Da war der Bux tatsächlich flinker...
Abt. Salvatores kleine Nordkorea-Reise
„Korea war von 1910 bis 1945 von Japan besetzt. Nachdem die Japaner den Krieg verloren hatten, teilten die Siegermächte das koreanische Volk in zwei unversöhnliche Lager: Den kommunistischen Norden und den kapitalistischen Süden. Bis heute stehen sich beide Länder feindlich gegenüber. Offiziell ist es den Menschen weder im Norden noch im Süden erlaubt, die andere Seite zu betreten oder sich mit den Menschen der anderen Seite zu treffen. Währenddessen dürfen Menschen aus aller Herren Länder nach Nordkorea reisen, sogar US-Amerikaner. Der gebürtigen südkoreanischen Regisseurin gelang es erst mit einem deutschen Pass, ungehindert nach Nordkorea einzureisen.“ Bei dieser Regisseurs des 2016er Dokumentarfilms MY BROTHERS AND SISTERS FROM THE NORTH handelt es sich um Sung-Hyung Cho, die einem breiten Publikum vor allem mit ihrem Debutfilm, der Wacken-Dokumentation FULL METAL VILLAGE, bekannt wurde, und die sich in vorliegendem Werk anschickt, einen Blick in den nördlichen Teil Koreas zu werfen, um zu erfahren, wie die Menschen dort jenseits westlicher oder nordkoreanischer Propaganda tatsächlich ticken, wovon sie träumen, wie ihr Alltag aussieht.
Es ist reizvoll, MY BROTHERS AND SISTERS FROM THE NORTH in zeitlicher Nähe zu dem ein Jahr zuvor veröffentlichten Film IM STRAHL DER SONNE von Vitali Manski zu betrachten. Wir erinnern uns: Manskis Team wurde ein fixes Drehbuch vorgelegt, von dem kein Jota abgewichen werden durfte, während man mehrere Monate lang das (vermeintlich authentische) Leben eines achtjährigen nordkoreanischen Mädchens mit der Kamera begleiteten; da der Film aber permanent auf seine eigene Inszeniertheit und Faktenverzerrung hinweist, also quasi die Art und Weise, wie das Regime den ausländischen Filmemachern eine glattgeschleckte Lebensrealität zu verkaufen versucht, zu seinem eigentlichen Sujet werden ließ, entsteht so etwas wie eine Meta-Dokumentation: Eine Dokumentation, die sich selbst fortwährend dekonstruiert, um das eigene Lügengeflecht zu entblößen. Demgegenüber belässt es Sung-Hyung Cho bei einigen kurzen Sätzen gleich zu Beginn, in denen sie auf ihre konkreten Drehbedingungen eingeht. Natürlich, sagt ihre Stimme aus dem Off, seien ihre Interviewpartner, die Orte, die sie besuchen durfte, die Themen, die anzuschneiden ihr möglich war, vor Drehbeginn sorgsam von der nordkoreanischen Regierung ausgewählt worden; davon, dass sie frei mit ihrem Kamerateam durch die Volksrepublik hätte streifen und wahllose Passanten ins Gespräch hätte verwickeln können, kann keine Rede sein. Danach aber rekurriert die Regisseurin zu keinem Zeitpunkt mehr auf diese strikten Vorgaben: Wir erfahren nichts davon, wie viele Aufpasser ihr während des Drehs über die Schultern linsten, ob oder inwieweit sich die einzelnen Interviewszenen an einem Skript entlanghangeln mussten, nicht mal, was ihre ganz persönlichen Eindrücke von Nordkorea gewesen sind. Im Gegensatz zu Manskis Film, der über einen permanent kontextualisierenden und problematisierenden Off-Kommentar verfügt, tritt Sung-Hyung Cho als Subjekt völlig hinter ihren Bildern zurück, gibt den unterschiedlichen Menschen, denen sie im Lauf ihrer Reise begegnet, uneingeschränkten Raum, stellt ihre Fragen leise, respektvoll, beinahe schüchtern – wodurch es möglich ist, MY BROTHERS AND SISTERS FROM THE NORTH sowohl als einen Film abzukanzeln, der aktiv an der nordkoreanischen Propagandamaschinerie mitwirkt, da er seinen eigenen Entstehungsprozess kein bisschen selbstreflexiv beleuchtet, oder aber als einen Film zu loben, der völlig unvoreingenommen, nüchtern, fernab der geringsten politisch eingefärbten Kritik einfach nur das wiedergibt, was ihm an Impressionen in Kim Jong-uns Märchenreich über den Weg läuft, und eine Beurteilung des Gezeigten an das selbstständig denkende Publikum delegiert.
Über den Weg laufen Sung-Hyung Cho einige interessante Persönlichkeiten: Da ist der Mitarbeiter des größten Badeparks in Pjöngjang, der uns stolz durch die weiträumige Anlage führt, vom Design der einzelnen Schwimmbäder, Rutschen, Liegewiesen schwärmt, die Kim Jong-un höchstselbst entworfen haben soll, und auf Sung-Hyung Chos Frage, weshalb denn kein einziger weibliche Gast einen Bikini tragen würde, verkündet, dass solche Kleidungsstücke in Nordkorea nicht erlaubt seien, weil man mit allen Kräften verhindern müsse, dass imperialistisch konnotierte Modeartikel den gesunden Volksgeist korrumpierten; da ist eine Familie, die in einem Bauernkollektiv lebt, wo man seine Energie aus Methangas, sprich, menschlichen und animalischen Exkrementen gewinnt, noch immer feuchte Augen bekommt, wenn ihre Mitglieder sich ins Gedächtnis rufen, dass Kim Jong-il exakt diese Farm in den 70ern besucht und zum Modell für zukünftige Kolchosen erklärt habe, oder wenn man von der Praxis des „patriotischen Reises“ erzählt: Was man zu viel an Reis erwirtschaftet hat, spendet man bereitwillig dem Staat, denn nur ein Gefäß, das nach außen hin wundervoll schimmere, könne auch einen prächtigen Inhalt haben; da ist ein Künstler, der ganz unter dem Zeichen des Sozialen Realismus stehende Gemälde malt, und unserer Regisseurin weismacht, er sei mit seinen etwas kitschigen, zutiefst biederen Darstellungen des Proletariats in Nordkorea zu Ruhm und Reichtum gelangt, wobei er relativ offen mit Sung-Hyung Cho zu flirten versucht; da ist die junge Frau, die in einer Textilfabrik arbeitet, und sowohl davon träumt, dass eines Tages Menschen mit Kleidungsstücken, die sie selbst entworfen hat, durch ihre Heimatstadt Wonsan laufen, wie auch davon, eines Tages aufgrund ihres Arbeitseifers von ihren Arbeitgebern die Erlaubnis einer Reise nach Pjöngjang zu erhalten, denn zu gerne würde sie einmal die Hauptstadt sehen. Der Rektor eines Sportinternats mit Schwerpunkt Fußball berichtet voller Ehrfurcht von dem Tag, als Kim Jong-un die Schule eingeweiht habe; eine Lehrerin begeistert ihre Schüler mit interaktivem Englischunterricht; eine Näherin teilt mit, dass viele Textilien nach China exportiert werden würden, wo man sie, um das generelle Handelsembarko Nordkoreas zu umgehen, mit dem Hinweis „Made in China“ versehe.
Auch wenn Sung-Hyung Cho den Eindruck vermittelt, ihre Gesprächspartner einfach nur reden zu lassen, ohne die Interviews in eine bestimmte Richtung zu steuern, erfahren wir doch zwischen den Zeilen und manchmal auch ganz offen verblüffende Einsichten in den Alltag Nordkoreas, die das dortige Leben durchaus sowohl in positiver wie negativer Weise demystifizeren. Omnipräsent sind die Plakate an Gebäudefassaden oder in Fabriken, die die Menschen zu mehr Fleiß aufrufen, ihnen drohen, ihnen die Schönheit vor Augen führen, unter der Kim-Dynastie leben zu dürfen; omnipräsent ist ebenso ein soziales Rating-System, nach dem beispielweise die Arbeiterinnen der Textilfabrik nach jedem Arbeitstag entweder ausgezeichnet oder getadelt werden, wobei die Mitarbeiter, die sich besonders hervorgetan haben, sei es nun arbeitstechnisch oder zwischenmenschlich, vor der versammelten Belegschaft wie Heldinnen gelobt werden; omnipräsent ist nicht zuletzt der bizarre Personenkult, den man um die drei Kims betreibt, denn obwohl Sung-Hyung Cho größtenteils darauf verzichtet, uns eine der gigantischen Statuen der nordkoreanischen Führer zu zeigen, uns aber immerhin in die eine Mischung aus touristischer Attraktion und religiöser Reliquie darstellende Hütte führt, in der Kim Jong-il geboren worden sein soll, sind die drei Landesväter allgegenwärtig wie Götter oder übermächtige Phantome, die ihre Schäflein jederzeit strafen oder in den siebten Himmel heben können. Besonders aufschlussreich sind nicht zuletzt die Gespräche mit einer älteren Frau, deren Vater im Kampf gegen die Japaner gefallen ist, und die sich eine Wiedervereinigung von Süd- und Nordkorea herbeisehnt, selbstverständlich unter dem Diktat, dass der Süden sich dem Norden anschließen soll, und nicht umgekehrt. Wovon MY BROTHERS AND SISTERS FROM THE NORTH natürlich nichts erzählt, sind leere Supermarktregale, Umerziehungslager, ein übermächtiger Leistungsdruck, Gräuelpropaganda gegen den Westen, und, einmal mehr, die Frage, ob die Menschen, die Sung-Hyung Cho trifft, all ihre verklärenden Aussagen nicht doch hauptsächlich nach einem vorgefertigten Skript herunterbeten. Was der Film indes in angenehm zurückhaltender Weise tut, das ist, eine ganze Reihe unterschiedlicher Einwohner Nordkoreas mit dem gebührenden Respekt zunächst einmal in ihrem Menschsein zu portraitieren.