei der Hand nimmt, um es immerhin insofern durch die wenig komplexe Story zu führen, dass es sich problemlos darin zurechtfindet. Wo Watson und Webber ihre Zuschauer sozusagen komplett im Stich lassen und im Grunde einzig und allein einer Flut an delirierender Bilder aussetzen, die jemandem, der die zugrundeliegende Erzählung Poes nicht kennt, stellenweise völlig rätselhaft vorkommen müssen, setzt Epstein die eine oder andere Texttafel ein, um zu erklären, was die Bilder allein nicht zeigen können, nimmt sich, was man allein an der Laufzeit von LA CHUTE DE LA MAISON USHER ablesen kann, generell wesentlich mehr Zeit, nicht nur, um seinen Film langsam aufzubauen und ihn schließlich in einem brausendes Finale münden zu lassen, sondern auch, wie in der oben erwähnten Bestattungsszene, um über einen vergleichsweise längeren Zeitraum hinweg Momenten zuzuschauen, die nicht unbedingt für die reine Geschichte zwingend notwendig sind, aber doch der allgemeinen Atmosphäre zugutekommen, die, meine ich, mit ihren elegischen, poetischen Grundtönen erstaunlich dicht bei den Bildern ist, die Poe in uns durch seine Worte hervorruft. Wo Webber und Watson abstrahieren, zurechtstutzen, aufs Wesentliche herunterkochen, sodass ihre Darstellung des Usher-Untergangs in gewisser Weise, sowohl handlungs- wie auch stimmungstechnisch, die absolute Essenz der Poe-Story darstellt, da potenziert Epstein in die Breite, d.h. lässt sich von der Grundstimmung der Geschichte zu einem reichlich grauen Reigen von Bildern inspirieren, die so nicht in der kompakten Vorlage vorkommen, jedoch in keinem Fall störend in ihr aufgefallen wären.
Dem kundigen Leser fällt natürlich auf, dass Epstein es sich nicht versagt hat, in die ursprüngliche Geschichte einzugreifen: vor allem verändert er bestimmte Details bzw. nimmt welche hinzu. Der auffälligste Beweis hierfür wird dem einen oder anderen schon in meinem Eröffnungsabschnitt ins Auge gestochen haben. Bei Epstein ist Madeleine nicht, wie in der Vorlage, die Schwester Rodericks, sondern seine Ehefrau. Da das für den eigentlichen Plot wenig Bedeutung hat, denn großartige Liebesszenen dürfen wir zwischen den beiden Dahinsiechenden sowieso nicht erwarten, erschließt sich mir dieser Eingriff wenig bis gar nicht. Ob Roderick nun seine Zwillingsschwester oder seine Angetraute zu Grabe trägt, meiner Meinung nach wäre die Tragik in beiden Fällen in etwa die gleiche. Offensichtlicher ist schon, weshalb Epstein einen ganzen Subplot aus einer anderen Poe-Geschichte, nämlich THE OVAL PORTRAIT von 1842, in LA CHUTE DE LA MAISON USHER untergebracht hat. Dass Roderick seine Ehefrau wie ein Besessener malt und sie, je mehr ihr Leinwandabbild an Leben gewinnt, desto schwächer und blasser wird, ist zum einen ein morbides Motiv, das dem Film einige seiner besten Momente beschert, und zum anderen hilft es dabei, die Laufzeit über die möglicherweise anvisierte sechzig-Minuten-Marke zu strecken. Gleiches gilt für den Prolog, der wirkt, als sei er direkt aus Bram Stokers DRACULA herausgefallen. Bevor unser namenloser Erzähler im Hause Usher eintrifft, macht er in einer Herberge Rast. Dort braucht er den Namen Usher nur zu erwähnen und gleich schrecken alle Zechbrüder vor ihm zurück, spitzen ängstlich die Ohren und scheinen kurz davor zu stehen, ihm von der Weiterreise abzuraten. Der Kutscher, der ihn letztlich doch wenigstens bis an die Ufer des Sumpfes bringt, der vor den Toren des Schlosses blubbert und wabert, weigert sich ab einem bestimmten Punkt, weiterzufahren, sein Pferd scheut außerdem und unser Erzähler muss notgedrungen die letzte Strecke zu Fuß zurücklegen. Gestört haben mich diese Zusätze überhaupt nicht, im Gegenteil. Gerade die ersten fünf Minuten entfalten, trotz oder gerade weil sie an gewissen Motiven des Horrorgenres förmlich zu kleben scheinen, genau das, was sie entfalten sollen: eine unterschwellig-unangenehme Bedrückung, die sich im Laufe des Films noch bis an die Ränder des Erträglichen steigern wird. Wenn dann noch solche augenzwinkernden Querverweise hinzukommen wie die Aufschrift des Grabmals einer vermeintlichen Usher-Ahnherrin, über die die Kamera einmal wie beiläufig fährt, und die Ligeia geheißen haben soll, d.h. genauso wie die weibliche Titelfigur in der gleichnamigen Poe-Erzählung von 1838, dann unterstreicht das, dass Epstein die Werke des amerikanischen Dichters eben nicht nur als leicht auszubeutenden Stofflieferant verwendet wissen will, sondern offenbar tatsächlich einigermaßen tief in dessen literarischen Kosmos abgetaucht sein muss. LA CHUTE DE LA MAISON USHER ist demnach für mich nicht einfach nur eine Poe-Verfilmung unter vielen. Vielmehr wirkt der Film wie der ambitionierte und durchaus erfolgreiche Versuch, nicht nur eine einzelne Erzählung Poes in Bildern zu gießen, sondern gleich dessen gesamtem Schauer-Oeuvre ein filmisches Denkmal zu setzen.
Ebenfalls in meiner Kritik zu THE FALL OF THE HOUSE OF USHER habe ich Poes im zeitgenössischen Vergleich außerordentlich modernen Pendeln zwischen einer äußeren und inneren Wirklichkeit erwähnt. Äußere Wirklichkeit, das wären im Falle vom Usher-Fall die Vorgänge, die unser namenlose Erzähler uns als Fakten berichtet: seine Ankunft im Schloss, Rodericks zerrüttelter Geisteszustand, die kränkliche Erscheinung Madeleines, die langen Beschreibungen, die die karge Landschaft und das öde Haus ihm quasi in die Feder drängen. Innere Wirklichkeit, damit meine ich ein Stilmittel, das Poe versiert wie kaum ein anderer und vehementer als kaum ein anderer verwendet: Momente, in denen eine Figur, am besten aus der Ich-Perspektive, das Äußere von ihrem eigenen Inneren nicht mehr unterscheiden kann, sich das eine über das andere wirft, um es zu verschlingen, zu verzerren. In THE FALL OF THE HOUSE OF USHER ist es ausnahmsweise nicht der Ich-Erzähler selbst, in dessen Kopf eine solche Realitätsverzerrung stattfindet. Bei Roderick handelt es sich um den Leidtragenden, dessen zunehmenden Wahnsinn wir zwar von außen, nämlich durch die Augen des namenlosen Erzählers, betrachten, den man aber dennoch, so, als sei man teilweise in seinen vor Fieber zitternden Körper geraten, problemlos mitfühlen kann. Ein solcher Moment ist für einen Künstler, der mit Bildern operiert, natürlich ein gefundenes Fressen, und wie sich Watson und Webber daran die Bäuche vollgeschlagen haben, habe ich bereits beschrieben. Jean Epstein verfährt ähnlich und doch anders – man könnte sagen: realistischer. Sein Film bricht nicht unter der Last des Deliriums zusammen, er bleibt eher in der Außenperspektive und versinnbildlicht dort das innere Chaos und das Wüten, das Roderick Usher nahezu um den Verstand und sein Schlösschen um sein sicheres Fundament bringt. In LA CHUTE DE LA MAISON USHER knallt es in den letzten Minuten ordentlich. Epstein bietet auf, was er kann, um mentalen und architektonischen Untergang mit Pauken und Trompeten zu begehen. Die Miniaturreplik des Usher-Anwesens mag für heutige Augen ein bisschen lächerlich wirken, ansonsten sind die Bilder einer Apokalypse im Kleinen schlicht vorzüglich. Rüstungen werden von einem wütenden Wind umgestoßen, Bücher und lose Blätter flattern wie aufgescheuchte Vögel durch die Luft, Bäume biegen sich zur Erde, als würden sie beten, Wasserfontänen spritzen in die Höhen.
Vollkommen anders inszeniert als in THE FALL OF THE HOUSE OF USHER ist dieses Inferno und dennoch kaum weniger wirksam – wäre da nicht das Happy End, das ich Jean Epstein einfach nicht verzeihen kann und von dem ich inständig annehme, dass es auf die Rechnung irgendeines Filmstudiobosses oder Filmproduzenten geschrieben werden muss. Man darf nicht vergessen: im Gegensatz zu Webber und Watson hat Epstein in den 20ern durchaus im Herzen der Filmindustrie gearbeitet. Filme wie MAUPRAT oder LA CHUTE DE LA MAISON USHER sind regulär in Kinos gelaufen, gedacht nicht etwa nur für einen erlauchten Kreis von Avantgardisten, sondern ein heterogenes, durchschnittliches Massenpublikum. Gerade wenn man das im Hinterkopf behält, ist LA CHUTE DE LA MAISON USHER ein in heutigen Verhältnissen schier undenkbares Experiment, dessen glücklicher Ausgang, der unseren Erzähler, Roderick und Madeleine dem allgemeinen Zusammenbrechen entrinnen und den Abspann relativ unbeschadet erleben lässt, den einzigen Wermutstropfen bildet, der es einem unter Umständen vergällen könnte. Epsteins wird in meinem persönlichen, imaginären Kanon wohl weiterhin vor allem mit seinen späten, nunmehr außerhalb jeglicher Industrie entstandenen Kurzfilme über Meer und Küste präsent sein, LA CHUTE DE LA MAISON USHER ist allerdings, gerade für Poe-Leser und Kröten-Fans, ein begeisterungswürdiges Lehrstück darin, was Kino alles sein kann.